Leseprobe – Der Torus


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Kapitel 1

Mars, Pumpenstation östliche Region, 11. August 2615

Er hatte sich diese abgelegene Station mit Absicht ausgesucht. Ty Hawkins war froh, mit dem gestohlenen Raumschiff bis zum Mars gekommen zu sein. Seine Kenntnisse über die Transitionstechnik waren beschränkt. Bisher konnte Ty sich auf die Piloten verlassen, die mit Unterstützung komplizierter Rechenprogramme die exakten Zielkoordinaten für den Hyperraumflug festlegten. Dieses Mal musste Ty sich allein auf die Berechnung des Bordcomputers verlassen, den er gleich zweimal die Koordinaten in der Nähe des Mars hatte festlegen lassen. Hinzu kam, dass die Tarnvorrichtung bei Weitem nicht so reibungslos funktionierte, wie die Wissenschaftler es gegenüber Kaspar Beringson behauptet hatten. Die ehemalige Pumpenstation, die noch aus der Zeit der ersten Terraformingphase stammte, lag weit genug von New Danzyg oder dem Raumflughafen entfernt, um eine zufällige Entdeckung der Shadow Dancer weitgehend auszuschließen. Insgesamt hielt das Äußere, welches Ty mit einem Rochen verglichen hatte, aber sein stummes Versprechen. Das Schiff war ausgesprochen schnell, sehr wendig und verfügte über starke Waffen, die von einer hochmodernen Bordelektronik gelenkt wurden.

»Alles noch nicht völlig ausgereift, aber mehr als ich mir zu erträumen gewagt hätte«, gestand Ty sich ein.

Die Shadow Dancer stand nur zehn Meter vom Eingang zur Pumpenstation entfernt, sodass er sich nur kurz im Freien aufhalten musste. Hier existierte keine schützende Kuppel wie über dem Stadtgebiet von New Danzyg. Daher musste Ty auch für diese kurze Strecke in den Raumanzug schlüpfen. Sobald er die Schleuse passiert hatte, nahm er den Helm ab und konnte normal atmen. Ty kannte die Station noch aus der Zeit, in der er auf sich allein gestellt leben musste. Das ausgedehnte Tunnelsystem aus der Anfangszeit der Marsbesiedelung diente vielen Menschen als Unterschlupf oder sicherer Weg, um den Häschern der Stadtpolizei oder der Hanse zu entgehen. Dieses Wissen war jetzt von unschätzbarem Wert für Ty, der ungesehen zu Shenmis Apartment gelangen wollte. Später musste er vermutlich alte Kontakte neu beleben, um seine Ausrüstung zu verbessern. Dank des gut gefüllten Creditkontos von Isac Nyland, dessen Identität er noch eine kurze Weile benutzen wollte, was Ty einigermaßen liquide.

»Wenn ich Glück habe, existiert noch die alte Lore, mit der die Wartungstechniker damals hier unten gefahren sind«, dachte Ty sich.

Er stieß die Stahltür auf, die von der eigentlichen Pumpenstation in eine der Versorgungsröhren führte. Das minimale Vibrieren, welches durch seine Schuhsohlen drang, entlockte Ty ein schmales Lächeln. Es wirkte vertraut und löste Erinnerung an seine Vergangenheit aus. Doch es war die falsche Zeit zum Träumen. Ty wurde von Agenten der Hanse Security gejagt, stand auf allen Fahndungslisten der Wagrier und war in den Augen des Beringson-Clans ein übler Dieb. Wer so viele Feinde hatte, sollte seine Sinne ständig wach halten und sich nicht in Traumwelten verlieren. Ty stapfte fast zwei Kilometer in westliche Richtung, bis er auf eine Ladestation stieß. Beim Anblick der Lore, die dort unter einer dünnen Staubschicht auf ihren nächsten Einsatz wartete, spürte Ty Erleichterung in sich aufsteigen. Bis in die Slums von New Danzyg waren es über dreißig Kilometer, die er ungern zu Fuß bewältigen wollte.

»Jetzt muss nur noch das Antriebssystem intakt sein«, murmelte Ty, während er neben der Lore in die Hocke ging.

Zehn Minuten später erhob er sich zufrieden, denn die supraleitenden Spulen waren genauso tadellos in Ordnung wie die Permanentmagneten. Es gab keinen Grund, warum die Lore ihn nicht in kürzester Zeit zu seinem Ziel bringen sollte. Statt einer stundenlangen Wanderung genügte Ty jetzt eine Fahrt von wenigen Minuten. Er klappte die Haube zurück, die den Liegeplatz für den Monteur zugänglich machte. Diese Loren konnten immer nur eine Person transportieren und boten keinerlei Komfort. Man quetschte sich in einen Sitz in liegender Position, schloss die Haube und gab dann die Zielkoordinaten der nächsten Ladestation ein. Dort luden sich die leistungsfähigen Akkus auf, die lediglich für die Stromversorgung an Bord erforderlich waren. Sobald Ty die Haube über sich geschlossen hatte, aktivierte der Computer auf der Innenseite davon das Bedienfeld. Durch Berühren des entsprechenden Symbols des Zielortes wurde der Start ausgelöst. Obwohl Ty früher häufig auf dieses Fortbewegungsmittel zugegriffen hatte, überraschte ihn die schnelle Beschleunigung doch wieder. Es verschlug ihm buchstäblich den Atem. Mit einem sanften Ruck stoppte die Lore an einer Ladestation unterhalb des Newaprospekts. Ty kletterte aus der Lore. Dabei überprüfte er aufmerksam seine Umgebung und nahm erst die Hand vom Griff der Mara45, als er sicher sein konnte, dass niemand sein Eintreffen beobachtet hatte.

*

Erde, Paris, Quartier La Villette, 11. August

Es lag schon länger zurück, dass Lydia hier gewesen war. Das Quartier hatte mehrere Verwandlungen durchlaufen. Aus einer Ansammlung übelriechender Schlachthöfe wurde 1974 nach und nach ein elegantes Viertel mit Ladengeschäften sowie Apartmenthäusern. Im Verlaufe der Ressourcenkriege wurden die meisten Geschäfte aufgegeben und dem Verfall überlassen. Das war im 23. Jahrhundert der Anlass, warum Gangsterclans wie der von Lydias Vorfahren sich hier eingenistet hatten. Die Forcards bewiesen aber einen besonderen Überlebensinstinkt, denn sie erkannten die Zeichen der Veränderung. Antoine Forcard führte seinen Clan aus dem reinen Gangsterdasein in eine moderne Unternehmerfamilie mit exzellenten Verbindungen zur NEO-Hanse. Ab dem Jahr 2450 arbeitete die Familie eng mit dem Konzern zusammen, um das Quartier La Villette erneut einem Wandel zu unterziehen. Als Lydia unter den Arkaden an den Schaufenstern vorbeischlenderte, staunte sie über die gekonnt installierten Holoflächen. Auf den ersten Blick wirkte alles so, als wenn der Betrachter einen Sprung zurück ins 21. Jahrhundert unternommen hätte. Schaufensterpuppen trugen die neuesten Kreationen der Haute Couture und kleine Werbeflächen übertrugen Filme mit Models, um den Kunden ein lebendigeres Bild der jeweiligen Mode zu vermitteln.

»Was verschlägt dich denn hierher?«, fragte eine dunkle Männerstimme.

Es sprach für Simon Forcard, dass Lydia seine Annäherung nicht bemerkt hatte. Er war vier Jahre jünger als sie und führte seit einem Jahr einen Teil der Geschäfte. Genau den, der für Lydia jetzt von größtem Interesse war. Es gab keine innige Geschwisterliebe zwischen ihnen, aber bisher hatte Simon sie nie wie eine Aussätzige behandelt, so wie es der größte Teil des Familienclans tat. Ein Forcard durfte jederzeit Geschäfte mit der Hanse machen, aber nicht in ihre Dienste treten. Das war unter ihrer Würde.

»Ich denke, das hat sich bereits bis zu dir herumgesprochen«, erwiderte Lydia.

Die dunkelblauen Augen ihres Bruders forschten in ihrem Gesicht. Noch zeigte Simon nicht, ob Lydia auf seine Unterstützung hoffen durfte oder er sie aus dem Viertel jagen würde. Nachdem Shenmi sie mit nach Paris genommen hatte, trennten die beiden Frauen sich. Lydia wollte nicht, dass die aparte Asiatin wusste, wohin sie wollte. Daher trieb Lydia sich einen kompletten Tag in der Seine-Metropole herum, um so ihre Spuren zu verwischen. Einmal musste sie sich vor einer Patrouille der Wagrier verstecken, die sich normalerweise nicht so offen durch die Straßen bewegten. Lydia ahnte, dass es ihretwegen war und konnte daher nicht sicher sein, dass Simon ihr helfen würde.

»Dann stimmt es also. Meine große Schwester hat sich gegen die Hanse entschieden. Es geschehen noch Zeichen und Wunder«, erwiderte er mit einem frechen Grinsen.

Dadurch wurde die sowieso schon große Ähnlichkeit mit dem früheren, charismatischen Anführer des Clans noch mehr hervorgehoben. Nahezu jedes männliche Mitglied der Forcards eiferte dem großen Antoine nach, doch Simon wirkte schon äußerlich wie der legitime Nachfolger. So war es nicht von Geburt an gewesen. Simon hatte einen riesigen Betrag an Credits ausgegeben, um mittels genetischer Eingriffe sein Aussehen dem von Antoine Forcard anzugleichen. Lydia zuckte mit den Schultern.

»Blieb mir nichts anderes übrig, Simon. Ich muss jetzt wissen, ob ich auf den Schutz des Clans bauen kann oder nicht«, sagte sie.

Das Grinsen erlosch. Erneut trat der forschende Ausdruck ins Simons Augen. Dann trat er plötzlich vor und küsste Lydia auf beide Wangen.

»Natürlich, meine Liebe. Komm. Wir sollten es den Spionen der Hanse nicht zu einfach machen. Auch wenn Madame Fedorovas Vögelchen ihr längst deine Ankunft gemeldet haben«, rief Simon und führte Lydia am Arm ins Geschäft.

Er nickte einer grell geschminkten Frau zu, die erschrocken aufsprang. Mit einem Wink scheuchte Simon sie weg. Er lotste Lydia an dem Verkaufstresen vorbei, der ebenfalls dem Vorbild aus der Vergangenheit nachempfunden worden war. Dann blieb er vor einer kaum sichtbaren Tür stehen und hielt eine ID-Karte vor eine winzige Linse. Gleich danach fand Lydia sich in einem kahlen Gang wieder, der zu einem Gewirr von Gängen im gesamten Quartier gehörte. Hier konnte man sich unbeobachtet bewegen. Es gab immerhin noch einen beträchtlichen Geschäftszweig, von dem die Forcards nicht wollten, dass Außenstehende zu viel davon wussten. Eine Minute später stiegen die Geschwister in eine Kabine, die maximal sechs Personen aufnehmen konnte. Damit schwebten sie hydraulisch in hoher Geschwindigkeit, abwechselnd vertikal und horizontal, durchs Viertel.

»Meine Stimme hat Gewicht. Dennoch wird der gesamte Rat darüber entscheiden, wie es mit dir weitergehen soll«, erklärte Simon.

Sofort hob Lydia abwehrend eine Hand hoch.

»Ich will keine komplette Eingliederung. Vielmehr will ich herausfinden, wer uns die Falle gestellt hat und ihn dafür zur Rechenschaft ziehen«, widersprach sie.

Der Ausdruck in Simons blauen Augen wurde kühler.

»Du kannst dich nicht nur auf die Familie berufen, wenn du unsere Hilfe benötigst. Jeder leistet hier seinen Teil und das wirst auch du müssen«, stellte er fest.

Darüber war Lydia sich schon klar. Aber sie wollte selbst festlegen, wie umfänglich ihre Bindung zukünftig aussehen sollte. Eine vollständige Unterordnung kam für Lydia nicht mehr in Betracht. Der Lift kam mit einem kaum wahrnehmbaren Ruck zu Halten. Simon stieg aus und als Lydia ihm folgte, musste sie kurz innehalten. Seit ihrem letzten Besuch im Viertel, der bereits über zwei Jahre zurücklag, hatte Simon offenbar die Verbindungen zwischen den Gebäuden erheblich ausbauen lassen. Es kam überraschend für Lydia, dass sie ohne Übergang auf einmal direkt in der riesigen Eingangshalle der Familienvilla standen.

»Ich halte es für wichtig, dass wir ungesehen kommen und gehen können. Falls du es vergessen haben solltest, unsere führende Rolle im Quartier ist nicht unumstritten«, sagte Simon.

So war es schon immer gewesen. Dieses ewige Ringen um die führende Position im Quartier und speziellen Geschäftszweigen der turbulenten Stadt hatte Lydia zur Flotte getrieben. Sie wollte nicht immer auf der Hut sein, da irgendwelche Konkurrenten es auf alle Clanmitglieder abgesehen hatten. Lydia entging nicht die Ironie ihrer aktuellen Situation.

»Also alles beim Alten. Gewissermaßen«, erwiderte sie trocken.

Ihr Bruder schüttelte den Kopf.

»Nein. Deine Abkehr von der Hanse ist beileibe nicht die einzige Veränderung, Lydia. Du wirst gleich erkennen, was ich damit meine«, erwiderte Simon.

Er führte sie in einen der multifunktionalen Räume, in denen sowohl Konferenzen als auch Feste abgehalten werden konnten. Simon ließ Lydia den Vortritt. Ihr Blick fiel sofort auf den Rücken eines Mannes, der auf ein Hologramm schaute. Simon schloss hinter ihnen die Tür, woraufhin der Gast des Hauses sich umwandte. Lydia fuhr erschrocken zurück. Vor ihnen stand Sven Beringson.

»Hallo, Lydia. Offenbar war dir nicht bewusst, dass dein und mein Clan seit geraumer Zeit sehr einträgliche Geschäfte miteinander abwickeln«, begrüßte er sie mit falscher Jovialität.

»Geschäfte, die keine Störungen vertragen«, ergänzte Simon.

Ein Eisklumpen breitete sich in Lydias Magengrube aus.

*

Mars, New Danzyg, Camero-District, 12. August

Es hatte sich schnell herumgesprochen. Tys Kontaktleute wussten bereits, dass er ein gesuchter Mann war. Sie verlangten entweder hohe Aufschläge für Informationen oder ließen sich schlicht verleugnen. Die Credits auf Isac Nylands Konto schmolzen viel schneller zusammen als er erwartet hatte. Viel hatte Ty jedoch nicht erfahren können. Vor allem ein Tipp war aber sein Geld wert gewesen. Nur deshalb war Ty gewarnt, dass die Wohnung von Shenmi unter Beobachtung stand. Er wusste mittlerweile, nachdem er sich den gesamten gestrigen Tag in der Nähe herumgetrieben hatte, wer der Beschatter war. Der Kerl war auffällig tätowiert, mittelgroß und hager. Noch konnte Ty nicht sagen, wer ihn auf Shenmis Apartment angesetzt hatte. Doch das sollte sich bald ändern. Der Beschatter war ein Profi, der nicht den Fehler beging, sich immer am gleichen Beobachtungsposten aufzuhalten. Ty nahm sich viel Zeit, um unbemerkt in den Rücken des Hageren zu gelangen. Jetzt war es soweit. Ty sprang vor und drückte dem tätowierten Mann die Mündung der Mara45 ins Kreuz.

»Keine falsche Bewegung, sonst verteile ich deine Innereien über die Wand«, warnte er.

Der Beobachter stand still, ohne jedoch allzu erschrocken zu wirken. Nerven hatte der Bursche, wie Ty innerlich einräumte.

»Und? Wie geht es nun weiter?«, fragte der Hagere.

Seine Stimme klang unbeteiligt. Ty krauste verwundert die Stirn. Irgendetwas lief hier anders als er es sich vorgestellt hatte. Sein erster Gedanke war, dass es ein Backup geben musste. Doch den zweiten Beschatter hätte er während der stundenlangen Observierung entdecken müssen. Wieso blieb der Typ dann so gelassen?

»Wir machen einen kleinen Spaziergang«, erwiderte er.

Der Hagere wandte leicht den Kopf, um Ty ins Gesicht sehen zu können. Aus der Nähe konnte man das Narbengeflecht unter der großflächigen Tätowierung erkennen. Die Augen wirkten so dunkel und kalt wie die eines Reptils.

»Du legst dich gerade mit den falschen Leuten an, Hawkins. Hast du noch nicht genug Feinde?«, wollte der Hagere wissen.

Also hatte er tatsächlich auf Ty gewartet. Demnach musste der Hagere auch wissen, mit wem er es zu tun hatte. Es schien ihn jedoch kaltzulassen. Ty erhöhte leicht den Druck mit der Waffe.

»Da du weißt, wer ich bin, gibt es keine Missverständnisse. Los, Bewegung. Durch die Tür ins Treppenhaus«, befahl er.

Sie standen an der Brüstung eines ums gesamte Gebäude führenden Außenganges. Alle Wohntürme waren nach dem gleichen Schema gebaut worden. Auf jeder Ebene gab es einen Verbindungssteg, um von einem Haus zum anderen zu kommen. Der Hagere hatte sich zwischen den verschiedenen Häusern hin und her bewegt, um weniger aufzufallen. Ty passte den Zeitpunkt ab, als seine Position dicht an dem Steg war, der unmittelbar gegenüber von Shenmis Apartment lag. Nachdem er seine Anweisungen verkündet hatte, trabte der Hagere los. Die ganze Zeit rechnete Ty mit einem Überraschungsangriff, doch der blieb aus. So gelangten sie zur Eingangstür von Shenmis Wohnung.

»Wenn du dich so gut auskennst, müsste dir der Zugangscode auch bekannt sein«, stellte Ty fest.

Alles sprach in seinen Augen dafür, dass der Hagere ein Agent der Hanse Security war. Der wischte mit der Hand übers Touchfeld neben der Tür, woraufhin das Display zum Leben erwachte. Ohne zu zögern, tippte der Hagere eine Buchstaben-Zahlen-Kombination ein. Ty sah sich bestätigt. Als sich ein Schleier über seine Augen legte, schüttelte er verwundert den Kopf. Hilflos musste er zusehen, wie der Hagere sich umdrehte und die Waffe an sich nahm. Ty war nicht imstande, sich dagegen zu wehren. Seine Knie gaben mit einem Mal nach und wenn der Beschatter nicht seinen Arm gepackt hätte, wäre Ty vermutlich einfach umgefallen. Der Typ verfügte über erstaunliche Kraft, denn er hielt Ty mit einer Hand fest und tippte mit der Rechten gleichzeitig einen neuen Code ein. Sekunden später schob er Ty ins Apartment und verriegelte hinter sich sofort wieder die Tür. Dann führte er den wehrlosen Ty ins geräumige Wohnzimmer, drückte ihn auf einen Stuhl nieder und zauberte elektronische Fesseln aus seiner Jacke hervor.

»Du wirst noch eine Weile benommen sein, aber ich gehe prinzipiell kein Risiko ein«, erklärte der Hagere.

Er behielt Recht. Ty konnte sich kaum wachhalten, während der Mann ins Arbeitszimmer ging. Dort führte er offenbar ein Gespräch über seinen Kommunikator, doch Ty konnte den Inhalt nicht verstehen. Wer immer auch der Bursche war, er war ein höchst gefährlicher Mann. Ty ärgerte sich darüber, wie leicht der Hagere ihn hatte austricksen können. Erst nach gut zehn Minuten klärte sich nicht nur sein Blickfeld, sondern auch alle anderen Sinne kehrten zurück. Ty prüfte den Sitz der Fesseln, doch wie erwartet, hatte der Hagere sie korrekt angelegt. Ohne Hilfe würde Ty sie nicht abstreifen können.

»Ah, du bist wieder ganz der Alte. Hier, trink das«, sagte der Hagere.

Er hielt Ty ein Glas an die Lippen, der nach kurzem Zögern gierig trank. Das kalte Wasser erfrischte ihn und sein Mund war nicht mehr so trocken, als hätte Ty seit vielen Stunden nichts mehr getrunken. Vermutlich eine Folge des geruchlosen Betäubungsgases, das über einen speziellen Türcode versprüht worden war.

»Wer bist du? Agent der HS?«, fragte er dann.

Der Hagere stellte das fast geleerte Glas auf dem Couchtisch ab, ohne zu antworten. Dann zog er einen der schmalen Clubsessel heran und setzte sich Ty gegenüber. Der Blick seiner schwarzen Augen war voller Neugier und Selbstsicherheit.

»Was hast du hier zu suchen, Hawkins? Wolltest du nachsehen, ob deine Freundin hier ist oder sie nur ein wenig berauben?«, fragte der Hagere schließlich.

»Ich suche sie. Von hier aus kann ich über eine sichere Verbindung in Kontakt mit ihr treten«, erwiderte Ty.

Er nannte auf Nachfrage sogar den speziellen Zugang, den Shenmi für ihn eingerichtet hatte. Erst in diesem Augenblick erkannte Ty, dass das Gasgemisch noch hinterhältigere Wirkungen als bislang angenommen hatte. Offenbar enthielt es eine Droge, die ihn am Lügen hinderte.

»Schau an. Da muss ich wohl noch ein Gespräch führen. Lauf nicht weg. Ich bin gleich zurück«, sagte der Hagere.

Er stand auf und verschwand erneut im Arbeitszimmer. Vermutlich holte der Agent sich neue Anweisungen aus dem Hauptquartier der Hanse Security. Ty musste schleunigst etwas einfallen, wenn er den Abend überleben wollte. Doch der Hagere war ein cleverer Kerl, denn er hatte die elektronische Fessel mit dem Stuhl verbunden. Ty konnte sich zwar damit bewegen, aber nur sehr eingeschränkt. Trotzdem kämpfte er sich auf die Beine und suchte eine gute Angriffsstellung neben dem Tresen. Er würde nur eine Chance haben und die musste Ty unter allen Umständen nutzen. Der Hagere beendete sein Gespräch und kam aus dem Arbeitszimmer. Bevor er reagieren konnte, warf Ty sich mit voller Wucht gegen ihn. Sie gingen zusammen zu Boden. Ty versetzte dem Hageren einen brutalen Kopfstoß und wollte gleichzeitig sein rechtes Knie in die Genitalien des Mannes rammen. Doch der Hagere riss den Kopf zur Seite, wodurch er dem Stoß die größte Wirkung raubte. Gleichzeitig wand er sich wie eine Schlange, sodass der Tritt seine Hüfte und nicht die Weichteile traf. Bevor Ty einen weiteren Angriff starten konnte, sauste die Handkante des Hageren gegen seinen Hals. Übergangslos stürzte Ty in einen dunklen Schacht.

 

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