Leseprobe – Hinter dem Schein


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Kapitel 1

Drei Jahre nach dem »Großen Deinoiden-Aufstand«
An Bord des Arbeitertransporters CRUTH

Funken sprühten und eine kleine Rauchfahne stieg aus der Steuerung empor. Viel zu schnell raste das alte Schiff auf den Planeten Gliese 667Cc zu.

»Verdammt!«

Captain Dylan Breen hieb wütend mit der Faust auf das Kontrollpult und zuckte vor Schmerz zusammen. Wenn es ihm nicht irgendwie gelang, den Transporter noch unter Kontrolle zu bringen, würde er auf der Oberfläche zerschellen und sie alle mit in den Tod reißen.

Mit der Hoffnung, dass die Kommunikationseinheit noch funktionierte, versuchte er eine schiffsweite Durchsage.

»Hier spricht der Captain! An alle Passagiere! Das Schiff ist außer Kontrolle! Ich werde eine Notlandung auf Gliese 667Cc durchführen. Bitte verhalten Sie sich ruhig! Captain Breen, Ende.«

Doch es war fast unmöglich, die CRUTH ruhig zu halten. Nach und nach versagte jedes der Systeme. Der Antrieb, die Stabilisatoren …

Diese gottverdammten Platten … diese gottverdammten Sparmaßnahmen … diese gottverdammte Verantwortungslosigkeit und Ignoranz der NEO-Hanse!, dachte er.

Die NEO-Hanse hat es geschafft, im 25. Jahrhundert die Grundlage für einen überlichtschnellen Antrieb in die Praxis umzusetzen, nachdem die Deinoiden auf einem Asteroiden große Vorkommen von Rhenium und Tantal entdeckt hatten.

Es war ihnen gelungen, Platten aus diesen beiden Elementen zu entwickeln, die in einem Casimir-Scharnhorst-Konverter die erforderliche Beständigkeit aufwiesen.

 Beim Casimir-Effekt wurde Strahlungsenergie in mechanische Energie umgewandelt und beim Scharnhorst-Effekt breiteten sich Lichtsignale zwischen zwei parallelen, leitenden Platten im Vakuum mit Überlichtgeschwindigkeit aus.

Jedes Raumschiff wurde seitdem mit zwei Generatoren nach diesem Prinzip bestückt. Der kleinere davon baute einen Schutzschirm um das Schiff auf, der vor Schäden durch Kollisionen schützte und gleichzeitig als Raumbremse funktionierte. Der größere Generator versorgte das Schiff mit der erforderlichen Energie einschließlich des Antriebs.

Beim Übertritt in die Überlichtgeschwindigkeit verließ das Schiff den bekannten Einstein-Raum und setzte seinen Flug im Kaku-Raum fort.

Das größte Problem dieser Methode war die schleichende Abnutzung der eingesetzten Platten. Wurden diese nicht regelmäßig ausgetauscht, so kam es zur vorzeitigen Materialermüdung und damit zum Verlust des Antriebs und in Extremfällen auch zum Zusammenbruch der gesamten Energieversorgung.

So wie jetzt.

Der Computer meldete mehrere Feuer und einen Hüllenbruch in einer der hinteren Sektionen.

Breen wischte sich fahrig den Schweiß von der Stirn. Einige der Anzeigen flackerten und verloschen ganz.

»Nein!« Er fluchte erneut. Versuchte dann eine Verbindung zur Kommandozentrale auf Gliese 667Cc herzustellen. »Mayday, Mayday! Arbeitertransporter CRUTH an Gliese 667Cc. Kommandozentrale, bitte kommen!«

Er lauschte angestrengt, doch er konnte nichts hören. Im besten Fall konnte er senden, aber nicht empfangen. Im schlimmsten Fall …

Aber er gab nicht auf.

»Ich wiederhole! Dies ist ein Notsignal! Arbeitertransporter CRUTH an Kommandozentrale. Das Schiff ist außer Kontrolle. Versuche Notlandung in Sektor 4. Erbitte Rettungsteam.«

Das Schiff war kaum noch steuerbar. Im Minutentakt meldete der Computer weitere Ausfälle und Beschädigungen.

Dumpf hörte Dylan aus dem Inneren des Schiffes Schreie und Lärm. Versuchte es auszublenden und sich auf die Landung zu konzentrieren.

Eine Deckenplatte über ihm löste sich und fiel krachend haarscharf neben seinem Kopf herunter.

Breen zuckte zusammen, dankte im Stillen Gott oder dem Schicksal und sah nach oben in ein Elektronik-Wirrwarr, von dem er nichts verstand. Und natürlich war kein Techniker vorne bei ihm.

Es stank bestialisch nach verschmorten Kabeln und irgendwas Geschmolzenes tropfte auf seine rechte Hand. Er schrie auf und wischte sich das Zeug hastig an der Hose ab.

Rauch bildete sich, der in seinem Hals kratzte.

Er hustete.

Das ganze Schiff bebte.

Breen sah auf das Display. Wenn der Kurs stimmte, dann würde die CRUTH mitten in Bakadevon abstürzen, einer Stadt mit mehr als zwei Millionen Einwohnern.

Gedanklich spielte Dylan alle Möglichkeiten durch, die ihm noch blieben. Doch es waren nicht viele.

Rettungskapseln hatte dieses Schiff nicht – aus Kostengründen. Denn Arbeiter waren billig und schnell ersetzbar. Nicht wert, bei einem Unfall gerettet zu werden. Eine Massenware, nicht mehr. Wie die Bauern in einem Schachspiel.

Da die Steuerung ausgefallen war, konnte er die CRUTH auch nicht woanders hin manövrieren, irgendwohin weit außerhalb der Stadt.

Er biss sich auf die Unterlippe, konnte, nein, wollte nicht wahrhaben, dass er nichts tun konnte, um all diese Leben zu retten.

Seine Gedanken rasten, sein Herz hämmerte gegen seine Brust.

276 Arbeiter waren an Bord, dazu viele Familienangehörige, Frauen und Kinder, und drei weitere Crewmitglieder, die im hinteres Teil des Schiffes festsaßen und ihm hier vorn nicht helfen konnten.

Er konnte nicht zulassen, dass sie starben. Er war der Captain dieses Schiffes. Er trug die Verantwortung. Sie vertrauten ihm.

Dylan blinzelte. Er wusste, er durfte sich jetzt nicht von Emotionen lenken lassen, sondern musste versuchen, klar zu denken, um eine Lösung zu finden.

Seine Hände glitten über das Kontrollpult. Er schnitt sich an der zerbrochenen Oberfläche und hinterließ Blutschlieren.

Im Geiste ging er den Bauplan des Transporters durch. Sah zwischendurch immer wieder auf die Geschwindigkeitsanzeige.

Schließlich leitete er alle Energie aus den Lebenserhaltungssystemen in das rechte Schutzschild um.

Es gab einen heftigen Ruck, der ihn auf das Kontrollpult schleuderte. Er hörte das Brechen einiger seiner Rippen und schlug mit dem Kopf irgendwo an. Ein Stöhnen entfuhr seiner Kehle. Blut lief ihm die Stirn hinab, das er unwirsch wegwischte.

Der plötzliche Gegendruck veränderte die Flugrichtung.

Das ganze Schiff quietschte und knirschte, erzitterte.

»Bitte …«, flüsterte er. »Bitte!«

Ein Riss bildete sich im Frontschirm.

Dylan sah die Oberfläche von Gliese 667Cc auf sich zukommen.

Der automatische Annäherungsalarm jaulte ohrenbetäubend. »Warnung! Warnung! Kollisionsalarm!«

Das Licht fiel aus. Stattdessen blinkte die Notbeleuchtung rhythmisch unheilvoll in Rot.

*

Andrew Breen konnte sich noch gut an den großen Aufstand der Deinoiden erinnern. Dieser war blutig und grausam gewesen und viele Zivilisten waren dabei umgekommen, auch sein Vater.

Er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Ein einfacher Hilfsarbeiter, der zwischen die Fronten geraten war. Der gestorben war, weil die Sicherheitskräfte rücksichtslos vorgegangen waren. Sie hatten lieber ein paar tote Zivilisten in Kauf genommen, als weitere Klone fliehen zu lassen.

Doch es war vergebens gewesen, die Überzahl der Aufständischen zu übermächtig.

Und so hatten die meisten von ihnen fliehen können. Hunderte, Tausende …

Sie hatten Tod und Vernichtung hinterlassen.

Zerstörung.

Chaos.

Für die Wirtschaft war es verheerend gewesen. Ihre Arbeitskraft fehlte an allen Ecken und Enden. In den Minen, in den Fabriken, in den Müllentsorgungsanlagen, in den Raumschiffwerften … Die Produktion der gesamten NEO-Hanse war fast vollständig zum Erliegen gekommen. Lebensmittel mussten in der Folge stark rationiert werden.

Es war schwer, die Arbeits-Klone zu ersetzen, die keinen Lohn bekamen, die jede Arbeit machten, egal wie gefährlich sie war. Die kaum ermüdeten, die ersetzbar waren. Die vor allem dort arbeiteten, wo es für Menschen schon fast unmöglich war zu überleben.

Zuerst zog die NEO-Hanse dafür Strafgefangene ran. Menschen, die sich nicht dagegen wehren konnten. Für einige von ihnen bedeutete die harte Arbeit einen frühen Tod. Die mangelhafte Versorgung in den Gefängnissen hatte sie bereits geschwächt und die Raumkrankheit mit ihren Symptomen wie Schwindelanfälle, Erbrechen, Desorientierung und psychische Instabilität sowie die schwere körperliche Anstrengung besorgte den Rest.

Doch es interessierte bei der NEO-Hanse und der Regierung niemanden. Diese Menschen waren entbehrlich.

Der Widerstand in den unteren Schichten war gering. Einige wenige Angehörige protestierten dagegen, reichten Klage ein. Ohne Erfolg.

Aber die Anzahl der Strafgefangenen reichte nicht. Auch nicht, als die Regierung jedes noch so kleine Vergehen bestrafte.

Und so lockte die NEO-Hanse mit Versprechungen die unterste Arbeiterschicht in die Kolonien. Sie stellte Unterkunft und eine gute Verpflegung sowie medizinische Betreuung in Aussicht, wenn sich die Menschen für mindestens fünf Jahre verpflichteten.

Den Menschen ging es schlecht und so nahmen viele diese angebliche Chance wahr.

So auch Andrew Breen mit seiner Familie. Er und Elisabeth hatten beide in einer der vielen Deinoiden-Zuchtstationen gearbeitet. Doch diese und die unzähligen Wohnanlagen waren bei dem Aufstand zerstört worden. Von heute auf morgen hatten sie ihre Existenz verloren. Ihre Wohnung, ihren Besitz, ihren Arbeitsplatz, ihre Zukunft.

Für ein paar Tage waren sie bei Freunden und Verwandten untergekommen, doch letztendlich waren sie im Slum gelandet. Tiefer konnte man nicht fallen. Hier lebten die Menschen vom Abfall der anderen. Von Diebstählen, vom Betteln und dem Wenigen, was die Regierung ihnen zugestand. Es war zu wenig zum Leben und zum Sterben zu viel.

Sie hatten alles versucht, um da raus zu kommen.

Doch es gab zu viele von ihresgleichen. Zu viele, die jeden Job annahmen. Die sich für die dreckigste Arbeit nicht zu schade waren.

Dann war das Angebot der NEO-Hanse gekommen. Sie hatten lange überlegt und diskutiert.

Fünf Jahre waren lang. Aber es war die beste Option, die sie hatten. Sie konnten zusammenbleiben, ihnen wurde ein Apartment versprochen, ein Schulplatz für ihren Sohn, feste Lebensmittelrationen, Kleidung, Impfungen.

Andrew sah sich in dem kleinen Quartier um, das sie sich mit einer anderen Familie teilen mussten. Sie hatten alles mitgenommen, was sie besaßen. Es war nicht viel. Ein Koffer für jeden von ihnen. Ein paar Kleidungsstücke, ein paar wenige persönliche Dinge.

Dylan hatte ihnen geholfen, so gut er konnte. Hatte sie finanziell unterstützt, ihnen Medikamente besorgt, wenn einer von ihnen krank gewesen war.

Es war jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen, auch wenn Dylan gut verdiente und sich kaum etwas leistete. Aber er konnte einfach nicht noch zusätzlich drei weitere Personen versorgen.

Wochenlang hatte er versucht, Andrew den Plan auszureden, als er davon erfahren hatte. Er hatte ihn einen Idioten genannt, hatte ihm von den Zuständen in den Minen erzählt. Hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um für ihn etwas anderes zu finden – vergebens.

Und so waren sie vor ein paar Tagen auf die CRUTH gegangen.

Das Schiff hatte schon von außen alt und klapprig ausgesehen. An vielen Stellen hatte er Ausbesserungen entdeckt.

Einzig die Tatsache, dass sein Bruder der Captain war, hatte ihn an Bord gehen lassen.

Er war stolz auf Dylan, der der Einzige in ihrer Familie war, der seine Träume wahr gemacht hatte. Er war Pilot geworden, Captain sogar. Schon als Kind hatte er davon geträumt, hatte Andrew nächtelang davon vorgeschwärmt. Sein ganzes Zimmer war voller Sternenkarten und Modellraumschiffen gewesen. Sogar von der uralten Fähre, mit der die ersten Menschen auf dem Mond gelandet waren, hatte er ein maßstabsgerechtes Modell stehen gehabt.

Und in der Schule war er natürlich in Astronomie der Klassenbeste gewesen.

Andrew selbst wäre lieber praktizierender Arzt geworden, so wie sein Onkel.

Aber der Bedarf an Wissenschaftlern in den Deinoiden-Zuchtstationen war enorm, denn die Nachfrage war groß und die Deinoiden teuer. Zudem galten die Arbeitsplätze dort als krisensicher. Jedenfalls bis zum großen Aufstand.

Er hatte dort an der Verbesserung der Fähigkeiten der Klone gearbeitet. Die NEO-Hanse hatte von Jahr zu Jahr immer mehr gefordert. Die Deinoiden sollten noch leistungs- und widerstandsfähiger werden.

Dabei waren sie den Menschen bereits weit überlegen. Sie waren doppelt so stark und die Arbeit unter Tage machte ihnen genauso wenig aus, wie bei klirrender Kälte oder großer Hitze. Auch Strahlung schien ihnen nicht zu schaden. Kurz: sie waren perfekt. Die Krönung der Schöpfung – wenn man davon absah, dass sie keine Fortpflanzungsorgane besaßen. Absichtlich natürlich. Dazu hatten sie durch ihre verbessere Genetik eine fast unvorstellbare Lebenserwartung.

Natürlich hatte es zu Beginn Kritik und Widerstand gegeben, einige Gegner waren sogar so weit gegangen und hatten gezielt Anschläge auf Wissenschaftler und Gebäude verübt.

Religiöse Vereinigungen hatten dagegen lautstark doch umsonst protestiert.

Schon allein die Menschenwürde verbiete es.

Es sei verwerflich, in Gottes Handwerk zu pfuschen.

Es sei ethisch unverantwortlich und eine Sünde, Embryonen zu töten, nur weil sie nicht irgendwelchen Ansprüchen genügten.

Es sei eine Geringschätzung menschlichen Lebens, eine Instrumentalisierung von Embryos. Moralisch nicht vertretbar.

Doch die NEO-Hanse konnte sich durchsetzen. Auch rechtlich. Mit einem Aufgebot an Anwälten gelang ihr das lange Unvorstellbare: Man entzog den Klonen sämtliche Menschenrechte. Sie wurden zur Sache deklariert. Die Besitzer konnten über die Deinoiden verfügen, wie sie wollten. Und wenn sie ausgedient hatten oder durch die hohe Strahlung nicht mehr hundertprozentig einsatzfähig waren, wurden sie entsorgt.

Überall gab es Rücknahmestellen. Hier wurden sie ausgeschlachtet wie Maschinen. Die noch funktionierenden Organe wurden ihnen entnommen und eingelagert für eine spätere weitere Verwendung.

Andrew seufzte leise.

Im Grunde hatte er damals noch Glück gehabt; damals, bei dem großen Aufstand. Wenn man das Überleben unter diesen Umständen so bezeichnen konnte.

Er hatte seinen freien Tag gehabt und war mit Elisabeth und Patrick im neuen Vergnügungspark gewesen …

Es war ein schöner Tag gewesen. Die Sonne hatte geschienen, sie hatten Eis gegessen und Molak, eine Spezialität von Kepler-442b. Sie waren mit den neuen Hyperdrivescootern gefahren und hatten sich im Zero-G-Turm treiben lassen.

Von dem Aufstand hatten sie erst am Abend erfahren, als es über alle Newskanäle lief. Die Nachrichtensender hatten tagelang kein anderes Thema gehabt.

Als er am nächsten Tag wieder ins Labor wollte, war das gesamte Gelände abgeriegelt. Überall standen Elektrozäune und schwerbewaffnete Sicherheitskräfte patrouillierten mit scharfen Wachhunden. Obwohl er sich auswies, ließ man ihn nicht auf das Gelände.

Fünf der acht Gebäude waren vollkommen zerstört gewesen, das konnte er sehen. Als wären sie in die Luft gesprengt worden. Was die Deinoiden auch tatsächlich getan hatten, wie er später erfuhr.

Überall draußen lagen Leichensäcke. Die Rettungsmannschaften waren noch immer dabei, die Verletzten und Toten zu bergen.

Die NEO-Hanse schickte alle Arbeiter nach Hause und gab erst zwei Tage später Näheres bekannt.

Andrew durfte anschließend, wie viele andere, ein letztes Mal zu seinem Arbeitsplatz. Oder besser zu dem, was noch davon übrig war.

Dunkle Flecken an den Wänden zeugten von dem Kampf, der hier stattgefunden hatte.

Die gesamte Einrichtung – ein einziges Trümmerfeld.

Seine Daten, die Ergebnisse jahrelanger Forschungsarbeit waren vernichtet. Unwiederbringlich. Denn auch das Backupsystem hatten die Deinoiden zerstört.

Er ging hinüber zum Labor, zu den Behältern mit der Nährflüssigkeit.

Die Scheiben waren eingeschlagen – einige von innen, andere von außen –, die Kapseln leer.

Andrew schloss für einen Augenblick die Augen.

Außerhalb der Kammern waren die meisten Klone noch nicht lebensfähig gewesen. Sie waren noch zu unreif, ihre Lungen noch nicht vollständig entwickelt.

Warum hatten sie das getan? Warum hatten sie ihresgleichen getötet? Wenn sie wirklich so intelligent waren, dann hatten sie es wissen müssen!

Der hintere Teil des Gebäudes war eingestürzt und hatte viele der Wissenschaftler begraben. Noch immer waren die Bergungsarbeiten nicht beendet. Mehr als zweihundert Menschen wurden noch vermisst. Man ging nicht davon aus, dass sie noch lebten.

An Dutzenden Wissenschaftlern hatten die Deinoiden – zumindest einige von ihnen – ein Exempel statuiert.

Sie hatten die Männer und Frauen getötet und verstümmelt und ihre Körperteile auf groteske Weise wieder angeordnet.

Einen Toten, einer der Pfleger, hatte sie in eine der Kammern mit Nährlösung gesteckt. Er war dort elendig ertrunken.

Einer betreuenden Ärztin hatten sie Reagenzgläser in den Körper gerammt. Dutzende.

All das hatte Andrew nicht selbst gesehen, aber davon gehört. Er wusste nicht, ob es stimmte, konnte es sich jedoch gut vorstellen.

Die NEO-Hanse hatte eine Nachrichtensperre verhängt und den Mitarbeitern verboten, darüber zu sprechen. Doch längst war bekannt geworden, was passiert war. Nicht nur auf der Erde, sondern überall, wo es Deinoiden-Zuchtstationen gab. Als hätten sie auf ein geheimes Signal reagiert.

Dylan hatte ihn einmal gefragt, warum er hier arbeitete. Er war ein Gegner des Klon-Programms, hielt sich mit seiner Meinung aber bedeckt. Nicht, dass sein Bruder sehr religiös war, aber er fand es für ethisch verwerflich, Menschen zu designen und ihnen die Rechte zu entziehen.

Manchmal fragte Andrew sich, woher er diese Einstellung hatte.

Sie waren beide mit den Deinoiden aufgewachsen, sie kannten die Situation nicht anders. Die Deinoiden gehörten zu ihrem Leben mit dazu, waren zumeist Arbeiter auf fernen Planeten und Monden, waren Gegenstände, über die man, oder besser die NEO-Hanse, einfach verfügte.

Sicher, wären sie früher geboren worden, zu Zeiten der Anfänge, dann hätte er es verstanden.

Andrew wusste, dass es auch jetzt noch kleine Gruppen gab, die dafür eintraten, dass die Klone ihre Menschenrechte zurückerhielten.

Es waren in seinen Augen Enthusiasten, die jetzt erst recht auf verlorenem Posten standen.

Was die Deinoiden getan hatten, hatte absolut nichts mit Menschlichkeit zu tun.

Sie hatten Menschen dahingemetzelt, ermordet. Hatten auch vor Zivilisten nicht Halt gemacht. Auf der Flucht der Klone waren mehrere tausend unschuldige Männer, Frauen und Kinder gestorben.

Die NEO-Hanse hatte sie mit hoher Intelligenz ausgestattet, denn sie mussten quasi in Eigenregie unter Aufsicht die gesamte Ausbeutung der Asteroiden vornehmen. Doch die Wissenschaftler hatten alle Areale in ihren Gehirnen gesperrt, die sie zu konstruktiven Planungen befähigten. Die Manager der NEO-Hanse wollten Wesen haben, die nicht über ihr Schicksal reflektierten. Und so implantierten die Wissenschaftler das Bakterium Deinococcus radiodurans. Diese selbst gegen radioaktive Strahlung resistente Lebensform wurde mit Unmengen von Informationen gefüllt, die dann den Klonen zur Verfügung standen. Zusammen mit einer extremen körperlichen Belastbarkeit war der perfekte Arbeitsklon entstanden.

Natürlich hatten die Forscher die Manager der NEO-Hanse davor gewarnt, dass diese Entwicklung noch sehr experimentell und nicht abgeschlossen war. Vergeblich, denn ihr Einsatz wurde gegen alle Bedenken umgehend angeordnet und bis zum Aufstand schien die Konditionierung auch bestens zu funktionieren. Die NEO-Hanse hätte sie auch niemals freigegeben, da ihr Einsatz den Vorsprung bis hin zur Vormachtstellung sicherte …

Andrew kehrte mit seinen Gedanken in die Gegenwart zurück.

Ein Ruck fuhr durch das Schiff. Es bekam Schieflage.

Elisabeth schrie erschrocken auf.

Beruhigend nahm Andrew sie in den Arm. »Alles gut. Dylan ist ein erstklassiger Captain und Pilot.«

Sie lächelte und nickte vertrauensvoll.

Ihr Sohn Patrick war bei einer anderen Familie zum Spielen. Für ihn war diese Reise ein Abenteuer. Er war zum ersten Mal in seinem Leben an Bord eines Raumschiffes. Vor dem Abflug hatte er nicht geschlafen und das Schiff hatte er mit geöffnetem Mund bestaunt, als sie es betreten hatten.

Doch das Geruckel wurde stärker.

Andrew krauste die Stirn. Irgendetwas stimmte nicht.

Dann erklang plötzlich der schiffsweite rote Alarm.

»Was ist los?« Ängstlich sah Elisabeth ihn an.

Andrew schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Komm, wir holen …«

Ein weiterer Ruck ging durch das Schiff. Es sackte ab. Dann fiel plötzlich die künstliche Schwerkraft aus. Die beiden trieben durch ihre Kabine. Es war ein seltsames Gefühl und Andrew wurde schlecht.

Doch so schnell wie die Schwerkraft verschwunden war, war sie auch wieder da. Elisabeth stürzte zu Boden, schlug sich den Kopf an. Blut lief ihr die Schläfe hinab.

»Beth!« Andrew rannte zu ihr, half ihr auf.

»Schon gut. Patrick! Bitte … Ich will zu ihm!«, flehte sie.

Andrew nickte und fasste sie an der Hand. »Komm. Wir holen ihn.«

Auf den Gängen herrschte das reinste Chaos. Verletzte lagen dort, auch Tote.

Er hörte Gesprächsfetzen.

»… Hüllenbruch …«

»… Verlust der letzten Sektion …«

»… antriebslos …«

»… nicht mehr unter Kontrolle …«

»… alle sterben …«

»… der NEO-Hanse egal …«

Eine Frau lief an ihnen vorbei. In ihren Armen hielt sie ein Baby, dessen Kopf nur noch eine breiige Masse war. Sie rief nach einem Arzt. Schrie um Hilfe.

Andrew sah kurz aus einem der Fenster – und das Blut gefror ihm in den Adern. Eine Leiche schwebte am Schiff vorbei und die CRUTH raste viel zu schnell auf Gliese 667Cc zu.

In ihm kam Panik auf. Er zog Elisabeth mit sich. »Komm! Schnell!«

Minuten später schlug das Schiff auf …

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