Leseprobe – Die Argos-Mission


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1.

Erde, Brügge, Hauptquartier der NEO-Hanse, 16. Juli

Äußerlich gelassen wirkend, saß Bao Shu am Kopfende des Tisches im Konferenzraum des Vorstandes. Innerlich brodelte es aber in ihm, da er nur zu genau wusste, welche Motive sich in Wahrheit hinter den Argumenten verbargen. Der Blick seiner dunklen Augen blieb zuerst kurz auf der stämmigen Gestalt von Igor Granat hängen, dem Oberbefehlshaber der Wagrier, wie die Kampfeinheiten der NEO-Hanse üblicherweise bezeichnet wurden. Er wollte mit aller Macht verhindern, dass bei der geplanten Erkundungsmission ein Interventionsteam der Hanse Security zum Einsatz kam. Nur deswegen beharrte Granat stur auf seiner Ansicht, dass ein Patrouillenschiff mit einem Zug Wagrier zum Asteroidengürtel aufbrechen sollte. Shus Blick wanderte weiter und blieb schließlich auf der schlanken Gestalt von Dana Fedorova hängen, die konzentriert irgendwelche Berichte auf ihrem Datenpad studierte. Dabei strich sie immer wieder eine der widerspenstigen braunen Locken aus dem Gesicht. Shu hatte sich längst ihrer Ansicht angeschlossen, dass die gemeldete Beobachtung eines unbekannten Raumschiffes mitten im Asteroidengürtel noch keinen Einsatz eines ihrer bewaffneten Patrouillenschiffe erforderte. Stattdessen wollte Bao Shu das Forschungsschiff Argos schicken, damit es mit seinen hoch entwickelten Sensoren und den an Bord befindlichen Wissenschaftlern nach dem Phantom suchen konnte. Für mögliche Außenmissionen wollte Shu ein Interventionsteam an Bord haben, damit die erfahrenen Kämpfer die Wissenschaftler beschützen konnten. Mit einem Räuspern sorgte Shu dafür, dass die leise geführten Gespräche am Tisch eingestellt wurden und Dana Fedorova das Studium der Nachrichten beendete.

»Wir müssen heute zu einer Entscheidung kommen. Nachdem auch unsere besten Medientechniker keine bessere Auflösung der Bilder der Außenkamera von NHC-17052 erzielt haben, müssen wir vor Ort nach dem unbekannten Raumschiff suchen«, sagte Bao Shu.

»Sofern es überhaupt noch dort ist«, warf Fedorova ein.

Sie hielt mühelos den giftigen Blick von Granat aus, der die versteckte Botschaft wohl vernommen hatte. Shu griff sie auf und verkündete damit seine Entscheidung.

»Richtig. Daher spreche ich die Empfehlung aus, zunächst die Argos zu entsenden und für mögliche Konfrontationen bei Außenmissionen mit einem Interventionsteam zu verstärken«, sagte er.

Sofort erhob Granat seinen Einspruch.

»Das ist doch viel zu riskant. Wenn es feindlich gesinnte Aliens sind, die sich im Asteroidengürtel herumtreiben, liefern wir ihnen unser modernstes Forschungsschiff auf dem Silbertablett aus. Ich bleibe bei meiner Meinung. Wir sollten die Wassirev hinschicken. Ein Patrouillenschiff kann den Gefahren weitaus besser begegnen und falls die Aliens eines unserer Bergwerke besetzt haben, verfügt Kapitän Borisov über ausreichend Wagrier, die er in den Kampf schicken kann«, wiederholte er seine Argumente.

Aus dem Augenwinkel registrierte Shu, dass dieses Mal nur noch zwei andere Vorstandsmitglieder zustimmend nickten. Sein deutliches Statement erfüllte somit seinen Zweck. Es gab eine Mehrheit für Shus Position, daher ließ er umgehend über beide Vorschläge abstimmen. Als Granat einsehen musste, dass er den Kürzeren ziehen würde, lehnte er sich mit verschränkten Armen zurück. Aus seinen blaugrauen Augen schossen Blitze in Fedorovas Richtung, die aber an ihrem unsichtbaren Panzer wirkungslos abprallten.

»Dann informiere ich umgehend Tyler Hawkins, damit er sein Team zusammenstellt. Der Kapitän der Argos kann es dann auf dem Mars einsammeln und von dort weiterfliegen«, erklärte sie.

Bei der zweiten Demütigung von Igor Granat schauten ihn einige Vorstandmitglieder verstohlen an. Es war ein Affront für ihn, dass Fedorova ausgerechnet den ehemaligen Offizier der Wagrier mit dieser Mission beauftragen wollte. Hawkins Abwerbung war ein Stachel, der immer noch tief in Granats Fleisch steckte. Doch der alte Soldat verfügte über eine eiserne Disziplin und bewahrte Haltung. Bei der nächsten passenden Gelegenheit würde Granat aber keine Sekunde zögern, es Fedorova heimzuzahlen. Bao Shu beendete damit die Zusammenkunft und eilte zurück in sein Büro. Er konnte sich darauf verlassen, dass sein persönlicher Assistent umgehend ein verbindliches Sitzungsprotokoll mit der Beschlussfassung ins System stellen würde. Pawel Saizew war sehr zuverlässig und ein glänzender Verwaltungsmitarbeiter. Shu vertraute ihm nahezu blind. Nicht völlig, aber das bezog sich nicht nur auf Saizew. Aus schmerzhafter Erfahrung hatte Bao Shu gelernt, niemand blind zu vertrauen. Besonders ein Mann in seiner Position konnte sich einen solchen Luxus niemals leisten, wenn er nicht eines Tages eine böse Überraschung erleben wollte.

*

Mars, New Danzyg, Camero-District, 17. Juli

Zuerst nahm Ty ihren Duft wahr. Als Shenmi neben ihn auf den schmalen Balkon trat, kitzelten einige ihrer langen Haare seinen nackten Oberkörper.

»Siehst du nach, ob dein Distrikt noch da ist?«, neckte Shenmi ihn.

Sie kannte Tys Vergangenheit. Seine leiblichen Eltern kamen bei einem Unfall mit der Magnetschwebebahn ums Leben. Da Ty keine anderen Verwandten auf dem Mars hatte, übernahmen zuerst Freunde von ihnen den dreijährigen Jungen in ihre Obhut. Ty verstand sehr schnell, dass seine Eltern tot waren. Ebenso erkannte er, dass niemand ihn wirklich komplett bei sich aufnehmen wollte. Ty wurde zu einem menschlichen Wanderpokal, der von einer Familie zur nächsten innerhalb der Slums gereicht wurde. Er lernte, sich schnell anzupassen und keine enge Bindung aufzubauen. Mit fünfzehn ging Ty seine eigenen Wege und wurde zu einem Kleinkriminellen. Überragende Reflexe und eine enorme Kraft sorgten damals dafür, dass er sich durchschlagen konnte.

»Dein Appartement ist einfach zu exklusiv für einen simplen Mitarbeiter der Hanse Security«, erwiderte er.

Shenmi lehnte sich an Tys Schulter. Der beständige Wind, hervorgerufen aus den Abgasen innerhalb der Schutzkuppel, wirbelte ihre pechschwarzen Haare leicht durcheinander, sodass ihr herzförmiges Gesicht mit den hoch angesetzten Wangenknochen teilweise verborgen wurde. Als Ty ihr sanft eine Strähne hinters Ohr schob, warf Shenmi ihm ein warmes Lächeln zu. Doch selbst in solchen Augenblicken verschwand der tieftraurige Ausdruck in ihren dunkelbraunen Augen nicht völlig. Ty erinnerte sich, wie er Shenmi zum ersten Mal bemerkt hatte. Es war in einer Kaschemme in Greater London gewesen, als diese Schönheit auf einmal von drei grobschlächtigen Kerlen umzingelt wurde. Doch bevor Ty sein Vorhaben, sie heldenhaft vor den Männern zu beschützen, in die Tat umsetzen konnte, sank einer bereits wimmernd in die Knie und sein Kumpan kippte gurgelnd nach hinten. Ty musste unwillkürlich bei der Erinnerung schmunzeln. Nie zuvor hatte er jemanden so gründlich unterschätzt. In der zierlichen Person steckte in Wahrheit ein gefährliches Raubtier.

»Darf ich erfahren, was dich in so gute Laune versetzt?«, wollte Shenmi wissen.

»Ich musste gerade an London denken, wo ich dich so gerne aus den Klauen der drei Typen befreit hätte«, erwiderte Ty.

Sie strich mit den langen Fingernägeln über eine Narbe an seiner rechten Schulter. Ty spürte, wie sich Erregung in ihm aufbaute. Seit einem Jahr waren sie nun schon ein Paar, wenn auch ein seltsames.

»Du bist auch so mein Held«, gurrte Shenmi.

Sie gab sich größte Mühe, ernst zu klingen. Doch Ty kannte ihren Humor nur zu gut und wusste mittlerweile, wann Shenmi ihn aufzog. Blitzschnell packte er ihr Handgelenk und stoppte die verführerische Bewegung der Finger. Es war keine sanfte Handlung, doch von Shenmi kam kein Laut des Protestes oder gar Schmerzes.

»Sagt die Frau, von der eine für mich nicht zugängliche Akte bei der Hanse Security existiert. Eigentlich weiß ich sehr wenig über dich, während mein Leben wie ein offenes Buch vor dir liegt«, beschwerte Ty sich.

Anfangs hatte er sie für eine Konkubine eines reichen Kaufmannes gehalten. Denn bei ihrer zweiten Begegnung in Greater London gehörte Shenmi zum Tross einer Handelsdelegation. Sie faszinierte Ty dermaßen, dass er die Gruppe beschattete und unbemerkt an ihrem Streifzug durch das Nachtleben teilnahm. Trotz seiner Erfahrung als Agent der HS wurde Ty von den Leibwächtern bemerkt und gestellt. Seine Überraschung war nicht klein, als er urplötzlich vor Dana Fedorova stand. Die Leiterin der Hanse Security war nicht amüsiert über seine Beschattung und drohte offen mit bösen Konsequenzen. Im nächsten Augenblick betrat Shenmi den Nebenraum in der Niederlassung der HS und musterte Ty neugierig. Dann nahm sie Fedorova zur Seite und raunte seiner höchsten Vorgesetzten einige Worte ins Ohr. Bevor Ty kapierte, was mit ihm geschah, fand er sich in der Nebengasse allein wieder. Kein Wort mehr über berufliche Konsequenzen, dafür aber eine elektronische Einladung von Shenmi.

»Sei froh, dass du nicht alle meine kleinen, schmutzigen Geheimnisse kennst. Ich bin es jedenfalls«, antwortete sie.

Dieses Mal schwang auch ein trauriger Unterton in ihrer Stimme mit. Sofort bereute Ty, dass er ihr wieder einmal zugesetzt hatte. Die knappe gemeinsame Zeit war viel zu kostbar, um sie mit kleinlichen Streitereien zu vergeuden. Er wusste, wie gut ihm Shenmis Gesellschaft tat und wunderte sich, wieso sie so eine Zuneigung zu ihm verspürte. Ty löste seinen Griff um ihr Handgelenk, führte Shenmis Finger an seine Lippen und küsste sie sanft.

»Du weißt, wie man mich gefügig macht«, murmelte sie.

Tys Lippen wanderte über den Arm hinauf zu ihrem Hals, knabberten an Shenmis Ohrläppchen, bevor er ihre vollen Lippen suchte. Der innige Kuss wurde wenige Sekunden später durch ein minimales Vibrieren an Tys Hand gestört. Überrascht warf er einen Blick auf das Display seines Kommunikators. Als Ty die seltene Kombination bei der Einstufung der Meldung registrierte, verflog die erotische Stimmung umgehend.

»8-21? Highest Urgency? Irgendwo brennt es«, stellte er verwundert fest.

In seiner zehnjährigen Zugehörigkeit zur Hanse Security hatte Ty erst einmal diese Kodierung auf seinem Kommunikator entdeckt. Damals ging es um den geplanten Anschlag auf das Hauptquartier der Hanse in Brügge. Shenmi zog sich diskret zurück, damit Ty die dazugehörige Nachricht ungestört abrufen konnte. Sie verwirrte ihn.

»Ich soll mich umgehend bei Anatoli Karashin melden? Um diese Uhrzeit hält sich der Leiter der Firmenniederlassung kaum freiwillig in seinem Büro auf«, murmelte Ty.

Er würde es bald erfahren. Zum Glück gab es in dieser Hinsicht keine Probleme zwischen Ty und Shenmi. Sobald es erforderlich wurde, trat jeder von ihnen zur Seite, damit der andere seinen beruflichen Verpflichtungen nachkommen konnte. Nachdem Ty sein Hemd und Jacke angezogen hatte, verabschiedete er sich hastig bei Shenmi und verließ das exklusive Appartementhaus im Camero-District.

 

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