Leseprobe – Katorga11


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Kapitel 1

Weltraum, 20.000 Kilometer von Wolf 1061 c entfernt

Die Lage des als Katorga11 bezeichneten Straflagers überraschte nicht nur Ty Hawkins. Lange Zeit hatte Wolf 1061 c als der interessanteste Exoplanet gegolten, da sich der bewohnbare Gesteinsbrocken lediglich rund 13,8 Lichtjahre von der Erde befand. Außerdem verfügte die Atmosphäre über eine ausreichende Dichte, um die Wärme der Sonnenseite über den gesamten Planeten zu verteilen.

»Diese Tatsache wurde immer geleugnet«, staunte Lydia.

Auf der Brücke der Shadow Dancer studierte nicht nur sie die eingehenden Daten der Sensoren. Auch Ty und Che nahmen die Fakten mit einigem Erstaunen zur Kenntnis.

»Nichts Neues. Die Hanse lügt und betrügt, solange es ihren eigenen Zwecken dient«, kommentierte der Tätowierte.

Katorga, ein Begriff aus der Vergangenheit der Erde, war ein extrem gut gesichertes Straflager. Noch konnte Ty nicht einschätzen, ob die Nummerierung auf mehr ähnlicher Lager hindeutete. Er nahm es aber an. In grauer Vergangenheit hatte man Straflager für politische Gefangene als Katorga bezeichnet. Etwas Ähnliches erwartete Ty auf dem Planeten vorzufinden.

»Bei den Vorfahren der heutigen Russen war ein Katorga berüchtigt. Wer dorthin verbannt wurde, war dem Tode geweiht«, stellte Lydia fest.

Sie hatte die Angaben zu dem Straflager natürlich genauso sorgfältig studiert, wie Ty. Erst als er für die Transition die Zieldaten eingab, stieß er auf einen Irrtum. Als ihnen die Daten von Katorga11 übermittelt worden waren, verortete er das Lager in den Asteroidengürtel. Die umfangreiche Berechnung des Bordcomputers führte dann zu einem abweichenden Ergebnis, welches Ty in Zweifel zog. Auch Lydia und Che wollten eine zweite Berechnung, um nicht bei ihrem Eintreffen womöglich mitten in einem Asteroiden oder einer Sonne zu materialisieren. Erst dann trauten sie den Daten und erkannten, dass es vorher zu einem Übermittlungsfehler gekommen sein musste.

»Glaubst du immer noch an einen unglücklichen Zufall wegen der falschen Koordinaten?«, fragte Che.

Es war klar, worauf der Agent der Chimairis anspielte.

»Wir können nicht ausschließen, dass jemand im Umfeld der Vertrauensperson bei der Hanse etwas über unsere Mission erfahren hat und sie zu torpedieren versucht«, erwiderte Ty.

Ihn widerten diese politischen Intrigen mittlerweile dermaßen an, dass er sich selbst fragte, wieso er früher so blind den Anweisungen seiner Vorgesetzten bei der Hanse Security gefolgt war. Da hatte Che es leichter. Seine Tätigkeit als Agent der Organisation, die den Halb-Deinoiden zu einem gleichberechtigten Platz innerhalb der menschlichen Gemeinschaft verhelfen wollte, sicherte ihm ehrenwerte Motive. Jedenfalls auf dem ersten Blick. Mittlerweile bezweifelte Ty auch dies.

»Du hast es Shenmi gemeldet. Sie wird sich darum kümmern. Wir haben genügend eigene Probleme, die es zu lösen gilt«, warf Lydia ein.

Die beiden Männer schauten sich grinsend an. Der ehemalige Erste Offizier der Argos, dem modernsten Forschungsschiff der Hanse, nahm eine vergleichbare Funktion an Bord der Shadow Dancer ein. Angesichts einer Mannschaftsgröße von drei Besatzungsmitgliedern veranlasste es Ty und Che immer wieder zu milden Spott. Lydia bemerkte den Blickwechsel.

»Habe ich es schon wieder getan?«, fragte sie zerknirscht.

»Yes, Ma’am«, erwiderte Ty zackig.

Nach einem bösen Blick fiel Lydia ins Gelächter der beiden Männer ein.

»Wir werden unsere Besatzung zügig ausbauen, damit du deine Rolle als Erster Offizier mit mehr Leben ausfüllen kannst«, versprach Ty.

Danach konzentrierten sie sich wieder auf die Sensordaten. Das Straflager war viel größer als erwartet. Mit 1,5 Erdradien handelte es sich bei Wolf 1061 c um eine so genannte Supererde. Es gab dennoch nur eine Siedlung und viel Ödnis, doch das eigentliche Lager war leicht auszumachen. Es lag auf der Tag-Nacht-Grenze des Planeten, was Ty ein wenig verwunderte. Er machte seine beiden Begleiter darauf aufmerksam.

»So könnte ein Ausbrecher doch leicht auf der sonnenabgewendeten Seite untertauchen«, gab Ty zu bedenken.

Che wiegte skeptisch den Kopf.

»Ich kann es nicht genau begründen, aber die dunkle Seite strahlt eine merkwürdige Gefahr aus. Findet ihr nicht?«, fragte er.

Verwunderte überflog Ty die dazugehörigen Daten. Er fand nichts, was Ches Einschätzung untermauern könnte.

»Was genau meinst du denn damit? Ich kann nicht erkennen, welche besondere Gefahr auf der dunklen Seite existieren sollte«, erwiderte Lydia.

In der Nähe der Tag-Nacht-Grenze lag auch die Siedlung, die durch eine Magnetschwebebahn mit dem Lager verbunden war. Den Sensoren nach handelte es sich um eine Zone, in der Menschen gut leben konnten. Je weiter man dann von der Grenze entfernt war, umso extremer wurden die Lebensbedingungen. Das allein erschien Ty aber nicht als ausreichender Grund, dort eine spezielle Gefahr zu vermuten.

»Ich war schon auf vielen Planeten und Asteroiden. Mein Instinkt warnt mich und der hat mich noch nie getäuscht«, beharrte Che auf seiner Einschätzung.

Fast hätte Ty ihn gefragt, ob es mit seiner Abstammung von einem Deinoiden zu tun hätte. Er verkniff sich diese Bemerkung, da er Ches Reaktion vorausahnen konnte. Der Agent der Chimairis mochte nicht über sein Leben als Halb-Deinoid reden. Lydia und Ty akzeptierten es, auch wenn es ihnen oft schwerfiel.

»Wir werden bei unserer Expedition daran denken«, versicherte Ty.

Sie hatten bereits beschlossen, dass Ty und Lydia einen Ausflug auf den Planeten wagen mussten. Ohne genaue Ortskenntnisse wäre jede Befreiungsaktion viel zu riskant. Bis zum Eintreffen der Piraten unter Cassey Beringsons Kommando sollte ein präziser Plan entwickelt worden sein. Die vielen Schiffe in der Nähe von Katorga11 stellten ein viel zu hohes Wagnis dar. Überhaupt beschäftigte es Lydia sehr, wie wenig Sicherheitsvorkehrungen für einen Angriff aus dem All existierten. Doch die Sensoren zeigten bislang keine Abwehrsysteme oder eine Luftverteidigung an. Dieser Umstand bereitete Lydia zurzeit mehr Sorgen als eine nicht belegte Gefahr auf der dunklen Seite des Planeten.

*

Katorga11, 08. September, Stollen 137

Seine Schicht näherte sich endlich ihrem Ende. Seit sieben Monaten kratzte Torak Nool nun schon Cer2 aus dem Planeten. Dieses als seltene Erden bezeichnete Material kam mit einer Häufigkeit von maximal 30 Gramm pro Tonne im Gestein vor. Es musste zunächst geortet werden, wozu ein höchst riskantes, chemisches Verfahren eingesetzt wurde. Hierbei kam es nahezu wöchentlich zu schweren Unfällen, bei denen regelmäßig arme Hunde wie Torak ihr Leben einbüßten. Dank seiner Qualifikation als Ingenieur hatte man ihn jedoch an den Laserbohrer gesetzt. Diese Arbeit hatte einige Vorteile, die Torak mittlerweile sehr zu schätzen wusste.

»Wenn Oleg ahnen würde, was für ein Fachgebiet ich in Wahrheit habe, würde er mich in einen Stollen mit den Suchern verbannen«, dachte er nicht zum ersten Mal.

Bei seiner Ankunft wurde Torak wie jeder Neuankömmling gründlich untersucht und einer Schicht zugeteilt. Oleg war sein Schichtleiter und hatte sich die Personalakten offenbar nur flüchtig angesehen. Dem bulligen Alkoholiker genügte es völlig, dass bei Beruf die Bezeichnung Ingenieur stand und so erhielt Torak eine Einweisung am Laserbohrer. Neben der weniger kräftezehrenden Arbeit gab es weitere Vorzüge. So existierte ein Zugang über den Bordcomputer zum Hauptsystem. Die Rechteeingrenzung hatte Torak sehr schnell überwunden und schaute sich bereits in der zweiten Woche regelmäßig im gesamten System von Katorga11 um. Anfangs mit dem brennenden Wunsch, eine Fluchtmöglichkeit zu finden. Schon bald machte sich Ernüchterung breit. Bestenfalls käme eine Flucht aus dem Lager in Betracht, die Torak dann allerdings lediglich zum gejagten Ausbrecher auf dem Planeten machen würde. In der Siedlung gab es möglicherweise gnädige Seelen, die ihm helfen würden. Verstecken würde Torak sicherlich aber niemand und ein Überleben in Freiheit hatte so seine Tücken. Daher sann er bereits seit einigen Wochen über einen nicht ungefährlichen Fluchtplan nach. Dabei sollte ihm der Umstand helfen, dass sich Cer2 als flüssiges Metall in winzigen Adern durchs Gestein zog und bei unvorsichtigem Umgang mit dem Laserstrahl zu heftigen Reaktionen neigte. Toraks Vorgänger auf dem Bohrer könnte ein Lied davon singen, wenn ihn die Explosion nicht pulverisiert hätte. Es grenzte somit an Lebensmüdigkeit, eine vorsätzliche Auslösung mit dem Laserstrahl herbeizuführen. Doch bei solchen großen Zwischenfällen tauchte regelmäßig ein Raumschiff der Hanse auf Katorga11 auf, um die näheren Umstände zu untersuchen. Nicht nur Oleg, selbst der Leiter der gesamten Einrichtung geriet bei diesen Untersuchungsteams in einen Zustand heller Aufregung. Sollten die Ermittler zu dem Ergebnis kommen, dass die Explosion durch Schlamperei verursacht worden war, rollten Köpfe und das nicht nur im übertragenen Sinne.

»Und wieder ein Tag im hässlichsten Stollen des Kosmos überlebt«, brummte Torak.

Auf dem Hauptdisplay leuchtete die Uhrzeit in roten Intervallen auf und zeigte ihm, dass seine Schicht in fünf Minuten vorbei war. In der verbleibenden Zeit fuhr Torak das mächtige Gerät sehr vorsichtig im Stollen zurück, um es in der Zwischenstation an Franneck zu übergeben. Als er die gebeugte Gestalt des Maschinenführers von der Mondwerft erblickte, fragte Torak sich erneut, wie lange die angeschlagene Gesundheit Frannecks noch einen Einsatz auf dem Laserbohrer zuließ. Geschickt lenkte er das mächtige Gefährt an die Rampe, schaltete den Antrieb auf Leerlauf und kletterte behände aus dem Führerhaus. Oleg bestrafte jeden Fahrer mit brutaler Härte, der auf die wahnsinnige Idee verfallen sollte, den Bohrer wegen eines simplen Bedienerwechsels komplett auszuschalten. Dadurch verlor seine Schicht wenigstens eine Stunde der wertvollen Arbeitszeit und der Verlust im Abbau wurde zu einhundert Prozent auf Olegs Zuschläge angerechnet. Außerdem musste der Schichtleiter bei Bojan Tadic antreten und vor dem hatte jeder auf Katorga11 Angst. Als Leiter des Straflagers gehörte er zu den leitenden Angestellten der NEO-Hanse und verfügte über entsprechend viel Macht. Tadic setzte diese gnadenlos ein und bei einem Verlust durch ausfallende Bohrerzeit würde sein sowieso übles Temperament mit Sicherheit überkochen. Auch dieser Umstand sollte später im Fluchtplan von Torak eine gewisse Rolle spielen. Jetzt aber bereitete ihm das kranke Aussehen von Franneck einiges Kopfzerbrechen.

»Stehst du die Schicht überhaupt durch?«, fragte er.

Der ehemalige Maschinenführer aus der Reparaturwerft zuckte ergeben mit den knochigen Schultern.

»Es muss gehen, Torak. Ich kann mir keine Behandlung mehr leisten. Mir fehlt das erforderliche Zahlungsmittel«, erklärte er mit leiser Stimme.

Auch daran hatte er sich erst gewöhnen müssen. Falls einer der Gefangenen sich krankmeldete, musste er es zunächst bei Oleg tun. Der hatte so eine Art, dass man wirklich nur hinging, wenn es kurz vor Ultimo war. Dann durfte der Gefangene auf die Krankenstation und erhielt eine Behandlung. Sowohl der Arzt als auch die beiden Sanitäter hielten sich reichlich bedeckt mit dem Einsatz der Medikamente oder Geräte. Nur wer ihnen einen kleinen bis großen Obolus in die Hand drückte, kam in den Genuss einer echten Behandlung. Bei entsprechender Größenordnung der Bestechung sogar zu einer Krankschreibung mit Aufenthalt im Sanitätsbereich. Doch dafür benötigte ein Gefangener die erforderlichen Credits, die je nach Einsatzgebiet dürftig bis nahezu nicht vorhanden waren. In der Hierarchie gehörten Torak und Franneck zwar zu den mit am besten entlohnten Arbeitern, aber dennoch blieb ihr Creditkonto schlecht gefüllt. Jedenfalls wenn man sich mit ›White Dust‹ beziehungsweise gepanschtem Alkohol zeitweilig in ein besseres Dasein flüchtete oder so wie Franneck gesundheitliche Probleme hatte. Dann reichte der magere Lohn kaum, um diese Erfordernisse zu befriedigen. Torak wollte weder die gefährliche Betäubung noch war er krank. Entsprechend besser stellte sich sein Kontostand dar und er beschloss, davon einen Teil für Frannecks Medikamente anzulegen. Nicht nur, weil er dem Mann helfen wollte. Es waren durchaus egoistische Gründe, die Torak zu dieser Tat bewegten. Der Maschinenführer warf nie einen weitergehenden Blick ins Bordsystem des Laserbohrers. So blieben Toraks virtuelle Ausflüge unbemerkt, aber das mochte sich bei einem neuen Kollegen komplett anders darstellen.

»Halte durch. Ich besorge dir deine Medikamente. Komm zu mir, sobald deine Schicht vorbei ist«, wies er Franneck an.

Der hob verwundert den Kopf und forschte in Toraks Gesicht. Als er keine Anzeichen für einen bösen Scherz bemerkte, leuchteten seine Augen auf.

»Du bist ein guter Mensch, Torak«, sagte er.

Beklommen winkte der nur ab und eilte davon. Er fühlte Schuldgefühle in sich aufsteigen, da Franneck seine Motivation total falsch einschätzte.

 

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