Kapstadt, Zentrale der BRIACO, 2615
Ihre Schritte hallten auf dem glänzenden Marmorboden, obwohl Lyandra Bridges sich bemühte, leise aufzutreten. Wofür es keinen Grund gab. Sie war nicht in geheimer Mission unterwegs, musste sich nicht verstecken.
Es war einfach die Umgebung, die sie nervös machte. Sie fühlte sich unwohl. Es kam ihr vor, als würden die vorbeieilenden Menschen sie ansehen und von oben bis unten mustern.
Sicher, der eine oder andere Blick wurde ihr zugeworfen. Ihr feingeschnittenes Gesicht, das von schulterlangem, blauschwarzem Haaren umweht wurde, sorgte ebenso dafür, wie ihr sportlicher, schlanker Körper. Doch die Aufmerksamkeit, verflog, wenn das Auge des Betrachters ihre Kleidung in Augenschein nahm. Allerdings traf das nur auf diese Umgebung zu.
Ihr zweckmäßiger Raumanzug, den sie bei allen Einsätzen trug, passte nicht zu den Anzugträgern in der Zentrale der BRIACO. Er verriet, dass sie anders war als die Geschäftsleute. Und die blieben eben gern unter sich. Egal, wie hübsch das Gesicht ihres Gegenübers war.
Lyandra war es egal. Sie legte keinen Kontakt auf Bekanntschaften in dieser Szene, die vor Standesdünkel nur so trotzte. Dass sie im Endeffekt denselben Arbeitgeber hatte, spielte dabei erst recht keine Rolle.
Sie war hier, um ihren Auftrag entgegenzunehmen. Zumindest ging sie davon aus. Um etwas anderes konnte es sich nicht handeln. Normalerweise wurden ihr die Aufgaben übermittelt. Dass sie jetzt persönlich zu Jendram Prakash kommen sollte, verwunderte sie. Es musste sich also um einen ganz speziellen Auftrag handeln.
Aber um was für einen? So sehr sie sich ihren Kopf zerbrach, sie fand keinen Anhaltspunkt. Die Zwanzigjährige, die zu den jüngsten Schiffskapitänen der BRIACO gehörte, musste sich noch etwas in Geduld fassen.
Je mehr Kontrollpunkte sie passierte, desto leeren wurden die Gänge. Von Etage zu Etage sank die Zahl der Menschen, die eine Zugangsberechtigung zu den heiligen Hallen hatte.
Als sie im dreiundvierzigsten Stock aus dem Antigravlift trat, blickten ihr zwei dunkel gekleidete Wachmänner entgegen. Ihre Mienen verrieten nicht, ob Lyandras Auftauchen sie störte. Ihre Gesichter reglos, als wären sie aus Stein gemeißelt.
Lyandra zog ihre ID-Card hervor, der die Wachmänner ihre Berechtigungsstufe entnehmen konnten. Ihr Griff in die Tasche wurde misstrauisch beobachtet. Sie reichte dem kleineren der Männer die Karte. Er steckte sie in ein Lesegerät und schien mit der Überprüfung zufrieden zu sein, denn sie erhielt ihre Karte zurück. »Mrs. Silk wird Sie in Empfang nehmen«, sagte er.
Lyandra schritt durch den langen Gang, ohne den wertvollen Gemälden und Kunstgegenständen darin größere Aufmerksamkeit zu schenken. Das war nicht ihre Welt.
Kurz bevor sie die zweiflügelige Tür erreichte, hinter der Jendram Prakashs Refugium lag, wurde ihr geöffnet.
Eine ältere Frau im eleganten Hosenanzug trat heraus und betrachtete sie, während Lyandra ihr näher kam. Diesmal kam der Blick ihres Gegenübers wirklich einer Musterung gleich. Mrs. Silks Gesichtsausdruck war abschätzig wie immer. Es fehlte nur noch, dass sie eine Augenbraue hochzog und affektiert hüstelte.
»Mr. Prakash erwartet Sie bereits«, sagte Sylvana Silk anstelle einer Begrüßung. Sie war Prakashs Chefassistentin. Wie immer lag ein leicht schnippischer Unterton in ihrer Stimme. Als wäre Lyandra zu spät. Dabei war sie definitiv pünktlich.
Lyandra hatte schon bemerkt, dass die Silk vornehmlich Frauen mit dieser Ausdrucksweise bedachte. Vielleicht lag der Grund darin, dass das Alter die ersten Spuren an ihrem Körper hinterließ.
Mrs. Silk hatte die fünfzig hinter sich gelassen und war immer noch eine gutaussehende Frau. Sie war stets peinlich darum bemüht, jedes Anzeichen von Alterung zu verhindern. Ihr blondes Haar lag perfekt gestylt. Das Make-Up war dezent, konnte aber die kleinen Fältchen rund um die Augen nicht verdecken. Der sicher maßgeschneiderte Hosenanzug kaschierte ihre etwas zu breiten Hüften, dennoch konnte man erahnen, dass Sylvana Silk es verstand, das Leben zu genießen.
Der Zahn der Zeit nagt unaufhaltsam an dir, alte Schachtel, dachte Lyandra und musste sich ein Grinsen verkneifen. Sie hatte Mrs. Silk noch nie leiden können.
»Dann bringen Sie mich doch bitte umgehend zu ihm.«
Lyandra sprach es mehr als Aufforderung, denn als Bitte aus.
Kommentarlos wandte die Silk sich um und ging voraus, anstelle dem Gast den Vortritt zu lassen, wie es die Konventionen verlangten. Es war Lyandra egal.
Als sie über den tiefen Teppich schritt, in dem sie fast bis zu den Knöcheln einzusinken glaubte, sah sie sich um. Sie war fast ein Jahr nicht hier gewesen. Aber es sah alles noch genauso aus, wie in ihrer Erinnerung.
Selbst wenn draußen die Welt noch weiter untergeht, hier drinnen steht die Zeit still.
Mrs. Silk öffnete die Tür ins Allerheiligste. »Mr. Prakash? Mrs. Bridges ist da.«
»Sie möchte bitte hereinkommen«, hörte sie eine weiche Männerstimme.
Lyandra schob die Sekretärin zur Seite und trat, das empörte Schnauben von Mrs. Silk überhörend, in das geräumige Büro.
Die komplette Rückseite wurde durch eine gewaltige Fensterfront eingenommen. Von hier oben hatte man einen atemberaubenden Blick auf Kapstadt.
Etwa vier Meter vor der Scheibe stand der nicht minder beeindruckende Schreibtisch aus dunklem Holz, hinter dem Jendram Prakash saß.
Mrs. Silk wollte aufbrausen, doch Prakash gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie gehen konnte. »Es ist gut, Mrs. Silk. Vielen Dank.«
Die Silk warf ihr noch einen vernichtenden Blick zu und verschwand dann endlich. Als sich die Tür hinter ihr schloss, glaubte Lyandra, freier atmen zu können.
Prakash deutete auf einen der zwei Ledersessel, die vor dem Schreibtisch standen. Lyandra wählte den Linken und setzte sich. Ihr Chef schloss mit einer Handbewegung die Holodarstellung, die über der Tischplatte geschwebt hatte, und bot ihr mit seiner weichen Stimme etwas zu trinken an. Sie lehnte ab.
Prakash lächelte. »Wenn Sie gestatten, werde ich aber einen Drink nehmen«, sagte er, wie immer beinahe übertrieben höflich. Sie wusste nicht, ob es an seiner indischen Herkunft lag, aber ihr gefiel die Art des Mannes. Auch wenn sie manchmal etwas umständlich war.
»Natürlich, Mr. Prakash.«
Während er eins der bereitstehenden Gläser mit einer dunkel schimmernden Flüssigkeit füllte, musterte sie ihn. Sein glattrasiertes Gesicht war alterslos. Er hätte Anfang vierzig, aber auch bereits sechzig sein können. Der dunkelblaue Anzug war mit Sicherheit ebenso teuer wie der Ring, der seine linke Hand zierte.
»Sie haben keine Ahnung, warum ich Sie habe zu mir kommen lassen, richtig?«, unterbrach er ihre Gedankengänge.
Sie nickte.
Prakash nippte am Glas, seine Mundwinkel zuckten kurz zu einem anerkennenden Lächeln, das sofort wieder verschwand. »Sagt Ihnen X-Zeta-1 etwas, Mrs. Bridges?«
Lyandra wiederholte den Begriff in ihren Gedanken. Sie erkannte, dass es sich um eine astronomische Bezeichnung handelte. Was sich hinter ihr verbarg, wusste sie jedoch nicht. Es gab zu viele Planeten, Zwergplaneten und Asteroiden im All, die alle mit irgendwelchen Kürzeln versehen waren.
»Das hätte mich auch ein wenig überrascht, Mrs. Bridges. Vielleicht hilft es Ihnen weiter, wenn ich den Namen nenne, den X-Zeta-1 von seinen Bewohnern erhalten hat.«
Er trank einen kleinen Schluck, als wolle er die Spannung erhöhen. Tatsächlich fühlte Lyandra ein leichtes Kribbeln in der Magengegend.
»Sie nennen ihn Pulvis.«
»Pulvis? So wie Staub?«, fragte Lyandra nach, weil sie glaubte, sich verhört zu haben.
»Ganz recht. Und hier gilt durchaus Nomen est Omen, um im Latein zu bleiben. Pulvis ist nahezu ein Wüstenplanet.«
»Ich habe noch nie von ihm gehört.«
»Warum sollten Sie auch? Er ist unbedeutend.«
Lyandra beugte sich leicht vor und sah Jendram Prakash ins Gesicht. »Ganz unbedeutend kann er nicht sein. Sonst würden Sie sich nicht dafür interessieren.«
Er schenkte ihr ein kurzes Lächeln. »Sie haben recht. Es gibt durchaus etwas, dass uns an Pulvis interessieren könnte.«
»Uns? Die BRIACO?«
»Richtig.«
Prakash aktivierte ein Hologramm. Über dem Schreibtisch entstand das Abbild eines dunkelroten Planeten. Es erinnerte Lyandra von der Farbe her an den Mars. Am eingeblendeten Maßstab erkannte sie, dass Pulvis – denn darum musste es sich zweifellos handeln – einen etwas größeren Durchmesser als die Erde aufwies.
Damit endeten die Gemeinsamkeiten aber auch schon. Flüsse, Seen oder gar Meere waren auf der langsam um sich selbst rotierenden Kugel nicht zu entdecken.
»Wie ich bereits sagte, Pulvis ist ein Wüstenplanet. Wasser ist dort sehr kostbar für die wenigen hunderttausend Menschen, die es dort aushalten. Es wird durch eine Art Fracking gewonnen. Teuer und aufwändig. Die Schwerkraft auf Pulvis beträgt 1,3g.«
Lyandra stieß zischend die Luft zwischen den Zähnen aus. Wenn sie und ihr Team dort von Bord gehen sollten, würden sie den Druck deutlich auf ihren Schultern lasten spüren. Aber da vertraute sie auf Jacob Lyle. Ihr Technikass würde schon eine Lösung dafür finden. Hoffte sie zumindest.
»Die übrigen Daten, wie Temperatur, Tagesdauer und so weiter, bekommen sie noch übermittelt«, sagte Prakash.
Davon war Lyandra ausgegangen. Eine andere Frage lag ihr auf dem Herzen. »Was sollen wir dort für die BRIACO tun?«
Prakash stellte das Glas ab und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er legte die Fingerspitzen gegeneinander und ließ sich viel Zeit. Statt die Frage zu beantworten, griff er ein neues Thema auf.
»Bevor Sie mit ihrer Mannschaft aufbrechen, möchte ich Sie noch über eine Entdeckung in Kenntnis setzen, die ich für beachtenswert halte.«
Lyandra erkannte an seiner Tonlage, dass ihn das Thema umtrieb und er nach den richtigen Worten suchte. Sie gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass sie zuhörte.
»Im Bereich von Ceres sind unbekannte Energiesignaturen angemessen worden. Sie gehören eindeutig zu Raumschiffen, lassen sich aber keinem irdischen Typ zuordnen.«
Lyandra nickte erneut. Sie ahnte, was er damit andeuten wollte. Sein nächster Satz bestätigte ihre Vermutung.
»Es könnten die Schiffe eines anderen Konzerns sein, das sich nicht an die Abmachung bezüglich der Tarnvorrichtungen hält.« Er legte eine kurze Pause ein und sah sie fest an. »Oder es sind Aliens.«
Unwillkürlich schluckte Lyandra. Sie hatte es geahnt. Es ausgesprochen zu hören, war aber noch mal etwas anderes. Das Kribbeln in ihrer Magengegend verstärkte sich. »Und was glauben Sie, dass es ist?«, fragte sie.
Prakash zuckte mit den Schultern. »Uns liegen zu wenig Erkenntnisse vor. Ihr Flug führt sie zwar nicht in diese Gegend, aber mir war wichtig, dass Sie darüber informiert sind. Selbst wenn es keine Aliens sein sollten und nur die NEO-Hanse dahinter steckt.«
Aus Prakash sprach kein Ärger oder gar Wut. Falls er so etwas verspürte, hatte er sich gut unter Kontrolle.
»Was hat das Ganze mit Pulvis zu tun?«, wollte Lyandra wissen. Wenn es keinen Zusammenhang geben würde, hätte Prakash ihr nicht davon erzählt.
»Einen direkten Zusammenhang zwischen Pulvis und der Entdeckung des Torus gibt es nicht.«
»Und indirekt?«
»Wenn es die NEO-Hanse ist, dann hat sich technisch enorm aufgerüstet. Diesen Rückstand gilt es wettzumachen.« Erneut legte er eine kurze Pause ein, in der er einen Schluck aus seinem Glas nahm. »Pulvis hat reiche Vorkommen an wertvollen Mineralien und Erzen«, sagte er abschließend lapidar.
Lyandra verstand sofort, worauf er hinauswollte. Die BRIACO brauchte ein neues, gewinnbringendes Projekt. Aber warum Pulvis? Der Planet war ja nicht unbekannt. Und er hatte seit Ewigkeiten niemanden interessiert. Warum jetzt? Sie hakte bei ihrem Vorgesetzten nach.
»Sie wissen ebenso gut wie ich, dass der Abstand der BRIACO zu ihrem größten Konkurrenten, der NEO-Hanse, nicht größer werden darf.«
»Darum greifen wir nach diesem Strohhalm, Mr. Prakash?«
»Wenn Sie es so nennen wollen.« Er zuckte mit den Schultern. »Sie können sich durchaus als Vorhut ansehen. Überprüfen Sie, ob sich ein Engagement auf Pulvis für die BRIACO lohnen würde.«
Lyandra nickte. Eine Frage hatte sie aber noch. »Sie sagten, Pulvis wäre reich an Erzvorkommen. Warum ist der Abbau nicht längst vorgenommen worden?«
»Pulvis ist weit entfernt von der Erde. Dazu kommt die erhöhte Schwerkraft und der Staub, der Maschinen und Menschen angreift. Trotzdem war der Abbau geplant. Es kam nur etwas dazwischen.«
»Die Rebellion der Digger?«
Er nickte. »Haben Sie noch weitere Fragen, Mrs. Bridges? Ansonsten lasse ich Ihnen alle nötigen Daten übermitteln. Sie können sofort aufbrechen, wenn Ihr Schiff startklar ist.«
Sie nickte. »Für den Moment sollte ich alles wissen, oder?«
Er nickte ebenfalls, stand auf und reichte ihr die Hand.
Lyandra machte sich sofort auf den Weg. An Mrs. Silk stürmte sie grußlos vorbei. Sie hätte sich zwar gerne um den entdeckten Torus gekümmert, aber der Neo-Hanse eins auszuwischen, dafür war sie stets zu haben. Mehr noch: Sie liebte es! Darum beeilte sie sich, so schnell wie möglich zu ihrem Schiff zu kommen und ihre Crew über den Auftrag zu informieren.