Der scharfe Wind trieb eisigen Regen gegen die dicken Mauern der alten Burg in den Highlands. Rafiq Miqati schüttelte sich, verfluchte diese feuchte Kälte, die er aus seiner Heimat im Nahen Osten nicht kannte. Er wartete auf den Anruf von Illona Nagy, der blonden Terroristin aus Ungarn. Er hasste und fürchtete die gefährliche Frau gleichermaßen, hatte bereits vor längerer Zeit ihren Tod geschworen.
»Ja, ich bin bereit«, sicherte er daher einige Minuten später der Anruferin eilig zu, auch wenn seine Augen vor Hass glühten.
Er hatte weisungsgemäß erst nach dem fünften Läuten den Anruf angenommen, wobei er vorher ein besonderes Schutzsystem aktiviert hatte. Alle Kommunikationswege in dieser alten Burg waren auf dem modernsten Stand der Technik und bewiesen einmal mehr, über welche Mittel diese geheimnisvolle Org verfügte. Bis zu seinem Auftrag in Wien hatte Rafiq wenig über seine Aufgaben nachgedacht. Ihm reichte das Wissen, dass er für seine Taten ins Paradies einziehen würde. Seitdem hatte er lernen müssen, dass die weißen Teufel jedem das nackte Grauen einjagen konnten. Besonders die mächtige Org beschäftigte Rafiq.
»Ja, die Virenstämme sind verteilt und wir können die Epidemie jederzeit auslösen«, versicherte er eilfertig.
Er lauschte aufmerksam Illona Nagys Anweisungen, dann beendete er das Gespräch. Genauer gesagt, legte die blonde Frau im fernen Berlin grußlos auf. Der Mann aus dem Libanon ließ eine Reihe böser Verwünschungen gegen Illona vom Stapel. Im gleichen Moment stieß eine besonders heftige Windböe einen Fensterflügel auf. Rafiq erbleichte und fuhr zu Tode erschrocken herum. Er benötigte eine Weile, bis er sich von diesem bösen Omen erholt hatte. Jetzt konnte er nur noch warten, bis Illona Nagy das vereinbarte Signal zur Freisetzung der genmanipulierten Pestviren geben würde. Der Gedanke an die sich daran anschließende Panik der Ungläubigen in England versetzte Rafiq dann in Hochstimmung.
Kapitel 1
Chester McKay fühlte sich reichlich unwohl, als er von einer Mitarbeiterin der deutschen Bundeskanzlerin zu der mächtigsten Frau Deutschlands geführt wurde. Deren Einladung zu einem Arbeitsessen hatte der Agent der Counter Terror Operations vor drei Tagen erhalten. Dabei hatte Chester die Frau bisher nur einmal persönlich getroffen und sie nicht einmal als Bundeskanzlerin erkannt. Erinnerungen an den ehemaligen deutschen Innenminister stiegen in ihm auf. Der Mann hatte sich als williges Werkzeug der ominösen Org entpuppt, die seit Monaten eine Spur der Verwüstung quer durch Europa zog. Nicht nur die CTO jagte die Terroristen der Org, allen voran Illona Nagy. Die Europäer unter Führung der TREVI (Terrorisme, Radicalisme, Extremisme et Violence Internationale), einer Sondereinheit der Europol, hatten die Amerikaner effektiv unterstützt.
»Bitte, Sir. Die Bundeskanzlerin erwartet Sie bereits«, erklärte die junge Assistentin, gewährte dem braunhaarigen Mann mit den grauen Augen ein neugieriges Lächeln.
Chester dankte ihr mit einem Nicken, atmete durch und betrat den gemütlich eingerichteten Raum. Weiche Teppiche bedeckten das teure Holzparkett, in einem Kamin flackerte ein Feuer und in der Mitte des Raumes stand ein Esstisch. Das große Fenster zu seiner Linken zeigte das nächtliche Panorama von Berlin, der Hauptstadt des geeinten Deutschlands. Die zierliche blonde Frau ging auf Chester zu und umfasste die dargebotene Rechte des Amerikaners mit ihren schlanken Händen. Gerade hatte sich Chester ein wenig entspannt, als er Oberrat Wilhelm Rost vom Bundeskriminalamt entdeckt hatte. Seine Befürchtung, mit der deutschen Bundeskanzlerin allein speisen zu müssen, hatte sich damit als unnötig herausgestellt.
»Hallo, Chester. Ich darf Sie doch so nennen?«, freute die jugendlich wirkende Frau sich sichtlich über sein Erscheinen.
Sofort erinnerte Chester sich an die spöttischen Bemerkungen seiner Kollegen, wobei Jane nicht nur spöttisch reagiert hatte. Schnell schob er die störenden Gedanken zur Seite, erwiderte das warme Lächeln der mächtigen Frau.
»Natürlich, Frau Bundeskanzlerin. Vielen Dank für die Einladung«, beeilte Chester sich zu versichern, übersah geflissentlich das amüsierte Lächeln auf Rosts rundlichem Gesicht.
»Ursula, solange wir unter uns sind«, bat ihn die Frau und Chester nickte nur.
Dann konnte er endlich den Mann vom Bundeskriminalamt begrüßen, mit dem ihn bereits eine Freundschaft verband. Dabei kannten die beiden Terroristenjäger sich erst seit kurzer Zeit, als Wilhelm Rost die Funktion des getöteten Polizeirates Grüner eingenommen hatte. Die Bilder der Explosion in Potsdam, die dem Deutschen den Tod gebracht hatten, schossen Chester unwillkürlich wieder durch den Kopf. Ein weiterer Toter, der Illona Nagy anzulasten war.
»Will, schön dich zu sehen«, zeigte Chester sich erfreut über das unvermutete Zusammentreffen mit Rost.
»Wie gesagt, Chester, es wird ein Arbeitsessen und das Thema dürfte uns allen klar sein«, erinnerte die Bundeskanzlerin an ihre Anwesenheit.
Die beiden Männer warteten höflich ab, bis die blonde Frau sich gesetzt hatte. Erst dann nahmen sie links und rechts am Tisch Platz, worauf drei Kellner wie durch Zauberhand die Vorspeisen auftrugen.
»Ja, Ma’am, ich meine, Ursula. Die Org ist immer noch im Besitz der manipulierten Pestviren und Illona Nagy auf freiem Fuß«, fasste Chester bitter zusammen.
Seit Monaten jagte er mit seinen Kollegen von der CTO und der Unterstützung verschiedener Dienste diese extrem gefährliche Frau. Keiner wusste, wie sie den Weg zur Org gefunden hatte. Diese unheilige Allianz hatte die Lage enorm verschärft und zu einer Bedrohung von ganz Europa geführt. Es war der Org gelungen, die ansonsten untereinander oft zerstrittenen Terrorgruppen in ganz Europa zum gemeinsamen Handeln zu führen. Damit verhinderte die Org unter anderem, dass die Dienste sich ausschließlich um die Zerschlagung der Org kümmern konnten. Hier blieb die CTO federführend und das auch nur, weil Madame Sorbet, die Leiterin der TREVI, sich dafür stark gemacht hatte.
»Bringen Sie mich bitte auf den neuesten Stand, Chester. Anschließend wird Will uns über die Bedrohungslage in Deutschland berichten«, forderte die Bundeskanzlerin ihn auf.
*
Chester hatte seinen Vortrag sorgfältig ausgearbeitet und ging zurück bis zum ersten Auftauchen der libanesischen Terroristen in Rota. Damals hatte Chester seinen Urlaub abbrechen müssen, um Jane Blair in Spanien zu Hilfe zu eilen. Seine Kollegin hatte einen Spion gejagt und war urplötzlich verschwunden. Chester hatte sich als Marinepilot getarnt auf ihre Spur gesetzt, war dabei einem Agenten des Yamam in die Quere gekommen. Seit diesen Tagen jagte die CTO mit wechselnden Partnern zwei extrem gefährliche Terroristen aus dem Libanon. Chester hatte Mühe, sich an alle Orte zu erinnern, an die es den ihn seitdem geführt hatte. Städtenamen wie Rota, Haifa, Beirut, Wien, Gjilan, Potsdam und Berlin hatte er vorher nur zum Teil gekannt. Während seiner Zeit als Army Ranger und später als Pilot eines Apache-Kampfhubschraubers hatte er es mit Einsätzen in Afghanistan zu tun gehabt. Bei seiner Vorbereitung auf dieses Gespräch mit der deutschen Bundeskanzlerin war Chester nochmals die Szene aus Riverton hochgekommen. Drogendealer standen damals kurz vor der Geiselnahme von fast hundert Grundschülern, als der Sheriff aus Riverton verzweifelt um Unterstützung bat. Chesters Kopilotin hatte ihre Tochter an der Elementary School von Riverton und wurde so unvermittelt mit dieser Bedrohung konfrontiert. Chester suchte in der Einsatzleitstelle der Army um die Erlaubnis nach, dem Hilferuf des Sheriffs Folge leisten zu dürfen. Mit ihrem schwer bewaffneten Kampfhubschrauber waren 1st Lieutenant Chester McKay und 2nd Lieutenant Lindsey Wagner die einzig verfügbare Unterstützung in der weiteren Umgebung von Riverton. Alle späteren Abenteuer folgten aus der Entscheidung, die Chester damals getroffen hatte.
»Unser konzentrierter Zugriff hat den Tod des gefährlichen Terroristen Raghib al-Musawi zur Folge gehabt. Damit haben wir den Plänen der Terroristen einen herben Schlag versetzt, da zeitgleich in vielen Städten Europas Mitläufer festgenommen und ganze Zellen ausgehoben werden konnten«, war Chester nahezu am Ende des Vortrages.
Er schnitt sich ein Stück des hervorragenden Hüftsteaks ab und kaute es genussvoll. Im Laufe der Zeit hatte der Agent der CTO gelernt, die grausamen Bilder aus seinen Einsätzen zeitwillig zu verdrängen und Momente des Friedens zuzulassen.
»Bleibt die Frage nach diesem anderen Terroristen und vor allem der Org. Was wissen Sie über den derzeitigen Aufenthaltsort von Miqati oder Nagy? Was plant die Org?«, wollte die Bundeskanzlerin aber auch den Rest über die laufenden Ermittlungen gegen die Terroristen wissen.
»Es gibt einige Hinweise darauf, dass Rafiq Miqati sich in England aufhält. Das MI5 geht diesen Informationen auf den Grund. Wo Ilona Nagy sich aufhält? Vermutlich hier in Berlin oder in der Nähe. Sie scheint der Kopf der laufenden Operationen der Org zu sein«, beantwortete Chester die Fragen nach bestem Vermögen.
Er warf Will einen Blick zu, der diesen richtig deutete.
»Wir verfolgen eine Reihe von Spuren, die uns zu Illona Nagy führen sollen. Das Netzwerk der Org hat Löcher erhalten durch die letzten Schläge von unserer Seite. Wir haben unsere besten Leute darauf angesetzt und Madame Sorbet unterstützt uns mit allen Mitteln der TREVI«, ergänzte Wilhelm Rost, der Mann vom Bundeskriminalamt.
Die Kanzlerin hielt den schmalen Kopf mit den blonden Haaren über ihren Teller gesenkt, gewährte den Männern einen Blick auf ihren zierlichen Nacken.
»Gibt es irgendetwas, was Ihre Arbeit erleichtern könnte? Kann ich Ihnen mehr Unterstützung verschaffen?«, hob die hübsche Blondine den Kopf und sah zwischen den beiden Männern hin und her.
Chester hatte eine Idee, wusste sie aber nicht neutral zu formulieren. Die Bundeskanzlerin erkannte seine Nöte.
»Sprechen Sie bitte ganz offen, Chester. Raus mit der Sprache! Was ist es?«, forderte Ursula den Amerikaner auf.
»Äh, es gäbe da etwas. Also, ähm, es geht um die Org und ihr Netzwerk hier in Deutschland«, druckste Chester herum.
»Unser Freund von der CTO möchte, dass wir die Landsmannschaften unter ständiger Beobachtung halten und dadurch zu den Hintermännern der Org geführt werden«, sprach Will Chesters Wunsch aus.
Der zuckte leicht zusammen, angesichts der unverblümten Ansprache seines Freundes. Chester hatte sich in dieser Hinsicht ausgiebig mit Colonel Berkovicz in Fort Bragg besprochen. Der Einsatzleiter der CTO hatte alle Argumente sorgfältig abgewogen und dann Chester zu sehr vorsichtiger Annäherung an dieses heikle Thema geraten. Die Bundeskanzlerin musste sehr viel Rücksicht auf die Befindlichkeiten der verschiedenen Landsmannschaften nehmen. Diese Gruppen stellten im Grunde die Nachkommen einst aus östlichen Gebieten vertriebener Deutscher dar. Als Chester sich mit diesen Landsmannschaften und ihren historischen Hintergründen beschäftigt hatte, hatte ihm bald der Kopf geschwirrt. Zu kompliziert erschien ihm die europäische Geschichte, bei der es ein ständiges Hin und Her zwischen Opfern und Tätern zu geben schien. Schon im Kosovo hatte ihm diese Zwiespältigkeit zu schaffen gemacht.
»Wenn es wesentlich zur Zerschlagung der Org führt, werden wir auch vor solchen unpopulären Schritten nicht zurückweichen. Kümmern Sie sich gleich darum, Will!«, kam es entschlossen von der Bundeskanzlerin.
Der Oberrat des BKA nickte zustimmend und Chester staunte über die Leichtigkeit dieser Angelegenheit. Auf der anderen Seite hatte die Org in den vergangenen Wochen mehr als eindrucksvoll ihre Gefährlichkeit unter Beweis gestellt. Einst vom deutschen Wehrmachtsgeneral Gehlen als »Fremde Heere Ost« gebildet, war der Geheimdienst der Armee zur »Organisation Gehlen« geworden. Die Alliierten hatten die Strukturen in Osteuropa genutzt, um gegen die ehemaligen Verbündeten zu spionieren. Ein eigenes Netzwerk hatten sie nicht gehabt, daher hatten sie sie auf die »Organisation Gehlen« zurückgegriffen. Später hatte sich daraus der deutsche Auslandsnachrichtendienst BND (Bundesnachrichtendienst) entwickelt, der anfangs weiterhin auf die Strukturen hinter dem Eisernen Vorhang zugegriffen hatte. Doch dann hatte Gehlen seinen Einfluss verloren und in den 60er-Jahren war die »Organisation Gehlen« scheinbar in Vergessenheit geraten. Während sie für die westlichen Länder und deren Dienste in der Versenkung verschwunden war, hatte die bald nur noch Org genannte Organisation ihre Machtposition in den osteuropäischen Ländern permanent ausgebaut. Nach dem Fall der Mauer und dem endgültigen Zusammenbruch des Ostblocks hatte die mittlerweile extrem mächtige und sehr gefährliche Org ihre Fühler auch in die westliche Hemisphäre ausgestreckt. Dadurch war sie in die Ermittlungen der CTO geraten und seitdem bekämpfte Chester McKay diese Organisation. Bisher allerdings mit sehr begrenztem Erfolg. Eine Beobachtung des speziellen Netzwerkes der Org in Hinsicht auf die Landsmannschaften konnte ihnen beträchtlich weiterhelfen.
»Vielen Dank, Ursula. Damit sollten wir bald über mehr Informationen über die Pläne der Org verfügen«, dankte Chester der Bundeskanzlerin, die ihm aufmunternd zulächelte.
*
So schnell, wie Chester es sich erhofft hatte, ging es aber dann doch nicht. Die Dienste sammelten in ganz Europa fleißig Informationen, doch es gab keine konkreten Hinweise auf Miqati oder Nagy.
»Tja, Will. Wieder nur eine Falschmeldung«, knurrte Chester, als er am späten Freitagabend die Überprüfung einer angeblichen Sichtmeldung zu Ilona Nagy negativ abschloss.
Der Deutsche hörte den Frust aus der Stimme des Agents der CTO heraus und schlug daher einen Streifzug durch Berlins Kneipenszene vor.
»Damit du endlich mal von deinem Krautsalatdenken wegkommst«, grinste Will breit.
Tatsächlich hatte Chester bisher sehr wenig von Deutschland gesehen, besonders vom normalen Alltag dieser Menschen hatte er nichts mitbekommen. Er zögerte daher nicht lange, sondern überließ sich der Führung des Kollegen vom BKA. Will Rost schien ein echter Kneipengänger zu sein, so wie er in den meisten Lokalen begrüßt wurde. Er kannte die verrücktesten Kneipen und es war bereits weit nach Mitternacht, als die beiden Männer in einer Eckkneipe vor ihrem Bier saßen. Das wievielte Bier dies war, konnte der leicht benebelte Chester nicht mehr sagen. Beide Männer hatten urplötzlich einen Bärenhunger verspürt und so hatte Will sie in diese verräucherte Kneipe gelotst.
»Da gibt es die besten Buletten von ganz Berlin«, hatte der rundliche Mann geschwärmt.
Als er Chesters fragenden Gesichtsausdruck bemerkte, lachte er schallend und erklärte diese deutsche Spezialität. Für den Amerikaner klang es verdächtig nach Burger ohne alles.
Sie kletterten auf dem Kurfürstendamm gerade aus dem Taxi, dass sie hergebracht hatte, als Chester zusammenzuckte. Schlagartig war seine leichte Trunkenheit verschwunden und er packte Will hart an dessen rundlicher Schulter. Der Mann vom BKA hatte dem Taxifahrer einen Schein hingereicht und fuhr bei der harten Berührung erbost zum Amerikaner herum.
»He, Chester! Was ist denn in dich gefahren?«, brummte er ungehalten und rieb sich die schmerzende Schulter.
»Illona! Dort drüben«, zischte Chester und nickte in die Richtung eines Hoteleinganges.
Will schaute über die Bleibtreustraße zum hell erleuchteten Eingangsportal des Hotels »Kurfürst« und wiegte zweifelnd den Kopf.
»Also, ich habe nur eine blonde Frau gesehen«, brummte er unsicher.
»Vertrau mir, Will. Die Nagy erkenne ich mittlerweile im Dunkeln mit verbundenen Augen«, blieb Chester fest bei seiner Überzeugung.
Der Hunger war längst vergessen. Will organisierte eine schnelle Überprüfung der Gäste des Hotels, wobei die nichts mitbekommen durften. Zwei Beamte des Staatsschutzes erschienen keine halbe Stunde nach Wills Anruf. Sie hielten den silbernen BMW ein ganzes Stück vom Hotel entfernt an. Chester und Will stiegen in den Fond des Wagens und erteilten den beiden Männern klare Anweisungen. Es waren erfahrene Profis.
»Was, wenn es wirklich Illona ist?«, wandte Will sich an Chester, der gedankenverloren den nächtlichen Bummlern in der Bleibtreustraße zusah.
»Wenn sie hier in Berlin ist, hat es mit Sicherheit etwas mit den geplanten Anschlägen zu tun«, sprach der seine Überlegungen aus.
Will sog scharf die Luft ein, dachte sicherlich an die Bedeutung für seine Hauptstadt. In diesem Augenblick eilten die beiden Beamten des Staatschutzes schon wieder auf den Wagen zu.
»He, das ging aber fix!«, staunte Will.
Chester kam es zu schnell vor und er hatte bereits einen Protest auf der Zunge, als der jüngere Beamte ihm eine CD hinstreckte.
»Was soll das sein?«, fragte Chester den Mann, der fließend Englisch sprach, was eine problemlose Verständigung möglich machte.
»Wir haben dem Sicherheitschef des »Kurfürst« etwas über einen geheimen Staatsbesuch erzählt und dass wir daher verschiedene Hotels auf deren Sicherheitssysteme überprüfen. Tja, und dann zeigte der Mann uns das wirklich hervorragende System des Hotels, und dazu gehört eine Reihe von Überwachungskameras«, berichtete der junge Beamte zufrieden vor sich hin schmunzelnd.
Chester wurde wieder einmal bewusst, wie unglaublich effektiv die Deutschen sein konnten.
»Auf diesem Band sind die Gäste, die in den letzten Minuten das Hotel aufgesucht haben?«, fragte er zuversichtlich.
»Das sind alle Gäste, die in den vergangenen 24 Stunden im Foyer des Hotels gewesen sind«, verbesserte der Beamte den Amerikaner.
Gespannt starrte Chester auf die silberne Scheibe in seiner Hand und hatte es auf einmal extrem eilig.
»Wir müssen sofort in die Einsatzzentrale und die Aufnahmen auswerten«, sagte er zu Will.
»Sie können auch hier im Wagen einen Blick auf die Aufnahmen werfen, Sir«, bot der ältere Beamte an.
Wortlos reichte Chester ihm die CD nach vorne und der Mann drückte einige Knöpfe am Armaturenbrett. In der Mittelkonsole wurde der Bildschirm eines Computers erkennbar und dann flackerten die Bilder des Sicherheitssystems über den Monitor. Anhand der zeitlichen Angaben von Will und Chester fand der ältere Beamte des Staatsschutzes den richtigen Punkt der Kameraaufzeichnungen. Fassungslos verfolgten die beiden Freunde den Auftritt der ungarischen Frau, die sich locker zum Empfang begab. Dort wurden ihr ein Umschlag und die Codekarte für ihr Zimmer ausgehändigt, dann verschwand sie in einem der Fahrstühle.
»Und? Glaubst du mir jetzt?«, wandte sich Chester zufrieden an den Mann vom BKA, nachdem sich seine Beobachtung als richtig herausgestellt hatte.
»Unfassbar, Chester. Da suchen Hunderte von Spezialisten diese Lady und wir beiden Nachtschwärmer laufen ihr fast über die Stiefelspitzen«, staunte der deutsche Terroristenjäger.
*
In Windeseile organisierten Chester und Will den Zugriff, zogen einen Trupp GSG9 für den ersten Vorstoß hinzu. Zusätzlich wurden zwei Trupps eines Sondereinsatzkommandos in Stellung gebracht und in einem größeren Umkreis bauten Polizisten einen Sperrbereich auf.
»Wir dürfen ihr und den Leuten in ihrer Nähe keine Sekunde lassen, in der sie reagieren können. Diese Leute haben immer für alle möglichen Eventualitäten vorgesorgt und das müssen wir unbedingt durchkreuzen. Die Sicherheit des eigenen Lebens und die Unversehrtheit unbeteiligter Zivilisten stehen natürlich an erster Stelle. Darüber hinaus wäre es eminent wichtig, dass wir Illona Nagy lebend in unsere Gewalt bekommen. Aber Achtung! Diese Frau ist eine skrupellose Mörderin und zögert keinen Wimpernschlag, selbst Kinder als Deckung zu nutzen«, sprach Will in der Einsatzbesprechung klare Worte und danach sah Chester nur noch harte Gesichter, aus denen unbedingte Entschlossenheit leuchtete.
Will und er hatten längst selbst Schutzwesten angelegt und Chester überprüfte ein letztes Mal sein M4, bevor er mit den ersten Spezialisten der Bundespolizei ins Hotel marschierte. Der Sicherheitsleiter des »Kurfürst« stand bleich und angespannt am Empfangstresen, hatte die Einsatzkräfte bei der stillen Evakuierung der drei Stockwerke unterstützt. Vorsichtshalber hatte Will nicht nur das erste Stockwerk, in dem sich Illona Nagy einquartiert hatte, evakuiert. Auch die beiden Etagen darüber sowie alle Restaurants, Einkaufsshops und der Eingangsbereich waren geräumt worden.
»Sie bleiben hier unten und zeigen sich erst wieder, wenn wir es Ihnen erlauben. Verstanden?«, instruierte Will den Sicherheitsleiter.
Der nickte und schluckte krampfhaft, konnte sein Pech immer noch nicht fassen. Ausgerechnet im »Kurfürst« hatte sich eine der am meisten gesuchten Terroristinnen der Welt einquartiert. Kein Aushängeschild, wie ein Hotel der Spitzenklasse es sich wünschte. Derartige Überlegungen waren nichts für Chester, der hinter zwei GSG9 Männer die Treppe zum ersten Stock hinaufeilte. Die erste Welle bestand ausschließlich aus den hoch qualifizierten Antiterrorspezialisten der Bundespolizei. Nur Chester und Will gehörten noch zum Team. Während der Amerikaner sich an der Spitze der GSG9 aufhielt, blieb der rundliche Mann vom Bundeskriminalamt am Ende der Terrorjäger. Chester verharrte, als der Truppführer die geballte Faust hochhob. Gespannt verfolgte der Agent der CTO, wie ein Mann der GSG9 mit einem kleinen Überwachungsgerät zur Tür der Suite ging, in der sich Illona Nagy aufhalten sollte. Noch immer beschlich Chester ein ungutes Gefühl, da sie sich keine Zeit für die Auswertung der anderen Gäste hatten nehmen können. Besonders in den Räumen gegenüber von Illonas Suite sowie in den Nachbarräumen würden sich Komplizen üblicherweise aufhalten. Der Mann mit der Minikamera kauerte neben der Tür und schob den flexiblen Kameraschlauch unter den Türspalt. Auf einem winzigen Monitor konnte der Terrorjäger einen Teil der Suite überblicken. Er hob zwei Finger hoch, womit er die Anwesenheit von zwei Personen anzeigte. Dann streckte er den Daumen der linken Hand nach oben. Illona Nagy befand sich im Raum! Vorsichtig zog der Mann den Kameraschlauch wieder unter der Tür hervor und prüfte auf die gleiche Art und Weise die beiden Räume links und rechts neben der Suite. Insgesamt konnte er vier Männer ausmachen, dann wandte er sich dem Zimmer gegenüber der Suite zu. Er kniete neben der Tür und schob vorsichtig die Minikamera unter dem Türspalt durch, als die Tür aufflog. Obwohl der GSG9-Mann blitzartig reagierte und zurücksprang, hatte er keine Chance. Es blitzte zwei Mal im Türspalt auf und der Antiterrorspezialist brach getroffen auf dem Gang zusammen. Der Truppführer und Chester reagierten synchron und belegten die Tür und den unsichtbaren Schützen mit Deckungsfeuer. Zwei Kollegen des getroffenen Beamten hetzten über den Gang, zerrten den leblosen Körper zurück in Deckung. Noch über ihre Rücken hinweg mussten Chester und die anderen Männer auch die anderen Räume unter Feuer nehmen. Automatische Waffen ratterten, Granaten flogen in den Gang. In letzter Sekunde konnten die beiden Retter mit ihrem Kollegen in Deckung hechten, bevor die Splittergranaten hochgingen. Unwillkürlich sprangen Chester wieder die Erinnerungen an Wien an, als Miqati und al-Musawi in einem voll besetzten Lokal ebenfalls Granaten geschleudert hatten und Dutzende von Zivilisten getötet worden waren.
Die gefährlichen Metallschrapnelle bohrten sich in Wände, Decken und Türen. Hilflos mussten Chester und die Männer der GSG9 sich weiter zurückziehen, da weitere Granaten in ihre Richtung geschleudert wurden. Der Lärm der Explosionen, des Brechens von Glas und der Feuerstöße aus automatischen Waffen war unbeschreiblich. Als sich endlich die letzte Explosion gelegt hatte und keine weiteren Granaten ins Treppenhaus flogen, sprangen der Truppführer und Chester auf den Gang zurück.
*
Vom Luxus der Einrichtung war nichts mehr übrig. Die Metallsplitter und die Kugeln aus den Waffen hatten ein Bild der Verwüstung hinterlassen. Die Türen der Suite, der Zimmer links und rechts daneben und des Raumes gegenüber standen weit offen. Im Funk herrschte helle Aufregung, da die schießwütigen Terroristen sich weiterhin den Weg brutal frei schossen. Die Polizisten der Sondereinsatzkommandos konnten Illona Nagy und ihre Begleiter immerhin einige Zeit in der Tiefgarage des Hotels festnageln. Doch erneut waren es Granaten, die auch diese Beamten zum Rückzug zwangen. Gegen diese Bewaffnung konnten die Polizisten nichts ausrichten. Über Funk warnten sie ihre Kollegen, die immer noch die Absperrungen aufrechterhielten. Chester und die Männer der GSG9 hetzten durchs Foyer des »Kurfürst« hinaus auf die Straße. Neben dem Empfangstresen lag die von Kugeln durchsiebte Gestalt des Sicherheitsleiters. Chester nahm es am Rande wahr, wusste aber nicht zu sagen, ob sich der Mann den Terroristen in den Weg gestellt hatte oder einfach über den Haufen geschossen worden war.
»Die Terroristen bewegen sich in Richtung Europa-Center«, rief Will, der mit Chester in einen schwarzen BMW sprang.
Auch die Männer der GSG9 und des SEK nahmen mit Einsatzwagen die Verfolgung von Illona Nagy und ihrem Komplizen auf.
»Gibt es Informationen, mit wie vielen Terroristen wir es zu tun haben?«, fragte Chester den Oberrat des BKA.
»Fünf Männer und eine Frau haben sich den Weg aus der Tiefgarage frei geschossen. Eine Frau wurde zurückgelassen, weil sie tot war«, unterwies Will den Agent der CTO.
»Konnte Illona eindeutig identifiziert werden?«, bohrte Chester weiter.
Verblüfft fuhr Will zum dem Amerikaner herum.
»Wie bitte? Aber, das habt ihr doch im Hotel vorgenommen!«, stieß er ungläubig hervor.
»Nein! Verdammt, wir haben überhaupt keinen der Terroristen zu Gesicht bekommen. Die haben uns mit Granaten eingedeckt und deswegen mussten wir uns zurückziehen«, erzählte Chester.
Der Deutsche fluchte anhaltend und sprach über Funk mit verschiedenen Leuten. Immer wieder schüttelte Will den Kopf, offenbar konnte keiner seiner Leute eine eindeutige Identifizierung melden.
»Aber das Hotel steht doch unter Bewachung. Oder?«, fragte Chester voller böser Vorahnungen.
»Doch, das schon. Aber es sind einfache Streifenbeamte und die gehen nicht davon aus, dass die Terroristin sich noch dort aufhält«, ging Will auf die Befürchtungen seines amerikanischen Kollegen ein.
Erneut führte der Oberrat des BKA hektische Gespräche und wurde immer blasser.
»Zurück! Wir müssen auf dem schnellsten Weg zurück zum Kurfürst!«, brüllte Will den Fahrer an.
Der Mann reagierte vorbildlich, vollführte mit quietschenden Reifen einen U-Turn und schon raste der BMW zurück zum Hotel. Nur fünf Minuten nach ihrem Blitzstart stoppte der Wagen wieder vor dem Haupteingang, wo überraschte Uniformierte sie anstarrten.
»Haben Sie irgendwelche Leute aus dem Hotel gehen lassen?«, wollte Will sofort von einem hochrangigen Polizeibeamten wissen.
»Nur die Leute von Ihrer Dienststelle«, lautete die Antwort.
Chester und Will stöhnten entsetzt auf. Ein kurzer Blick auf ein Foto der gesuchten Illona Nagy reichte aus, um das Desaster vollständig zu machen.
»Ich fasse es nicht!«, knurrte Will und lehnte sich erschöpft gegen den Wagen.
Chester musste einsehen, dass ihnen die clevere Ungarin einmal mehr ein Schnippchen geschlagen hatte.
»Die Lady hat Nerven wie Drahtseile«, schüttelte Chester fassungslos den Kopf.
Über Funk kam die Meldung herein, dass es am Europa-Center zu einer schweren Schießerei zwischen den Terroristen und Einsatzkräften der Polizei gekommen war. Es gab Tote und Verletzte. Will ordnete an, dass die verletzten Terroristen unter Sonderbewachung ins Polizeigefängnis geschafft werden sollten. Ein kompletter Einsatztrupp der GSG9 übernahm diese Aufgabe.
*
Chester rieb sich die brennenden Augen und starrte aus dem Fenster. Seit dem Zugriff im »Kurfürst« hatte er keine Minute Ruhe gehabt. Mit allen Möglichkeiten hatten sie Jagd auf Illona Nagy und deren Leute gemacht. Noch immer drehte die Ungarin ihnen eine Nase, entkam ein ums andere Mal den Sperren. Längst wurden die Gespräche während der Jagd nicht mehr über das normale Funknetz der Polizei geführt, da man davon ausging, dass Illona es abhörte und dadurch einigen Sperren entgehen konnte.
»Der Bursche ist schweigsamer als eine Auster«, brummte Wills erschöpfte Stimme neben Chester, als sie wieder ohne Ergebnis aus dem Verhörraum kamen.
Er hatte einen Becher mit Kaffee in der Hand und trank in kleinen Schlucken. Der Agent der CTO konnte schon keinen Kaffee mehr sehen, geschweige denn trinken. Reine Willenskraft hielt ihn auf den Beinen. Dabei zermürbten die endlosen Verhöre nicht nur Illona Nagys Komplizen, sondern auch ihn.
»Hätte mich ehrlich gesagt auch gewundert, wenn einer dieser Männer so schnell umfallen würde«, knurrte Chester.
»Sollen wir ihn euch überlassen?«, schlug der Deutsche vor und sah fragend zu Chester.
Der Agent der CTO hat sich in dieser Hinsicht bereits mit Colonel Berkovicz abgesprochen.
»Ein Verhörteam wird gegen Mittag hier eintreffen, bis dahin können eure Leute es weiter versuchen«, weihte Chester seinen Kollegen vom BKA ein.
Doch um diese Angelegenheit konnte der Agent der CTO sich nicht weiter kümmern, da er zusammen mit Oberrat Rost ins Kanzleramt bestellt wurde. Beiden Männern war ziemlich klar, dass sie sich auf einen Rüffel der deutschen Kanzlerin einstellen mussten. Erneut führte die junge Mitarbeiterin der Kanzlerin die Männer in das Büro der mächtigsten Frau Deutschlands. Sie schenkte Chester ein aufforderndes Lächeln, was Will Rost nicht entging.
»He, du hast da eine Eroberung gemacht! Nicht übel, wenn du mich fragst«, raunte Will seinem amerikanischen Kollegen zu.
»Quatsch! Sie will nur nett sein, weil wir zu ihrer Chefin gehen«, brummte Chester gegen seine eigene Überzeugung.
Will versetzte ihm einen gutmütigen Rippenstoß, dann bauten sie sich vor dem Schreibtisch der zierlichen Blondine auf. Die blauen, intelligenten Augen musterten die beiden Männer, bevor ein kurzes Lächeln aufblitzte.
»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Bitte, setzen Sie sich doch«, bot die Kanzlerin den beiden einen Sitzplatz an.
Chester und Will setzten sich in die bequemen Besucherstühle, schauten erwartungsvoll zur Kanzlerin.
»Bevor wir zum eigentlichen Anlass dieses Treffens kommen, würde ich gerne mehr über die Ermittlungen zu Illona Nagy wissen«, bat die Regierungschefin.
Chester registrierte sehr wohl die Formulierung, die in ihm Erleichterung und Neugier gleichermaßen auslöste. Will und er setzten die Kanzlerin in wenigen Sätzen ins Bild, woraufhin die blonde Frau auf einen Knopf an der Kommunikationseinrichtung auf ihrem Schreibtisch drückte. Will und Chester tauschten einen fragenden Blick aus. Dann öffnete sich nach einmaligem Klopfen eine Seitentür und ein hagerer Mann betrat den Raum. Sein kurz geschorenes, blondes Haar war bereits von einigen grauen Strähnen durchzogen. Seine Art sich zu bewegen und seine Körpersprache verrieten den selbstbewussten Kämpfertyp.
»Das sind Agent Chester McKay von der CTO und Oberrat Wilhelm Rost vom Bundeskriminalamt. Holger Suckow«, stellte die Kanzlerin die Männer einander vor, wobei sie den Hageren nur mit seinem Namen vorstellte.
Chester und Will drückten die sehnige Hand des Mannes, der sich unaufgefordert einen Stuhl heranzog und sich darauf niederließ. Allein diese kleine Geste verriet viel über sein Vertrauensverhältnis zur Kanzlerin.
»Vermutlich wundern Sie sich über die Anwesenheit eines Zivilisten bei diesem Gespräch. Herr Suckow ist im Grunde jedoch ein Kollege von Ihnen, allerdings mit besonderen Aufgaben«, ging die zierliche Frau doch noch weiter auf den Neuankömmling ein.
Chester und Will warfen sich einen erstaunten Blick zu, wobei Chester in den braunen Augen des Oberrates zusätzlich eine Spur Ärger lesen konnte.
»Verzeihung, Frau Bundeskanzlerin. Zu welcher Behörde gehört Herr Suckow? Staatsschutz oder Verfassungsschutz?«, fragte Will direkt.
»Ursula reicht in dieser Runde völlig, Will. Holger gehört eben zu keiner Behörde, was ihn und seine Männer umso wertvoller macht«, wurde die Sache immer seltsamer.
Die Frau hatte das unschätzbare Talent, eine Atmosphäre von besonderer Verbundenheit zu erzeugen. Chester bewunderte diese Tatsache, besonders angesichts der Konstellation der drei Männer. Da saßen ein Amerikaner, ein Deutscher vom BKA und ein Unbekannter bei der Kanzlerin zu einer Besprechung und sie vermittelte ihnen den Eindruck, zu einer verschworenen Gemeinschaft zu gehören. Ganz schön clever!
»Dennoch bezeichnen Sie ihn als eine Art Kollegen? Wieso?«, bohrte Will weiter und jeder im Raum spürte seinen mühsam beherrschten Unmut.
Der Hagere sah fragend zur Kanzlerin, die ihm auffordernd zunickte.
»Ich war bis zur Wende Major der Volkspolizei. Ich führte einen Trupp der Dienstgruppe IX«, erklärte Holger Suckow an die beiden Männer gewandt.
Chester hatte eine Ahnung von der Volkspolizei, aber bei der Bezeichnung ging ihm automatisch der Begriff Stasi durch den Kopf. Sein Misstrauen wuchs noch.
»Suckow von der Dienstgruppe IX! Dann verstehe ich aber noch weniger, was Herr Suckow bei dieser Besprechung zu suchen hat. Nicht umsonst wurden er und seine komplette Einheit nicht zum Sondereinsatzkommando der Polizei übernommen!«, knurrte Will und der Blick seiner sonst warm wirkenden Augen wurde kalt und abweisend.
*
Chester verstand nicht einmal die Hälfte der Anspielungen und langsam baute sich auch bei ihm Ärger auf. Seine Zeit war zu kostbar, als dass er an irgendwelchen politischen Intrigen teilhaben konnte.
»Könnte man mich freundlicherweise aufklären?«, bat er und sah dabei Will und diesen Suckow an.
»Bei der Volkspolizei der DDR gab es nach den Anschlägen auf die israelische Delegation bei den Olympischen Spielen 1972 in München ganz ähnliche Überlegungen wie bei uns im Westen. Man wollte sich besser auf derartige terroristische Übergriffe vorbereiten. Während im Westen die Grenzschutzgruppe 9 aufgebaut wurde, nannte man das Gegenstück bei der Volkspolizei Dienstgruppe IX«, gab Will seinem amerikanischen Kollegen einen Überblick über die Entstehung der beiden deutschen Antiterroreinheiten.
»Und Sie waren einer der Anführer dieser Dienstgruppe?«, zog Chester seine Rückschlüsse.
»Richtig, Agent McKay. Ich habe eine Gruppe geleitet und mehrere Einsätze durchgeführt, ohne allerdings ernsthaft gegen Terroristen antreten zu müssen«, stimmte Holger Suckow zu.
»Nein, Ihre Aufgabe bestand ja vielmehr im Beschützen von Terroristen!«, fauchte Will aufgebracht.
Chester und die Kanzlerin seufzten gleichzeitig auf, was aber unterschiedliche Gründe hatte. Chester verstand erneut die Anspielungen nicht und die Kanzlerin wirkte genervt von den Vorwürfen.
»Will, bitte! Diese Aufgabe hat Holger nur unter Protest übernommen und dabei auch an die Karrieren seiner Männer gedacht. Nach der Wende wurde es ihnen übel gedankt und alle Männer wurden aus dem Staatsdienst entfernt«, korrigierte sie das vorgezeichnete Bild.
Dann wandte sie sich an Chester und gab ihm eine Erklärung, die im Zusammenhang mit Angehörigen der Rote Armee Fraktion und deren Flucht in die andere deutsche Republik stand. Während die westdeutschen Behörden weltweit nach den Terroristen der RAF fahndeten, erhielten diese in der DDR neue Namen und ein neues Leben. Ihr Schutz wurde dabei zeitweilig von Angehörigen der Dienstgruppe IX übernommen, zwar gegen deren Willen, aber so waren lauteten nun einmal die Fakten. Langsam verstand Chester die komplizierten Verwicklungen und ahnte die Schwierigkeiten im Zusammenwachsen der beiden so unterschiedlichen deutschen Staaten.
»Eben! Das sind die Fakten, und umso weniger verstehe ich die Anwesenheit von Herrn Suckow bei dieser Besprechung«, kam Will auf den Auslöser der Erklärungen zurück.
Die Bundeskanzlerin legte ihre feingliedrigen Hände flach nebeneinander auf die Schreibtischplatte. Man konnte ihr ansehen, wie sie um ihre Beherrschung rang. Dann hob sie den Kopf und ihre blauen Augen schauten den Oberrat durchdringend an.
»Was ich Ihnen jetzt verrate, ist eines der größten Geheimnisse der Bundesrepublik. Ich habe Herrn Suckow und seine komplette Einheit als Sondereinheit des Kanzleramtes bereits von meiner Vorgängerin geerbt«, sprach sie die Ungeheuerlichkeit aus.
In Chesters Kopf rasten die Gedanken und er versuchte, sich die sowieso schon komplexe Polizeistruktur Deutschlands wieder vor Augen zu führen. Auf eine Sondereinheit des Kanzleramtes hatte er dort nie auch nur einen Hinweis ausmachen können.
»Die deutsche Bundeskanzlerin unterhält eine persönliche Sondereinheit?«, entfuhr es dem verwirrten Agent der CTO.
Will stieß einen Fluch aus, sprang auf die Füße. Erregt tigerte er hinter den Besucherstühlen auf und ab. Die Kanzlerin suchte nach den passenden Worten, während Holger Suckow auf seinem Stuhl gelassen die Szenerie verfolgte.
»Du triffst damit den Nagel auf den Kopf, Chester! Verdammt, so etwas darf es überhaupt nicht geben! Was bezwecken Sie eigentlich mit dieser geheimen Sondereinheit, Frau Bundeskanzlerin?«, schien der Oberrat des Bundeskriminalamtes kurz vor einer Explosion zu stehen.
Die Atmosphäre im Raum war nach dieser Aussage der Kanzlerin spürbar abgekühlt und Chester fühlte sich äußerst unbehaglich in seiner Haut. Was lief hier nur ab?
»Beruhigen Sie sich bitte, Will. Ich will es Ihnen und Chester ja erklären, aber dazu müssen Sie mir auch die Gelegenheit geben. Später überlasse ich es Ihnen, wie Sie mit den Informationen umgehen. Ihnen beiden«, redete die blonde Regierungschefin auf den Oberrat ein, wandte sich zum Schluss an Will und Chester.
Tatsächlich blieb Wilhelm Rost stehen und starrte die Kanzlerin einen Moment lang schweigend an. Der Blickkontakt dauerte mehrere Sekunden und endlich setzte Will sich wieder auf seinen Stuhl. Zufrieden nickte die Kanzlerin ihm zu und sah dann zu dem ehemaligen Major der Volkspolizei.
»Am besten erzählen Sie die ganze Geschichte und wie es zu dieser besonderen Aufgabe im Bundeskanzleramt kam«, forderte sie Suckow auf, der zustimmend nickte.
*
Chester und Will saßen in einer Ecke der Wohnung im Stadtteil Charlottenburg, in der sie ihre Einsatzzentrale eingerichtet hatten. Sie waren vor einer halben Stunde aus dem Kanzleramt zurückgekehrt und hatten noch immer mit den dort erhaltenen Informationen zu kämpfen.
»Glaubst du diese merkwürdige Geschichte?«, wollte Chester nach einer Weile des Schweigens von seinem deutschen Kollegen wissen.
»Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht, Chester«, schüttelte Will den Kopf und sah dabei unglücklich aus.
Wieder schwiegen sie einen Moment, bevor Will mit leiser Stimme zu reden begann.
»Dieses Land hat so viel Mist durch irgendwelche Sondereinheiten oder Geheimdienste erlitten, dass mir eine positive Rolle für solche Dienste einfach nicht so leicht eingehen will. Verstehst du das?«, wandte er sich an den Amerikaner.
»Ja, allerdings. Irgendwie ist es bei euch in Europa immer gleich viel komplizierter als bei uns zu Hause. Und bei euch Deutschen scheint es selbst für europäische Verhältnisse noch komplizierter zu sein«, fasste Chester seine Gedanken in Worte.
Will nickte verstehend, dann trat ein Mitarbeiter zu den beiden Männern und reichte dem Oberrat des BKA eine Notiz.
»Wann ist die Meldung reingekommen?«, fragte ein sichtlich aufgeregter Will den Mitarbeiter.
Das lag keine fünf Minuten zurück, wie der junge Mann sagte. Wortlos hatte Will die Notiz an Chester weitergereicht, der sie nur verständnislos ansehen konnte.
»Oh, Verzeihung. Illona Nagy ist in Begleitung von drei Männern beim Grenzübertritt nach Frankreich beobachtet worden«, übersetzte Will die Meldung schnell ins Englische.
Chester sprang auf die Füße und starrte den relativ gelassen dastehenden Will an.
»Wir müssen sofort dorthin! Was stehen wir hier noch herum?«, konnte der Agent der CTO die Zurückhaltung seines deutschen Kollegen nicht nachvollziehen.
»Ich denke, wir sollten uns vorher mit Holger besprechen«, lautete die überraschende Antwort.
Chester brauchte einen Augenblick, um diese Kehrtwendung des Oberrates des BKA zu erfassen.
»Wie jetzt? Glaubst du also doch an diese Geschichte?«, staunte Chester angesichts der Wandlung.
Will wiegte den Kopf hin und her, dann nickte er schließlich.
»Die ist zu verrückt, um nicht wahr zu sein. Was das für unsere Ermittlungen bedeutet, kannst du ja ermessen«, legte Will Rost sich fest.
Und ob Chester das konnte! Wenn es bereits in der vorherigen Regierung einige Strohmänner der Org gegeben hatte, dann war der bereits enttarnte Innenminister auch nicht der einzige Maulwurf in der jetzigen Regierung. Kein Wunder, dass die Kanzlerin daher auf eine Gruppe handverlesener Spezialisten setzte. Will Rost hatte die Dimension der Probleme richtig erfasst, so viel gestand Chester seinem Kollegen zu. Bedeutete es aber auch, dass sie Holger Suckow und seiner Truppe deswegen vertrauen konnten?
»Es geht nicht mehr darum, ob wir Holger vertrauen können. Wir haben gar keine andere Wahl! Er hat viel mehr Hintergrundinformationen über die Org als wir«, gab Will seine Motivation für den Richtungswechsel bekannt.
Chester sah auch diese Notwendigkeit ein, wollte dennoch ein wachsames Auge auf diesen Holger haben.