Kapitel 1
Donnerstag, 29. Juni: Ewige Lichter erlöschen, und auch einem Riesenbaby fehlt die Erleuchtung
Die stürmische Nacht hat Spuren hinterlassen. Trockene Äste, die den Naturgewalten nicht standhalten konnten, liegen quer über den Gräbern, umgeknickte Rosenstöcke lassen ihre gerade erst erblühten Köpfe hängen. Kerzen in roten Plastikbechern, die als Ewiges Licht an die Gegenwart Gottes erinnern sollten, sind erloschen und über die Rasenflächen verstreut. Auf den Wegen steht das Wasser. Sogar die großen grünen Abfallbehälter hat der Sturm umgeworfen, ihre Deckel dürften wie Frisbeescheiben durch die Gewitterluft geflogen sein. Harms wird sie zwischen den Grabsteinen zusammensuchen müssen.
Viel Arbeit für einen Donnerstagmorgen, an dem sich der Friedhofsgärtner aus Leidenschaft eigentlich um die Neugestaltung einer Freifläche kümmern wollte. Bienenfreundliche Beete. Doch das muss warten.
Paul Harms unterdrückt ein Seufzen und blickt zum Himmel, über den noch immer dunkle Wolken jagen. Vermutlich wird es weitere Schauer geben. Er stapft mit seinen grünen Gummistiefeln durch Pfützen, bis er ein Grab erreicht, das fast vollständig von einem abgebrochenen Ast der nahen Trauerbuche bedeckt wird. Ausgerechnet dieses Grab.
Harms weiß nur zu gut, wer dort beerdigt wurde. Hendrik Rasmussen, 27 Jahre alt, Politologiestudent. Angeblich Opfer eines Verkehrsunfalls, in Wahrheit getötet durch jene rechtsextreme Esoteriksekte, die auch ihn fast auf dem Gewissen gehabt hätte. Nicht darüber nachdenken, nicht schon wieder die Feuersbrunst von damals nacherleben.
Das Kapitel ist abgeschlossen.
Harms wuchtet den Ast vom Grab. Die im letzten Jahr sorgsam gepflanzten Golderdbeeren haben nicht gelitten, nur der Porzellanengel, den Sarah Rasmussen für ihren toten Bruder aufgestellt hat, beklagt einen fehlenden Flügel.
Vom Grabstein, auf dem damals die Sekte »Fahr zur Hölle!« und darunter ein Hakenkreuz gemalt hatte, entfernt er einen weiteren Ast.
»Die Geschichte lässt dich nicht los, oder?«
Harms dreht sich um und blickt dem Frager verblüfft ins Gesicht. Ein Déjà-vu-Gefühl überfällt ihn mit aller Macht. Der Mann ist zu groß, zu dick, seine Nase ist zu breit und sein Haar zu rot. Ein Riesenbaby, das sich nie in der Menge verstecken könnte. Uwe Jensen, Kriminalhauptkommissar und ehemaliger Kollege des jetzigen Friedhofsgärtners.
»Ich will keinen neuen Fall, Uwe.«
Der Rothaarige öffnet den Mund, sagt aber erst mal nichts. Nur seine graugrünen Augen weiten sich.
»Du hättest Hellseher werden sollen, Paul.«
»Bin ich doch auch. Beim letzten Mal, als du hier auf meinem Friedhof aufgetaucht bist, fing jedenfalls alles wieder an.«
»Sei nicht unfair. Das war mein Fall. Du hast dich eingemischt.«
Klingt ernst. Grinst das Riesenbaby dabei? Nach all den Jahren fällt es Harms immer noch schwer, solche Aussagen seines Freundes richtig einzuschätzen.
Er rückt den Porzellanengel gerade und steigt dann über die niedrige Lebensbaumhecke zurück auf den Weg zwischen den Gräbern.
»Hast du Zeit für mich, Paul?«
»Nein.«
»Ich brauche deinen Rat.«
»Nein.«
»Okay. Setzen wir uns auf die Bank dort drüben.«
»Nein.«
Trotzdem folgt Harms dem ehemaligen Kollegen, befreit die Holzbank von Blütenresten und herzförmigen Blättern, die aus der Höhe der Lindenbäume herabgefallen sind, wischt die Spuren des Regens weg, setzt sich und wartet.
Jensen setzt sich ebenfalls und schweigt.
»Keine guten Nachrichten?«