Katrin versuchte sich zu erinnern, weshalb sie in den Feldweg eingebogen war. Viel zu früh, um zu der kleinen Ortschaft zu gelangen. Sie war ihm trotzdem weiter gefolgt, ungeachtet der vielen Schlaglöcher. Links von ihr, im Gegenlicht der untergehenden Sonne, entdeckte sie in der Ferne die Silhouetten der Häuser unter tiefhängenden Wolken des Spätnachmittags. Vermutlich ihr eigentliches Ziel.
Ihr Blick wanderte nach rechts, und sie entdeckte, von windbewegten Grashalmen leicht verborgen, ein paar verlassene Gebäude.
Da war dieses eine Haus … dessen Anblick sie gefangen hielt. An etwas erinnerte, das sie nicht greifen konnte. Aber auch zutiefst entsetzte und gleichzeitig mit zögerlicher Neugier erfüllte. Unbewusst forschte sie nach Vertrautem in der düsteren Fassade. Sie glich einem leblosen Gesicht. Fensterläden schief. Scheiben darin, wie stumpfe Augen. Blinde Augen, gerichtet in eine trübe Vergangenheit. Die offene Türe, ein stummer Schrei. Das eingestürzte Dach mit seinen zerbrochenen Schindeln glich verfilztem Haar. Grau und alt.
Das verfallene Gehöft … Es war wie in diesem Traum. Diesem schrecklichen Albtraum aus ihren Kindertagen … nicht so beklemmend in dem goldenen Dämmerlicht und schon gar nicht so entsetzlich bedrohlich.
Und dennoch … diese Gebäude … zeigten sie ihr eine ferne und verdrängte Erinnerung?
Ein Déjà-vu?
Wie konnte ein so wohlklingendes Wort so viel Unbehagen und Zweifel in sich bergen?
»Mama? Mama, warum fahren wir nicht?«
»Was?« Katrin erschrak. Ihre Hände verkrampft am Lenkrad, drehte sie sich zu ihrer Tochter um. Sie saß in ihrem Kindersitz auf der Rückbank des Wagens. Ungeduldig und müde.
»Weiß nicht, Schätzchen. Ich hab mich ‒ erinnert …«
»An was, Mama?«, wollte das Mädchen wissen.
Katrin schwieg.
»Was denn, Mama?«
»Nichts … Nichts Besonderes, nur an … Nicht jetzt, Lenchen.«
»Ist es ein Geheimnis?«
»Nein.«
»Warum sagst du es mir dann nicht?«
»Nun …«, Katrin zögerte einen Augenblick. »Ich hab immer von so einem Haus wie diesem geträumt.«
»War es ein schöner Traum?« Die Achtjährige ließ nicht locker. »Einer mit Papa?«
Eine Frage, wie ein Stich mit einem Messer. Katrin biss sich auf die Lippe. Tränen stiegen in ihre Augen. Sie schwieg. Schwieg die Trauer fort. Ein kläglicher Versuch. Sie hatte nicht daran denken wollen. Nicht jetzt, nicht heute ‒ nie mehr! Und keinesfalls mehr in Hellens Gegenwart. Langsam drehte sie sich zu ihrer Tochter um.
Mit großen, braunen Augen blickte sie unsicher zu ihrer Mutter. »Mama, ich wollte nicht …«, versuchte sie in kindlichem Begreifen, den Fehler zu entdecken.
»Schschsch, Liebes, ist schon gut. Komm her zu mir.«
Hellen löste den Sicherheitsgurt und kletterte nach vorne auf den Beifahrersitz. Tränen kullerten aus ihren großen Augen und rollten stumm über ihre blassen Wangen. Zärtlich schloss Katrin ihre Tochter in die Arme und zog sie zu sich auf den Schoß. Sie hoffte, das Kind mit ihrem Lächeln zu beruhigen. Drückte sanft den zarten Körper an sich. Umarmte tröstend den bebenden Leib. Das Kind war das Einzige, was ihr geblieben war.
Sie biss ihre eigenen Tränen fort. Doch die Steine in ihrem Hals, sie mahlten beharrlich weiter.
Katrin war verzweifelt über die plötzliche Wende. Der Tag hatte so gut begonnen. Das Kind war begeistert, als ihnen am Flughafen der Leihwagen übergeben wurde. Knallrot. Ihre Lieblingsfarbe. Zum ersten Mal seit Langem war Hellen fröhlich gewesen. Richtig ausgelassen und aufgedreht – glücklich, als sie die Koffer in das Fahrzeug luden.
Das Mädchen hatte nicht mehr gelacht seit … seit …
Und jetzt schluchzte es stumm gegen ihre Brust. »Ich hab dich lieb, Kleines«, flüsterte sie in Hellens blonde Locken.
Nein, Hellen sollte nicht weiter in den Sumpf der Trauer sinken. Der Verlust des Vaters … Sie durfte das Kind nicht auch noch mit ihrer Verzweiflung belasten.
Leise summte Katrin das Lied, mit dem sie ihre Tochter so oft schon in den Schlaf geschaukelt hatte.
Die Zeit stand still in ihrer kleinen Welt. Im Innern des Autos. Inmitten dieses fremden, vertrauten Landes. Im Angesicht einer noch nahen, schmerzhaften Erinnerung.
Metallisches Klopfen!
Katrin erschrak so heftig, als etwas Hartes gegen das Seitenfenster gestoßen wurde. Sie schrie leise auf.
»Ist Ihnen etwas, kann ich Ihnen behilflich sein, Madame?«, drang eine raue Stimme gedämpft ins Innere des Wagens.
Hatte sie geschlafen? Wie viel Zeit war verstrichen?
Die Scheiben waren angelaufen, sodass sie das Gesicht des Mannes nur schemenhaft erkannte. Es wirkte dunkel und bedrohlich so nahe hinter der milchigen Scheibe.
»Nein, nein«, entgegnete sie atemlos, »es ist nur – meine Tochter, sie hat sich in den … war müde, sie schläft.«
Erst als eine Reaktion ausblieb und sie weiter in ein verständnisloses Gesicht sah, das sich allerdings nicht von der Stelle rührte, wurde ihr bewusst, dass der Mann sie auf Französisch angesprochen hatte.
Sie wiederholte ihre Antwort und ließ langsam die Scheibe herab. Ein kalter Hauch streifte ihr Gesicht. Er trug den Duft von Gras und dem nahen Meer in sich.
»Ist kein guter Ort hier, Madame.« Die alten Augen des Schäfers glitten zu dem schlafenden Mädchen und verhielten auf ihm kurz mit einem sonderbaren Blick. »Kein guter Ort«, wiederholte er, ohne jedoch Hellen aus den Augen zu lassen.
Katrin war zu müde, um das veränderte Verhalten des Mannes richtig einschätzen zu können, da er seinen Blick kaum von Hellen wenden konnte. Sie wollte nach der langen Anreise nur noch ihre Unterkunft erreichen.
»Wir wollten nach Le Thiénne. Maison Ledeaux ‒ aber ich habe anscheinend die falsche Abzweigung genommen.« Katrin sah fragend in das bärtige Gesicht, das immer noch auf dem schlafenden Kind ruhte.
»Ah, zu Maïwynn. ‒ Maison sur Mer«, antwortete der Alte lebhaft, nickte verstehend und deutete mit der Rechten in die entgegengesetzte Richtung, den schmalen Weg hinauf. »Fahren Sie zur Straße zurück. Dann rechts, und nach etwa zweihundert Metern ist eine Abzweigung, da rechts einfahren. Die hätten Sie nehmen müssen. Dann fahren Sie weiter, bis eine Linkskurve weiter hinab nach Le Thiénne führt. Kurz vor der Kurve ist rechter Hand eine schmale Einfahrt. ‒ Sie führt direkt zu den Häusern. Etwas zurückgesetzt befindet sich Ihr Ziel, Maïwynns Maison ‒ Maison sur Mer.«
»Merci, Monsieur. ‒ Schätzchen, wach auf«, sie rüttelte das Mädchen behutsam wach, »wir müssen weiter.« Hellen regte sich verschlafen, und Katrin half ihr auf die Rückbank. Dann drehte sie sich dem Fremden zu und bedankte sich nochmals: »Merci, Monsieur.«
»Maurice. – Maurice genügt«, entgegnete der Alte und tippte an seine Hutkrempe.
»Vielen Dank.« Katrin startete den Motor und suchte nach einer Möglichkeit zu wenden. Der Feldweg war schmal und von tiefen Furchen durchzogen. In einem weiten Bogen durchschnitt er das hohe Gras. Gerade so, als wollte er den verlassenen Gebäuden ausweichen.
Ihr Blick irrte weiter suchend umher.
»Keine Wendemöglichkeit«, hörte sie Maurice noch sagen.
Dann verharrten Ihre Augen an einer kaum mehr erkennbaren Abzweigung, die zu einer schmalen Brücke unweit vor ihr wies. Die überwucherte Spur führte darauf zu und direkt hinein in das verlassene Gehöft.
Sie überlegte kurz, einzufahren und dort zu wenden.
Doch ein dunkler Schatten zeichnete sich im Licht der Scheinwerfer ab.
Der Alte war stehen geblieben, wohl, um sich zu versichern, dass sie sicher die Straße erreichen würde. Er stand in der Mitte des Weges und hatte die Arme unmissverständlich ausgebreitet.
Kein guter Ort, kam es ihr beim Anblick der Gestalt wieder in den Sinn. Die Erinnerung an die seltsamen Worte des Mannes ließ sie ihren Entschluss verwerfen. Sie nickte, ohne jedoch wirklich begriffen zu haben, was ihr der Alte eigentlich zu verstehen geben wollte.
Katrin legte unbewusst den Rückwärtsgang ein und fuhr langsam an.
Der Fremde blieb in der Düsternis zurück. Verwandelte sich in den grauen Schattenriss einer gebeugten Gestalt, deren wehender Umhang allmählich mit der Dämmerung verschmolz.
»Mama, was wollte der Mann?«, fragte Hellen schläfrig.
»Er hat mir gesagt, dass ich falsch gefahren bin. Ich hätte eine Abzweigung später nehmen müssen, um nach Le Thiénne zu gelangen.«
Sie waren bereits eine geraume Weile gefahren, als der hintere Teil des Wagens absackte und augenblicklich stehen blieb. Katrin stieg aus, sah, was geschehen war und verkniff es sich, ihrem Zorn um ihre Unachtsamkeit Luft zu verschaffen. Sie musste feststellen, dass sie einen Graben übersehen hatte. Das linke Hinterrad hing in einer Mulde.
Sie stieg wieder in den Wagen. Versuchte, vorwärts aus dem Graben zu kommen. Das Fahrzeug schaukelte. Mehr Erfolg hatte sie mit ihrem Versuch jedoch nicht. Nach dem vierten oder fünften vergeblichen Versuch platzte jedoch der Zorn über das Missgeschick aus ihr heraus. Jetzt gab es kein Halten mehr.
»Darf ich mir die Worte merken, Mama?«, meldete sich die Kleine, nachdem der Wutausbruch in einem erneuten Aufheulen des Motors untergegangen war.
Sie sah im Rückspiegel in das schelmische Gesicht ihrer Tochter, und ein leises Grinsen erhellte Katrins Züge. Seit einiger Zeit entwickelte Hellen mit kindlichem Gespür eine Art Abwehr gegenüber solchen Situationen und sorgte mit ihrem trockenen Humor, die Anspannung zu lösen.
»Besser nicht, Schätzchen. Wir wollen doch brave Mädchen bleiben, oder?« Sie zwinkerte ihrer Tochter zu und atmete tief durch.
Noch einmal gab sie Gas. Diesmal sehr viel behutsamer. Es half nichts. Auf dem glitschigen Boden drehten inzwischen die vorderen Räder wirkungslos. Der Peugeot steckte fest.
Erst jetzt bemerkte Katrin, wie nahe die Nacht schon war. Sie kroch bereits über die Hügel und wich nur vor dem Licht der Scheinwerfer zurück.
»Hellen, Schätzchen. Wir müssen zu Fuß weiter.« Katrin stieg aus dem Wagen. Mit einem Mal fröstelte sie. Im schwindenden Tageslicht verstärkte sich der Eindruck einer verborgenen Bedrohung, die dem noch nahen Gehöft anhing.
»Aber Mama … ich bin so müde.« Ein quengelndes Aufbegehren im Angesicht des Unvermeidlichen.
»Das Auto ist stecken geblieben. Wir kommen nicht weiter, und hier bleiben können wir nicht. Also beeil dich. Schlüpf in deinen Mantel und nimm den Karlo mit.« Ihre Stimme zitterte ein wenig. Sie konnte ihre Erregung vor dem Kind kaum mehr verbergen. Ihr war plötzlich unheimlich in Sichtweite der im aufziehenden Nebel versinkenden düsteren Gebäude. »Und gib mir bitte die Taschenlampe aus dem Handschuhfach.«
Die Frau beugte sich zu ihrer Tochter in den Wagen.
»Mama!«, schrie das Kind plötzlich entsetzt auf und wich vor ihr zurück. Dann spürte Katrin auch schon eine Hand, die sich schwer auf ihre Schulter legte.
»Excusez-moi«, hörte sie eine tiefe Stimme in ihrem Rücken. Jede Faser ihres Körpers angespannt, wandte die Frau ihren Kopf der Gestalt in ihrem Rücken zu.
»Maurice«, stieß sie atemlos hervor. »Haben Sie uns einen Schrecken eingejagt.« Es war ihr nicht ganz klar, ob sie erleichtert oder entsetzt über seine plötzliche Anwesenheit sein sollte.
»Pardon, Madame. Das wollte ich nicht.« Und trat sogleich einen Schritt von ihr fort.
Wenig später lief Maurice den Weg bis zur Kreuzung vor dem Lichtkegel der Rückscheinwerfer her. Seiner kräftigen Unterstützung war es zu verdanken, dass das Hinterrad aus dem Graben gekommen war. Nun stand der Wagen mit laufendem Motor auf der schmalen Landstraße. Noch bevor Katrin aussteigen konnte, tippte der Schäfer an seine Hutkrempe und schritt in die entgegengesetzte Richtung davon.
»Warten Sie, Maurice. Wie kann ich Ihnen danken?«, rief sie dem Mann hinterher.
Er hob die rechte Hand, ohne sich umzudrehen. Er antwortete, sprach aber in die Nebelwand vor sich. Trotzdem hatte sie seine Entgegnung ganz deutlich vernommen: »Fragen Sie am Hafen im Tri Martolod nach Maurice. Maurice, den Spinner – den Hüter. Der Wirt dort weiß, was ich gerne trinke. Au revoir, Madame.«
Sie starrte für einen kurzen Augenblick in die Dunkelheit, worin der Alte verschwand. Katrin blieb das feine Lachen, das in dem Klang seiner Stimme bei seiner letzten Bemerkung mitschwang, nicht verborgen.
Spott oder Selbstironie?, fragte sie sich irritiert, während sie kaum bemerkte, wie die hochfahrende Seitenscheibe die kühle und feuchte Luft allmählich aussperrte.
Unbewusst legte sie den Gang ein und fuhr nachdenklich davon.