Leseprobe – Deinoid Sammelband I


Zum Roman

Prolog

Das Zittern ihrer Finger verriet Katyas Nervosität. Bis jetzt waren es nur Gedankenspiele gewesen, doch nun musste sie sich entscheiden. Im Labor herrschte die übliche gelassene Atmosphäre, wie überall, wo Wissenschaftler konzentriert ihrer Arbeit nachgingen. Niemand warf Katya prüfende Blicke zu oder verriet auf andere Weise, dass er etwas von ihrem Vorhaben ahnte.

»Sie haben ein Recht darauf«, murmelte sie, um sich selbst zu ermutigen.

Seit zwanzig Monaten arbeitete Katya nun schon im Labor und seit vier Wochen gehörte sie zum Team für neuronale Programmierung. Das war nie ihr Ziel gewesen, doch bereits nach kurzer Zeit erkannte sie die sich daraus ergebenden Möglichkeiten. Vor zehn Tagen hatte sie Oleg eingeweiht und der berief den Rat ein, um über Katyas Vorhaben zu entscheiden. Niemals hätte sie erwartet, dass man den Plan als zu riskant verwerfen würde. Und doch war es so gekommen. Selbst Oleg zeigte sich nicht völlig überzeugt, sodass es zu hitzigen Diskussionen zwischen ihnen kam. Vergeblich versuchte Katya ihren Bruder zu überreden.

»Gibt es Probleme?«, riss Dinas Stimme sie aus ihren Gedanken. Katyas Vorgesetzte schaute fragend zu ihr hinüber.

»Nein, alles bestens. Ich bin wohl immer noch zu kritisch mit mir selbst«, erwiderte Katya mit einem Lächeln und drückte die Taste zur Freigabe der Programmierung.

Es war ein simpler Tastendruck und nichts wirkte im Vergleich zu den Tausenden von Programmierungen der Vergangenheit verändert. Fast war es enttäuschend.

»Sie leisten hervorragende Arbeit, Katya. Trauen Sie sich ruhig über den Weg. Ihre Programmierungen waren noch nie fehlerhaft und falls es doch zu inkompatiblen Prozesseingaben käme, würden die Sicherheitsprotokolle schon Alarm schlagen«, beruhigte sie die Leiterin des Labors mit einem bestärkenden Nicken.

Außer, man umgeht diese Protokolle mit Absicht, dachte Katya, während sie Dina hinterherschaute, die bereits den Raum verließ.

Nach einem abschließenden Blick deaktivierte sie die Konsole und ging hinüber zur großen Halle. Auf der Galerie blieb sie an der üblichen Stelle stehen, um hinunter auf die Behältnisse zu schauen. Techniker bewegten sich zwischen den Aufzuchttanks, die in langen Reihen hinter- und nebeneinander den Raum füllten. Es waren so viele, dass man selbst von der erhöhten Position aus nie alle mit einem Blick erfassen konnte.

»Sie haben ein Recht darauf«, wiederholte Katya halblaut.

Ein weiblicher Techniker drehte sich zu ihr um. Als Katya stumm blieb und weiterhin hinunter auf die Tanks starrte, setzte sie ihren Weg mit einem Achselzucken fort.

 

Kapitel 1

Es war der übliche Betrieb, wenn die Frachter mit den Diggern den Mars anflogen. Im Kontrollzentrum des Raumflughafens herrschte mehr Hektik als zu den üblichen Tagen, doch daran hatte Galina sich gewöhnt.

»Sechshundert rein, sechshundert raus«, murmelte sie vor sich hin, während sie NHC 17601 die erforderlichen Landedaten übermittelte.

Der Neo Hanse-Carrier brachte die letzten zweihundert Digger zum Mars, damit ihre Programmierungen überprüft werden konnten. Dieser turnusmäßige Tausch von sechshundert Arbeitssklaven erfolgte einmal im Monat, nachdem die Wissenschaftler in der Vergangenheit einige Anzeichen von Störungen im Einsatz beobachtet hatten. Galina verfolgte unbeteiligt den Landeanflug des riesigen Frachters und musste unwillkürlich an ihre ersten Tage als Controller im Anflugkontrollgebäude denken. Damals war jedes ankommende oder abfliegende Raumschiff für sie eine echte Sensation gewesen. Wie ein Kind hatte sie mit Ehrfurcht die Vorgänge auf dem Raumflughafen verfolgt und dabei ihre Aufgaben vernachlässigt. Der leitende Controller hatte Galina dafür vor versammelter Mannschaft einen Verweis erteilt. So eine Demütigung wollte sie nie wieder erleben und deswegen hatte Galina anschließend jede Sekunde während ihrer Schicht mit absoluter Konzentration bewältigt. Nachdem der dritte Frachter seine Triebwerke ausgeschaltet hatte, wechselte die Kontrollerin die Sprechfunkfrequenz. Sie meldete sich bei den Besatzungen der zum Abflug bereitstehenden Frachter, um ihnen die erforderlichen Triebwerkstests zu genehmigen. Nach der knappen Bestätigung schaltete Galina aus und griff nach einem Thermobecher. Sie gehörte zu der aussterbenden Sorte Mensch, die immer noch Kaffee in erheblichen Mengen trank. Kaum hatte Galina den ersten Schluck getrunken, krauste sie verwundert die Stirn. Sie schaute hinüber zu Huan an der zweiten Konsole.

»Haben die Piloten der abfliegende Frachter abweichende Anweisungen erhalten oder wieso führen die immer noch keine Triebwerkstests durch?«, wollte sie wissen und riss damit ihren Kollegen aus der Lektüre einer Übertragung auf einem der Monitore.

»Hä? Nein, du hast doch die Leitung über An- und Abflug«, erwiderte er verärgert, schaute aber trotzdem hinaus auf den weitläufigen Raumflughafen.

Keiner der drei Frachter machte Anstalten, die üblichen Prozeduren vorm Abflug einzuleiten. Jetzt wurde auch Huan stutzig.

*

Seine Zeit lief ab. Zu viele Jahre hatte Juri Wassirev der Arbeit für die NEO-Hanse gewidmet. In wenigen Monaten konnte er New Danzyg, diesem Moloch auf dem Mars, endgültig den Rücken kehren. Dann wollte Juri seine geliebte Elena aus der Spezialklinik abholen und mit ihr noch viele Jahre auf der privaten Insel in der Karibik verbringen. Sein Blick löste sich von der Ferne, um wieder die Ansammlung von Gebäuden dreiundzwanzig Stockwerke unter seinem Büro wahrzunehmen. Es hatte viele Rückschläge bei der Optimierung der Klone gegeben und immer musste Wassirev dafür die Verantwortung tragen. In den Jahren war es der NEO-Hanse nie gelungen, eine Ablösung für diesen Posten auf dem Mars zu finden. Es hatte sich herumgesprochen, wie wankelmütig der Niederlassungsleiter in New Danzyg in seinem Wirken angesehen wurde. Mit einem verärgerten Seufzer verdrängte Wassirev diese düsteren Gedanken, die so gar nicht seinem eigentlichen Wesen entsprachen. Vermutlich war Elenas Erkrankung der Auslöser dafür, daher sehnte er sich nach der Rückkehr auf die Erde. Mit seinen finanziellen Möglichkeiten konnte Wassirev für sich und Elena eine private Insel in der Karibik kaufen. Das milde Klima war gut für Elenas Lungen und mit einem permanent zur Verfügung stehenden Betreuerteam wäre eine erstklassige Versorgung rund um die Uhr möglich.

Noch acht Monate, dann endet mein verfluchter Kontrakt auf dem Mars, dachte Wassirev und löste sich endgültig aus dem Fluss an Gedanken.

Der Manager kehrte zurück an seinen Schreibtisch und aktivierte das Display, um die aktuellen Daten abzurufen. In der Halle wurden die letzten Checks an 150 Diggern vorgenommen, die übermorgen aus dem künstlichen Koma geholt und zum Leben erweckt werden sollten. Alle Anzeigen waren im grünen Bereich, sodass Wassirev sich einem nervigen Problem zuwenden konnte. Er ließ Li Anderson, den zuverlässigen Agenten der HS, der Hanse Security, kommen. Der drahtige Mann mit leicht schrägen Augen war in Macao zur Welt gekommen und hätte eigentlich sein Leben als Hausdiener bei einer der angesehenen Familien des asiatischen Bundes antreten sollen. Doch er schloss sich als Jugendlicher einer der Triaden an, die immer noch in der Vergangenheit lebten und nicht einsehen wollten, dass ihre Macht nicht mehr existierte. Mit der Übernahme der Kontrolle durch die Mega-Konzerne war die Schwäche der früheren Regierungen ausgelöscht worden. Deren Sicherheitskräfte waren durch viel zu viele Vorschriften gegängelt worden, weshalb sie kaum effektiv gegen Kriminelle vorgehen konnten. Dieses Dilemma gab es für den Sicherheitsdienst eines Mega-Konzerns natürlich nicht und so geriet Li Anderson in die Gewalt des asiatischen Bundes, wo man seine speziellen Fähigkeiten bemerkte und förderte. Vor zwei Jahren hatte Juri Wassirev ihn als den besten Kandidaten für den Posten des Leiters des Sicherheitsdienstes auf dem Mars auserkoren.

»Wie weit sind Sie mit der Infiltration der Rebellen von New Danzyg?«, kam Wassirev ohne lange Vorrede auf den Punkt.

Anderson berichtete mit stoischer Ruhe von den komplizierten Details der laufenden Operation.

»Ersparen Sie mir dieses Geschwafel, Anderson. Wie weit sind Sie?«, fuhr Wassirev ihm in die Parade.

Der Agent der HS nahm es mit äußerlicher Gelassenheit hin.

»Ich habe einen meiner Agenten in den Führungszirkel einschleusen können. Ab sofort erfahren wir vorab, wann und wo Anschläge geplant sind«, antwortete er, ohne den Anschein eines Triumphes zu erwecken.

Das sollte Wassirevs Ansehen in der Zentrale der NEO-Hanse in Brügge erheblich aufpolieren. Er wollte seinem Nachfolger eine konfliktfreie Niederlassung übergeben.

»Sehr gut, Li. Ich gebe Ihnen acht Wochen Zeit. Danach existieren keine Rebellen mehr in New Danzyg. Verstanden?«, ordnete Wassirev kühl an und nahm das zustimmende Nicken mit Zufriedenheit entgegen.

Er entließ Anderson mit einer knappen Geste und hakte gedanklich diesen Punkt auf seiner Liste der täglichen Aufgaben ab. Alles lief bestens. Solange Wassirev seine Wachsamkeit und Entschlossenheit behielt, sollten die verbleibenden Monate ohne größere Zwischenfälle verstreichen.

*

An Bord des Frachters mit der Kennung NHC 17598 verfolgte Ataho betroffen, wie Cetan mit sechs anderen Deinoiden die leicht verletzten Piloten in den Aufenthaltsraum der Besatzung einsperrten.

»Warum haben sie sich so gewehrt? Angesichts unserer Überlegenheit hat das doch gar keinen Sinn«, wandte Ataho sich verwirrt an Denali.

Schon vor fünfzehn Monaten hatten sie einen Rat gebildet, zu dem auch Cetan gehörte. Es war an der Zeit, dass die Menschen endlich zuhörten. Über ein Jahr benötigten Ataho und die anderen Anführer, bis sie einen durchführbaren Plan entwickelt hatten. Mit ihrer heutigen Rückkehr auf den Mars setzten die Deinoiden ihn um. Es wäre Ataho niemals in den Sinn gekommen, dass die sieben Besatzungsmitglieder des Frachtraumschiffes ihnen Widerstand leisten würden. Sechshundert Deinoiden gegen sieben Menschen. Und doch war es passiert und hatte Cetan, der besonders aggressiv veranlagt war, zu einer heftigen Reaktion veranlasst.

»Weil sie uns als Digger ansehen? Wir sind in ihren Augen lediglich geklonte Arbeitssklaven, die keinen eigenen Willen haben dürfen«, antwortete Denali mit trauriger Stimme.

Genau wie Ataho zählte er zu den gemäßigteren Anführern, die sich schließlich durchgesetzt hatten. Cetan und Kuruk hatten von Anfang an den Kampf favorisiert, während Hania unschlüssig blieb. Wenn alle Menschen auf dem Mars sich so wie die Piloten des Frachters verhielten, würde es nicht lange dabei bleiben und die friedliche Übernahme blieb ein schöner Traum.

»Sie weigern sich sogar, uns als Deinoiden zu bezeichnen. Digger! Verfluchte Digger sind wir«, stieß Cetan erbost hervor, als er zu den beiden anderen Anführern trat.

Viele Generationen vor ihnen waren in dieses unfaire Schicksal gedrängt worden. Doch schon vor Ataho und seinen Freunden wuchs ein Bewusstsein bei vielen Deinoiden, die sich damals noch nicht so bezeichneten.

Ihre Köpfe wandten sich gleichzeitig einem Wandpanel zu, an dem ein Signal aufleuchtete.

»Im Anflugkontrollgebäude wundert man sich offenbar, warum die anderen Besatzungen nicht mit den Startvorbereitungen beginnen«, sagte Denali.

Ihr Plan war exakt auf diesen Augenblick ausgerichtet. Für einen kurzen Zeitraum hielten sich 1200 Deinoiden gleichzeitig auf dem Raumflughafen auf. Sie mussten lediglich die Besatzungen überwältigen und anschließend die Kontrolle auf dem gesamten Plateau übernehmen. Die wenigen Menschen konnten es nicht verhindern.

»In wenigen Minuten sind sie schlauer«, warf Cetan mit einem harten Lächeln ein, wobei der blaue Ring um seine Iris intensiver aufleuchtete.

An diesem Phänomen konnte man jeden Deinoiden sofort erkennen, auch wenn sie sich ansonsten äußerlich nicht von Menschen unterschieden. Der blaue Ring war so etwas wie ihr Brandzeichen, welches die Wissenschaftler sich ausgedacht hatten. Mit einem zustimmenden Nicken streifte Ataho sein Unbehagen ab. Mit einem surrenden Geräusch senkte sich die hintere Rampe, sodass die Deinoiden zügig von Bord gehen konnten. Seitlich vom Frachter standen vier Shuttles bereit, die sie eigentlich ins Regenerationslabor transportieren sollten. Es lag in einer Einöde, weit von der Stadt New Danzyg entfernt, auf einem eingezäunten Areal der NEO-Hanse. Zu jedem Shuttle gehörten ein Pilot, ein Co-Pilot sowie zwei Sicherheitsmänner. Da es bisher noch nie einen Zwischenfall während der Wechselphasen auf dem Mars gegeben hatte, war deren Aufmerksamkeit eingeschläfert. Sie erwarteten keinen Widerstand. Jeweils 25 Deinoiden formten eine Reihe und stiegen stumm in die Shuttles ein. Alles wie immer. Ataho gehörte zu den letzten in seiner Reihe und würde dabei helfen, die Piloten zu überrumpeln. Als er am Sicherheitsmann, der eine Elektroimpulswaffe im Halfter trug, vorbeikam, wirbelte Ataho herum. Jeder Deinoid war für den gefährlichen Einsatz auf einem Asteroiden gezüchtet worden. Sie waren erheblich kräftiger, reaktionsschneller und belastbarer als ein Mensch. Atahos Angriff war perfekt mit dem seiner Artgenossen abgestimmt. Der Sicherheitsmann erkannte die Bedrohung erst, als er bereits betäubt am Boden lag. Mit wenigen Griffen zog Ataho zwei Sicherheitsbänder aus der Gürteltasche des Mannes und fixierte damit dessen Arme sowie Beine.

»Verfluchte Scheiß-Digger!«, brüllte auf einmal eine erboste Stimme aus dem Cockpit.

Ataho reagierte instinktiv. Er entsicherte die Impulswaffe des Sicherheitsmannes und war mit drei langen Schritten im Durchgang zum Cockpit. Der Co-Pilot hatte es geschafft, sich dem Zugriff eines Deinoiden zu entziehen und zielte mit einer Waffe auf ihn. Atahos Zeigefinger krümmte sich einen Sekundenbruchteil früher, sodass ein bläulicher Wirbel den gesamten Körper des Co-Piloten umschloss. Er kreischte vor Schmerzen und bog sein Rückgrat unnatürlich weit durch, bis es laut knackte. Aus Unkenntnis hatte Ataho einen tödlichen Schuss gesetzt und damit den Co-Piloten getötet. Der überrumpelte Deinoide schob den leblosen Körper zur Seite und deutete dabei auf ein Signal im Display.

»Er konnte einen Warnruf absetzen«, erklärte er.

In Ataho tobten unterschiedliche Gefühle und er wurde sich bewusst, dass er ungewollt eine Grenze überschritten hatte. Nichts lief so, wie er es sich gedacht hatte. Die Menschen reagierten schneller und aggressiver als erwartet. Sie zwangen selbst friedlich gestimmte Deinoiden wie Ataho zu gewaltsamen Aktionen. Dann lichtete sich der Nebel in seinem Kopf und der nüchterne Verstand übernahm wieder die Oberhand.

»Dann müssen wir schneller vorgehen«, erwiderte er und warnte Cetan über Funk.

Sie hatten in den Frachtmaschinen die mobilen Funkgeräte auf die Anführer verteilt. Die Antwort von Cetan kam prompt.

»Haben wir auch schon gemerkt. Die Menschen erkennen nicht, wie aussichtslos ihr Widerstand ist«, sagte er und unterbrach anschließend die Verbindung.

Ataho war der letzte Deinoide an Bord des Shuttles, denn seine Artgenossen hatten den Kampf gegen angreifendes Bodenpersonal aufgenommen. Mit einem verzweifelten Knurren sprang er auf den Betonboden und überflog die Situation in unmittelbarer Nähe. Schnell erkannte Ataho, dass die eigentliche Gefahr von zwei bewaffneten Star Marshalls ausging. Das restliche Bodenpersonal war nicht wirklich bewaffnet, wenn man von unterschiedlichen Werkzeugen in ihren Händen absah. Doch die beiden Marshalls waren erprobte Kämpfer, die mit ihren Patrouillenschiffen regelmäßig gegen gefährliche Piraten oder Schmuggler antraten. Ataho eilte zu einem anderen Deinoiden, der ungeschickt an der Impulswaffe des zweiten Sicherheitsmannes aus dem Shuttle herumfummelte.

»Warte. Hör mir zu!«, befahl Ataho, als der Deinoide nicht sofort auf ihn reagierte.

»Wir müssen diese beiden Marshalls ausschalten. Nur sie sind gefährlich«, erklärte er dann und zeigte auf die Männer, die links und rechts neben ihrem Patrouillenschiff kauerten.

Sie wechselten sich geschickt mit dem Feuern auf die Deinoiden ab, sodass diese in Deckung gezwungen wurden. Ataho zeigte dem anderen Deinoiden, wie sie sich bewegen mussten, um hinter das Shuttle zu gelangen.

»Du übernimmst den Schützen an der linken Seite. Verstanden?«, fragte er.

Zufrieden registrierte er die bittere Entschlossenheit auf dem Gesicht des Deinoiden. Sie mussten einen großen Bogen laufen, doch aufgrund ihrer hervorragenden Beinmuskulatur konnten sie die Distanz in sehr hohem Tempo bewältigen. Nur zwei Minuten später zielte Ataho bereits auf den Star Marshall, der rechts neben der Frontpartie des Patrouillenschiffs kauerte.

»Werfen Sie die Waffe weg!«, rief er, da er ihm nicht ohne Warnung in den Rücken schießen konnte.

Der Marshall zuckte erkennbar zusammen, bevor er zur Seite hechtete. Kaum kam sein Körper auf dem Boden auf, drehte der Mann sich um die eigene Achse und zielte mit dem Impulsgewehr auf Ataho. Der verfolgte das gekonnte Manöver mit unterschwelliger Anerkennung, während er gleichzeitig den exakten Moment zum Feuern abpasste. Die Mündung des Gewehrs zeigte noch nicht vollständig in Atahos Richtung, als der blaue Wirbel den Marshall erfasste und innerhalb eines Augenblicks tötete.

»Meiner ist ebenfalls erledigt«, meldete sich der andere Deinoide.

Verblüfft registrierte Ataho die Härte in dessen Stimme. Schon jetzt stand sein Vorhaben, mit den Menschen in Verhandlungen zu treten, vor dem Aus. Sie waren zum Töten gezwungen worden, doch das würden Juri Wassirev und seine Mitarbeiter naturgemäß völlig anders sehen. Ataho drehte sich um und wurde so Zeuge, wie die Techniker der Bodenmannschaft überwältigt und kampfunfähig gemacht wurden. Er zeigte auf die Shuttles.

»Wir müssen schleunigst zum Kontrollgebäude, bevor die Menschen es außer Funktion setzen«, rief er und rannte bereits los.

Zu ihrer Vorbereitung hatte es gehört, sich heimlich mit der Technik von Raumschiffen sowie Shuttles zu beschäftigen. Die Menschen hatten sich wenig um die Deinoiden gekümmert, solange diese wortlos ihre Sollzahlen schafften. Was sie während ihrer freien Zeit auf den Asteroiden machten, interessierte die Aufseher wenig. So konnten Deinoiden unbemerkt an Bord von Shuttles gehen und sich mit der Bedienung vertraut machen. Ataho eilte hinüber zum Shuttle, mit dem sich normalerweise Techniker auf dem Raumflughafen bewegten. Zusammen mit vier Deinoiden stieg er ein und setzte sich auf den Sitz des Piloten. Es würde sein Erstflug werden und Ataho konnte nur hoffen, dass er das Shuttle nicht gegen eines der Raumschiffe steuerte oder schlicht das Kontrollgebäude rammte.

*

Die Meldung vom Raumflughafen riss Li Anderson aus einer langweiligen Verwaltungsarbeit. Er passte jede Woche das Schichtsystem der Wagrier, wie die paramilitärischen Einheiten der Hanse genannt wurden, auf dem Firmengelände neu an, damit möglichst keine Routine aufkam. Das blinkende Icon auf dem Monitor brachte Anderson dazu, umgehend im Kontrollzentrum des Raumflughafens anzurufen. Der leitende Kontroller meldete sich mit vor Angst vibrierender Stimme.

»Die Digger töten wahllos Techniker und jeden Menschen, der ihnen über den Weg läuft. Eine Gruppe von ihnen ist bereits ins Kontrollzentrum eingedrungen. Schicken Sie uns umgehend die Wagrier!«, brüllte Karol Simanek.

Die Bildleitung war schlecht. Immer wieder lösten sich die Gesichtszüge Simaneks auf oder ganze Ausschnitte des Monitors wurden grell ausgeleuchtet. Anderson glaubte sich verhört zu haben. Es hatte in der Vergangenheit kleinere Zwischenfälle mit Diggern gegeben, deren Programmierung offenbar fehlerhaft gewesen war. Doch das was Simanek hier andeutete, erschien Anderson schlicht unmöglich.

»Ich kann Sie nur sehr schlecht verstehen. Wiederholen Sie. Was ist passiert?«, hakte er deswegen nach.

Für einen kurzen Augenblick gab es keine Störungen, sodass Simanek gut zu erkennen war. Mit einer fahrigen Geste schleuderte er etwas weg, ohne dass Anderson es genauer zuordnen konnte. Hatte er es womöglich mit einer seltenen Form von Raumkrankheit zu tun?

»Raus! Verschwindet, ihr Kreaturen«, rief Simanek, wobei sein Gesicht sich vor Angst verzerrte und lange Speichelfäden aus dem Mund flogen.

»Beruhigen Sie sich. Niemand will …«, setzte Anderson an, um mitten im Satz abzubrechen.

Ungläubig schaute er auf drei Digger, die von der Kamera am Monitor des Kontrollers eingefangen wurden. Als Nächstes waberte ein blaues Licht auf und voller Entsetzen musste Anderson die Todesschreie von Karol Simanek mit anhören. Die Leitung zum Raumflughafen wurde abrupt unterbrochen. Fassungslos lehnte Anderson sich zurück und starrte auf den leeren Monitor vor sich. Dann sprang er auf und schnappte sich ein Funkgerät. Im Laufen informierte er Major Keith Tomlin, den Bataillonskommandeur der Wagrier über die Situation auf dem Raumflughafen. Die Soldaten mussten umgehend aufbrechen, um die Lage zu prüfen und die Kontrolle zu übernehmen.

»Der zweite Zug bleibt zur Sicherung des Firmengeländes hier. Leutnant Sorotkin ist ab sofort Ihr Ansprechpartner«, reagierte Major Tomlin sofort auf die veränderte Lage und meldete sich dann ab.

Als Li Anderson ins Büro von Juri Wassirev stürmte, ruckte dessen Kopf verärgert in die Höhe.

»Was fällt Ihnen denn ein?«, rief er.

In wenigen Sätzen informierte Anderson den Leiter der Niederlassung der NEO-Hanse über das Gespräch mit Simanek sowie die Bilder, die er selbst gesehen hatte. Wassirev erbleichte und schüttelte dann den Kopf.

»Das kann nicht sein, Anderson. Es darf nicht sein«, kam es fast im Flüsterton über seine fleischigen Lippen.

Wassirevs Verstand weigerte sich, die Tatsachen zu akzeptieren. Doch nach und nach trafen immer mehr Meldungen über die Geschehnisse auf dem Raumflughafen ein. Eine Gruppe von Technikern war mit einem Shuttle geflohen und setzte einen Notruf ab. Auch einem der Piloten war es gelungen, noch eine Funkmeldung abzusetzen. Sie riss jedoch mitten in seiner Schilderung der unglaublichen Vorfälle ab, was kein gutes Zeichen war.

»Ich habe bereits Tomlin in Marsch gesetzt. Die Wagrier sollten die Situation schnell wieder in den Griff bekommen«, sagte Anderson.

Nach kurzer Überlegung schickte Wassirev ihn hinüber in die Halle mit den frisch gezüchteten Klonen.

»Sorgen Sie dafür, dass dort alles ruhig bleibt. Wir können nicht riskieren, dass diese Digger uns ebenfalls aus dem Ruder laufen«, befahl er.

Li Anderson wäre lieber persönlich zum Raumflughafen aufgebrochen, um sich ein vernünftiges Bild zu machen, aber er fügte sich der Anweisung. Zehn Minuten später eilte er über eine breite Treppe hinauf zur Galerie, die sich an den Wänden der Halle mit den Zylindern entlang zog. In regelmäßigen Abständen gingen Türen ab, in denen die Techniker ihre Büros hatten. Auf den ersten Blick wirkte alles so wie immer.

*

Die Menschen reagierten völlig kopflos. Kaum drangen Ataho und seine Begleiter ins Kontrollzentrum ein, brach Panik aus. Obwohl den Menschen die Kämpfe auf dem Flugfeld nicht verborgen geblieben sein konnten, kam es zu keinem organisierten Widerstand.

»Sie versuchen, die Systeme zu blockieren«, rief einer der Deinoiden.

Er eilte mit drei weiteren auf Türen zu, durch die soeben Techniker verschwunden waren. Seine Einschätzung war überzeugend, weshalb Ataho zu jedem Büro ein Team aus zwei Deinoiden beorderte. Er selbst wollte den Leiter des Kontrollzentrums lebend in die Hände bekommen, um endlich eine Verhandlungsbasis aufbauen zu können. Ataho winkte einen Deinoiden zu sich und orientierte sich an einem Grundriss aus dem Bordsystem des Frachtschiffes. Sie mieden die Aufzüge, die sich zu leicht als Fallen erweisen konnten. Im Eiltempo jagten die beiden Deinoiden die Treppen hinauf ins vierte Stockwerk, in dem sich mehrere Büros von leitenden Angestellten befanden. Als Ataho durch die Treppenhaustür auf den Gang trat, schwante ihm Böses. Keine der Bürotüren war geschlossen, einige stark verbogen. Der Geruch nach verschmorten Kunststoffen und verbranntem Fleisch ließ Ataho reflexartig die Luft anhalten.

»Wo ist Karol Simanek?«, fragte er kurz darauf einen Deinoiden, dessen Overall diverse Risse und Brandflecke aufwies.

Mittlerweile hatte sich Atahos empfindliche Nase an den üblen Geruch gewöhnt. Der ausgestreckte Zeigefinger lotste ihn in das Büro des Leiters des Raumflughafens. Atahos Blick wanderte über stark beschädigte Konsolen, aus denen Funken sprühten und blaue Rauchfahnen aufstiegen. Drei Menschen lagen seltsam verkrümmt am Boden. Mit einem Seufzer ging Ataho neben einem kompakt gebauten Mann in die Hocke, packte seine Schulter und drehte den Körper so, dass er ins das verwüstete Gesicht von Simanek schauen konnte.

»Der Typ hat die Niederlassung der NEO-Hanse gewarnt und wollte einfach nicht aufhören, als ich es ihm befahl«, erklärte der Deinoide, dessen Stimme nicht die geringste Spur von Reue enthielt.

Es wurde immer deutlicher. Alle Vorsätze Atahos und der gemäßigten Deinoiden wurden von aggressiven Artgenossen hinweggefegt, die gegen sich wehrende Menschen mit brutaler Unnachgiebigkeit vorgingen. Mit einem weiteren Seufzer ließ Ataho die Schulter los und erhob sich.

»Wir müssen alle Konsolen so schnell wie möglich wieder funktionsfähig machen. Die dafür erforderlichen technischen Pläne könnt ihr im System abrufen«, befahl er und sperrte seine Enttäuschung innerlich weg.

Eine halbe Stunde später war der Widerstand der Menschen gebrochen. Mehr als ein Dutzend von ihnen bezahlten mit ihrem Leben. Es war nicht mehr zu erwarten, dass Juri Wassirev sich zu Verhandlungen bereit erklärte. Ataho und die anderen Anführer versammelten sich in einem Büro, in dem es keine Kämpfe gegeben hatte.

»Wir müssen davon ausgehen, dass Wassirev uns die Wagrier auf den Hals hetzen wird. Sie sind gefährlich und nicht so leicht wie die Techniker zu überwinden. Ich schlage vor, dass wir umgehend mit dem Aufbau von einem Verteidigungssystem beginnen«, schlug Ataho vor.

»Dann glaubst du also auch nicht mehr an die Möglichkeit von Verhandlungen, die uns den Weg zu einer friedlichen Koexistenz mit den Menschen ebnen?«, fragte Denali überrascht.

Mit einer umfassenden Bewegung schloss Ataho den gesamten Raumflughafen ein.

»Nach diesem Fiasko? Nein. Wir haben Menschen getötet und damit die geringen Chancen auf irgendwelche Verhandlungen gründlich zerstört. Ab jetzt werden wir kämpfen. Wir müssen die Menschen nachhaltig davon überzeugen, dass wir ihnen überlegen sind, aber nicht die Macht an uns reißen wollen«, führte Ataho aus und registrierte das Wechselspiel in den Mienen der anderen Anführer.

Während sie den Aufruf zum Kampf begrüßten, stellten sie sich aber nicht hinter Atahos Ansicht, keine führende Rolle einnehmen zu wollen. Er ahnte, dass auch dieser Punkt in seinem persönlichen Wertesystem keine Umsetzung finden würde. Keines seiner Ziele würde erreicht werden.

*

Als Leutnant Lew Sorotkin das Büro des leitenden Technikers betrat, fiel sein Blick zuerst auf den drahtigen Mann mit asiatischen Gesichtszügen. Sorotkin wusste, dass Li Anderson der Leiter des Sicherheitsdienstes war und ein enger Vertrauter von Juri Wassirev. Umso mehr wundert er sich über dessen Anwesenheit in der Produktionshalle für Digger.

»Es gibt Vorkommnisse, die uns zu einer erhöhten Aufmerksamkeit auch in diesem Bereich veranlassen«, erklärte der Techniker, während er mit einer fahrigen Bewegung seine Brille mit einem Tuch polierte. In Zeiten, in denen die meisten Menschen sich optimierte Implantate leisten konnten, wirkte es wie ein gewollter Anachronismus.

»Von welchen Ereignissen sprechen Sie?«, hakte Sorotkin nach.

Bevor er eine Antwort erhielt, meldete sich Major Tomlin auf der rein militärischen Frequenz. Mit einer entschuldigenden Geste zog Sorotkin sich ein Stück zurück, um seinem Vorgesetzten zu lauschen. Dessen Anweisungen ließen seinen Blick verwirrt zu Anderson springen.

»Verstanden. Ich organisiere die umfassende Sicherung des Geländes mit Schwerpunkt Verwaltungsgebäude und Produktionshalle«, bestätigte Sorotkin, bevor er die Verbindung kappte.

»Da haben Sie Ihre Antwort, Leutnant. Ihre Aufgabe wird es sein, die noch nicht aktivierten Digger in den Zylindern im Auge zu behalten«, sagte Anderson mit einem kühlen Lächeln.

Während der Techniker zusehends nervös reagierte, blieb der Sicherheitsleiter äußerlich total gelassen. Noch machte Anderson sich scheinbar keine großen Sorgen.

»Am besten räumen wir die Halle und meine Leute sichern die Behälter«, sagte Sorotkin.

Das entschiedene Kopfschütteln des Technikers überrascht ihn.

»Nein, so geht es nicht. Wir müssen alle 150 Behälter ununterbrochen überwachen. Die Klone sind besonders in diesem Stadium sehr anfällig«, wehrte der entschieden ab.

Sorotkin warf Anderson einen Blick zu, doch der schwieg.

»Wird denn hier nicht alles automatisch überwacht und gesteuert?«, wollte Sorotkin wissen.

Es folgte ein zähes Ringen um das weitere Verfahren, bis zwischen dem Techniker und Soldaten endlich ein Kompromiss gefunden war. Eine Kernmannschaft unter Führung des leitenden Technikers würde in der Halle bleiben. Sorotkin seinerseits stellte zwanzig seiner Kämpfer für die Kontrolle innerhalb der Produktionsstätte ab, sodass ihm noch jeweils ein Dutzend Soldaten zur Sicherung des Verwaltungsgebäudes und der Außensicherung zur Verfügung standen. Bevor er das Büro des leitenden Technikers verließ, wandte Sorotkin sich nochmals an Li Anderson.

»Wieso haben Sie mich nicht unterstützt?«, fragte er.

Erneut blitzte das kühle Lächeln im Gesicht des Agenten der Hanse Security auf.

»Ich wollte sehen, wie Sie sich schlagen«, erwiderte er schließlich.

Für solche Psychospielchen hatte Sorotkin wenig übrig. Er sparte sich jedoch einen passenden Kommentar. Mit einem verächtlichen Kopfschütteln wandte er sich um und verließ das Büro. Zehn Minuten später bezogen die schwer bewaffneten Wagrier die ihnen zugewiesenen Stellungen. Schon als Lew Sorotkin seine Gruppenführer um sich versammelte, waren die Gerüchte über den Aufstand der Digger am Raumflughafen durchgedrungen. Entsprechend nervös waren die Soldaten.

 

Zum Roman