Erde, Hauptquartier der NEO-Hanse, Brügge 6. Oktober 2615
Obwohl Dana Fedorova gegenüber Shenmi rundweg eine Änderung der bisherigen Vorgehensweise abgelehnt hatte, quälten die Leiterin der Hanse Security zunehmend Zweifel. Die Entdeckung der Energiesignatur in der nördlichen Region von Scandus war alarmierend. Doch die weitergehenden Beobachtungen des Jägers von Syberia hielt Fedorova für die Hirngespinste eines überforderten Mannes mit begrenzten intellektuellen Fähigkeiten. Daher hatte sie Shenmi zwar soweit zugestimmt, dass dem Vorhandensein der Signatur auf den Grund gegangen werden musste, aber eine Benachrichtigung des Vorstandes lehnte Fedorova rundweg ab. Die zurückliegenden Wochen schienen sie darin bestätigt zu haben, denn die Mannschaft der Shadow Dancer konnte bislang keine neuen Informationen liefern. Die Leiterin der HS studierte mit gefurchter Stirn die Meldung vom Kommandanten der Argos. Die Inspektion des Raumschiffes auf der Mondwerft war erfolgreich abgeschlossen worden und nun mussten neue Einsatzorders ergehen.
»Die Übereinstimmung der Energiesignatur im Asteroidengürtel mit der auf Scandus bleibt verdächtig«, murmelte Fedorova und nippte am aromatischen Cognac.
Die Flüssigkeit des hochprozentigen Getränks rann warm ihre Kehle hinunter und löste eine angenehme Explosion im Magen aus. Nachdenklich betrachtete Dana Fedorova ihr eigenes Spiegelbild im Display, während sie um eine Entscheidung rang. Natürlich hatte sie eine Meldung über die Informationen von Shenmi verfasst und sorgsam im System versteckt. Schließlich wusste man nie, wann Bao Shu durch andere Quellen davon erfuhr und dann musste Fedorova dem Vorstandsvorsitzenden der NEO-Hanse etwas präsentieren können. Dass die Leiterin der HS die Meldung als wenig wahrscheinlich qualifiziert hatte, erklärte die fehlende Übermittlung an Shu. Mit der Entsendung des Forschungsraumschiffes nach Scandus konnte Fedorova ihre Position weiter stärken. Zum einen musste sie sich nicht mehr ausschließlich auf die Erkenntnisse von Hawkins verlassen und zum anderen bewies sie damit, dass sie trotz großer Skepsis ihren Aufgaben mit der nötigen Sorgfalt nachging. Zufrieden mit dieser Einschätzung verfasste Dana Fedorova die Einsatzorder, die sie anschließend mit einem Dringlichkeitsvermerk an den Kommandanten der Argos versah. So war gewährleistet, dass Han Song sie unmittelbar nach ihrem Erscheinen auch lesen und bestätigen würde. Nachdem Fedorova diese Entscheidung gefällt hatte, konnte sie sich anderen Dingen aus ihrem Aufgabenbereich widmen. Unter anderem ging es um die leidige Angelegenheit des Piratenanführers, der als ›Korsar‹ bezeichnet wurde. Der dreiste Überfall auf Katorga11 hatte wie erwartet mächtige Wellen geschlagen und wurde besonders von Igor Granat gegen seine Widersacherin im Vorstand verwendet. Er hatte in allen Sitzungen immer wieder den Finger in diese Wunde gelegt und so Fedorovas Position untergraben. Es wurde Zeit, dem etwas entgegenzusetzen. Seit zwei Wochen arbeitete Dana Fedorova an einem Plan, wie man den ›Korsaren‹ in eine Falle locken und ergreifen konnte. Damit würde sie wieder ihr Punktekonto bei Bao Shu ins Plus drehen.
*
Scandus, nördliche Region, 6. Oktober
Die Aufgabe würde schwerer als erwartet werden. Ty Hawkins lehnte an einen Baumstamm und schaute hinüber zur Lichtung. Dort stand Rinat Arsal mit drei der Jäger zusammen, in dessen Gemeinschaft er sich hatte erholen können. Als er leise Schritte hinter sich vernahm, drehte Ty leicht den Kopf. Lydia nickte in Richtung Rinats.
»Läuft nicht so wie geplant, oder?«, fragte sie.
»Nein. Die Siedler wollen keinen Ärger mit dem Clan bekommen und unsere Anwesenheit ist daher wohl unerwünscht«, erwiderte Ty.
Sie hatten einfach nicht erwartet, dass die Suche nach dem Raumschiff oder dessen Energiesignatur so lange dauern würde. Immer wieder stieg das Shuttle auf und flog in festgelegten Sektoren Kontrollflüge. Doch nie entdeckten Che und Torak einen Hinweis auf das getarnte Raumschiff. Ihre Versuche, mittels Scanner den gut verborgenen Zugang zur Anlage im Bergmassiv zu finden, schlugen ebenfalls kläglich fehl. Als einer der Jäger urplötzlich einen wilden Satz nach hinten vollführte, sich in der Luft einmal um die eigene Achse drehte und dann in ein Gebüsch stürzte, flog Tys Hand zur Pistole im Halfter.
»Die Späher des Clans haben uns gefunden!«, stieß Lydia keuchend hervor.
Während Rinat sich einfach zu Boden fallen ließ, trafen die Geschosse aus einer Bündelladung den Oberkörper eines der Dorfbewohner. Die Angreifer töteten gnadenlos. Ty feuerte auf eine Gestalt, die er für den Bruchteil einer Sekunde hinter einem Felsbrocken ausmachen konnte. Steinsplitter flogen davon, doch der Angreifer bewegte sich weiter. Lydia hatte ein weiteres Clanmitglied entdeckt und schoss auf den Späher. Ihr Feuer verschaffte Rinat sowie dem dritten Jäger die nötige Zeit, um aus der Gefahrenzone zu gelangen. Ty suchte nach dem Angreifer, der sich anscheinend in östlicher Richtung nahe der Lichtung durchs Unterholz schlug. Er spürte tiefe Verbitterung in sich aufsteigen. Die Dorfgemeinschaft war nicht sehr groß und die wenigen Jäger sorgten für das Überleben in dieser harten Umgebung. Einer hatte mit seinem Leben dafür büßen müssen, dass Ty und seine Crew ihre Gastfreundschaft über Gebühr strapaziert hatten. Ein zweiter war verletzt worden. Da er sich aber aus eigener Kraft hatte in Deckung bringen können, bestand noch Hoffnung. Aus dem Augenwinkel registrierte Ty eine Bewegung seitlich hinter Lydia.
»Vorsicht! Sie haben uns umgangen«, rief er warnend und wirbelte bereits mit der Mara45 im Anschlag herum.
Noch bevor seine Bündelladung durchs Geäst des Strauches krachte, hinter den sich einer der Angreifer geschlichen hatte, bäumte der sich auf und stürzte in einer Korkenzieherbewegung zu Boden. Rinat kam mit grimmiger Miene hinter einem Felsen zum Vorschein. Der Jäger von Syberia hatte die List der Angreifer vorher durchschaut und konnte daher schneller reagieren.
»Das war knapp. Wir müssen weg von hier. Ich habe mehr als fünf Angreifer gezählt«, stellte Rinat fest.
Obwohl es Ty wurmte, stimmte er zu. Sie mussten wohl oder übel die Männer aus der Siedlung sich selbst überlassen. Vermutlich würden die Angreifer des Beringson-Clans aber eher der Besatzung der Shadow Dancer folgen, wodurch die Chancen der Jäger aus dem Dorf sich erheblich verbesserten.
»Ich habe das Notsignal abgesetzt«, sagte Lydia.
Damit alarmierte sie Che, mit dem Shuttle zum Ausweichpunkt zwei zu kommen und sie dort an Bord zu nehmen. Bis zu dem kleinen Felsplateau mussten Ty und seine beiden Begleiter allerdings noch gute vier Kilometer heil überstehen. Rinat übernahm wie selbstverständlich die Führung der Gruppe. Während seiner Rekonvaleszenz hatte er reichlich Gelegenheit gehabt, sich mit der Umgebung vertraut zu machen. Lydia folgte dem drahtigen Mann, während Ty den Schluss bildete. Sie schafften zwei Kilometer, ohne erneut in einen Kampf verwickelt zu werden. Dann hob Rinat warnend die Hand, sodass Lydia und Ty sich duckten. Keine Sekunde zu früh, Dort wo sich gerade noch der Kopf von Lydia befunden hatte, rissen die Geschosse ganze Stücke aus einem Baumstamm. Ty drehte sich im Uhrzeigersinn um sich selbst und dann brachte er blitzschnell die Mara45 in Anschlag. Instinktiv wählte er Einzelfeuer und jagte drei Kugeln in Richtung des Mannes, den er auf einer Anhöhe rechts von sich bemerkt hatte. Der gellende Schrei des Getroffenen führte zu einer langen Serie von Schüssen aus verschiedenen Richtungen.
»Sie haben uns den Weg versperrt«, rief Rinat.
Alle drei erwiderten das Feuer, während sie sich rückwärts bewegten.
»Hast du eine alternative Route für uns?«, fragte Ty.
Der drahtige Jäger nickte knapp und machte ihnen mit einer Geste klar, dass sie ihm folgen sollten. Dicht an dicht jagten sie durchs Unterholz. Immer wieder rissen Geschosse kleine Äste oder Rindenstücke aus den Bäumen. Ty fuhr sich automatisch mit der Linken über die Wange, als einige Aststücke die Haut ritzten. Dann stoppte Lydia vor ihm abrupt, sodass er sie um ein Haar über den Haufen gerannt hätte. Als Ty über ihre Schulter schaute, entfuhr ihm ein ungläubiger Ruf. Sein Blick erfasste den schnell fließenden Fluss, der sich unterhalb eines steilen Abhanges durch eine Schlucht schlängelte.
»Kommt es dir auch irgendwie bekannt vor?«, fragte Lydia anzüglich.
Gleich darauf sprangen sie schnell hintereinander in die Tiefe, da ihre Häscher zügig näherkamen.
*
Torus, Zentrale, 6. Oktober
Für Eyota und die anderen Deinoiden war es mittlerweile fast normal, sich auf dem Torus zu bewegen. Angesichts der stabilen Umweltsysteme beriet sie sich mit Wakiza, ob es nicht an der Zeit wäre, den größten Teil der Wissenschaftler permanent auf der Raumstation zu belassen.
»Das wäre vermutlich wirklich sehr sinnvoll«, räumte Wakiza ein.
Tief in seinem Inneren behagte ihm dieser Gedanke dennoch wenig. Wakiza führte es auf den Umstand zurück, dass es zu seinem Wesen als Krieger gehörte, immer auf der Hut zu sein.
»Es würde nicht nur ihre Arbeit erheblich erleichtern, sondern auch die Einsatzfähigkeit der Krähenwind verbessern«, ergänzte Eyota, die offenbar die Skepsis ihres Mentors spürte.
Mit einem knappen Nicken gab Wakiza endgültig nach.
»Ja, ich werde einen Sicherheitschef bestimmen und dafür sorgen, dass ihm ständig eine Mannschaft auf dem Torus zur Verfügung steht«, erwiderte er.
Als Wakiza sich bereits abwenden wollte, hielt Eyota ihn am Arm zurück. Verblüfft wandte er sich zu ihr um.
»Da wäre noch etwas«, sagte sie.
Es fiel Eyota nicht leicht, aber sie hatte sich bereits mit dem Ratsführer auf der Hauptwelt besprochen und seine Genehmigung eingeholt.
»Ich bleibe ebenfalls ab sofort permanent auf dem Torus«, sagte sie.
Der blaue Kreis um Wakizas Iris glühte förmlich auf. Es war ein deutliches Zeichen, wie sehr ihn diese Eröffnung traf.
»Das halte ich für keine gute Idee. Früher oder später muss der Rat entscheiden, ob wir den Torus mit einer permanenten Mannschaft ausstatten oder nicht. Wenn ja, wird natürlich auch ein Leiter der Station ernannt werden«, gab er seinen Bedenken laut Ausdruck.
Wakiza wollte weitere Argumente vorbringen, doch da veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Offenbar spürte er, dass diese Entscheidungen längst gefällt worden waren und zwar ohne Rücksprache mit ihm. Das Pulsieren des blauen Ringes ließ nach und gleichzeitig wechselte die Farbe in ein dunkles Türkis. Eyota senkte beschämt den Kopf.
»Du hast es bewusst hinter meinem Rücken gemacht«, stellte Wakiza fest.
Um sie herum eilten Techniker herum. Sie überwachten die Funktionen des Lebenserhaltungssystems des Torus, behielten die Langstreckensensoren im Blick oder kommunizierten mit der Besatzung der Krähenwind. Alles wirkte schon sehr eingespielt und verströmte den Anschein von Normalität. Wakiza verdrängte seine Verärgerung sowie die Enttäuschung über Eyotas Verhalten. Nüchtern betrachtet konnte er die Entscheidung des Rates sogar nachvollziehen. Unglücklicherweise sah er in Eyota so etwas wie eine Adoptivtochter und erkannte, dass sein Bedürfnis sie zu beschützen, ihrer persönlichen Entwicklung im Weg stand. Er räusperte sich. Dann legte Wakiza seine Rechte auf die Schulter Eyotas und veranlasste sie, den Kopf zu heben und seinen Blick zu erwidern.
»Du bist soweit. Ich akzeptiere deine Entscheidung und werde dich weiterhin nach Kräften unterstützen. Vermutlich wird es schon bald einen regen Schiffsverkehr in diesem Sektor geben. Da kommt jede Menge Arbeit auf dich zu, damit die Menschen nichts davon mitbekommen«, sagte er.
Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf Eyotas Gesicht aus und Wakiza spürte den Anprall warmer Gedanken in seinem Kopf. Diese Expedition verlief völlig anders als erwartet. Damit musste man zwar immer rechnen, doch dieses Mal schien es großen Einfluss auf das gesamte Schicksal der Deinoiden zu nehmen. Wakiza hatte für den Bruchteil einer Sekunde das Bild eines schnell eskalierenden Konflikts vor Augen. Seine Vision war offenbar so stark, dass sogar Eyota sie registrierte. Ihr besorgter Blick forschte in Wakizas Gesicht.
»Vergiss es, Eyota. Das sind die üblichen, trüben Gedanken eines alten Kriegers. Wir können nicht anders«, wehrte er schnell ab.
Wakiza war froh, dass Eyota ihm diese Beschwichtigung abkaufte. Kurz darauf verließ er den Torus und kehrte zurück zur Krähenwind. Als Wakiza vom Landedeck mit dem Lift hinauf zur Brücke schwebte, sprang ihn diese Vision nochmals an. Dieses Mal jedoch klarer und zugleich verstörender. Wakiza spürte den dunklen Eingebungen nach und war sich ziemlich sicher, dass sie aus den Gedankenströmen der Yugashi kamen. Konnte es wirklich sein, dass dieses aggressive Volk auf eine kriegerische Auseinandersetzung hinarbeitete? Wakiza hielt es nicht für undenkbar. Die Anzahl der Bauwerke deuteten darauf hin, dass die Baumeister in diesem Sektor der Galaxis besonders aktiv gewesen waren. Eventuell gab es sowohl im Bauwerk auf Scandus als auch in dem auf der Erde endlich Informationen über die Herkunft sowie Ziele dieses hoch entwickelten Volkes. Wer über diese Informationen verfügte, konnte sich einen entscheidenden Vorteil bei der weiteren Auswertung der Archive in allen anderen Bauwerken verschaffen. Mit diesen düsteren Gedanken betrat Wakiza zwei Minuten später die Brücke der Krähenwind. Ab sofort würde er seine Sinne noch mehr öffnen, um mögliche Strömungen zu erfassen.
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Scandus, nördliche Region, 6. Oktober
Das Wasser war eiskalt und die Strömung machte es Ty fast unmöglich, sich kontrolliert zu bewegen. Mit aller Macht kämpfte er sich an die Oberfläche, die allerdings wie ein kochender Wasserkessel brodelte. Immer wieder schluckte Ty Teile der bitter schmeckenden Flüssigkeit und musste die Lider wegen der Gischt zusammenkneifen. Trotzdem gelang es ihm, sowohl die schwimmende Lydia als auch den Jäger von Syberia auszumachen. Sie kämpften genauso gegen die verrückte Strömung an, die aber auch ihr Gutes hatte. Ty und seine beiden Begleiter entfernten sich rasend schnell von der Stelle, an der sie ins Wasser gesprungen waren. Ihre Verfolger konnten zu Fuß keinesfalls mithalten und falls sie irgendwo ein Flugboot hatten, verloren sie dennoch jede Menge Zeit, um dorthin zurückzulaufen. Ty schluckte Wasser, spuckte es wütend aus und kniff dann die Lider gegen die tief stehenden Sonne zusammen. Täuschten ihn seine Sinne?
»Schnell geschaltet, mein Freund«, murmelte er Sekunden später.
Das Shuttle jagte flach über die Baumwipfel und schickte kurze Feuerstöße aus den Railguns in Richtung Waldboden. Offenbar hatte Che die Lage sofort erfasst und machte nun den Verfolgern des Beringson-Clans die Gefahr bewusst, in die sie durch die Verfolgung gerieten. Immer wieder wurde Ty wie in einer Waschmaschinentrommel herumgewirbelt und musste sich erneut zurück an die Oberfläche kämpfen. Strampelnd gelang es ihm und dann bemerkte er das Shuttle, wie es sich auf ein Felsplateau am Ufer des Flusses senkte. Sekundenbruchteile später erkannte Ty, was sich Che ausgedacht hatte. Offenbar existierte eine Art Furt an der Landestelle, denn Algis bewegte sich mit einem Drahtseil kurz darauf zügig durchs Wasser und erklomm das gegenüberliegende Ufer. Ty suchte den Blick von Lydia und versuchte zuerst gegen den Lärm des Wassers anzuschreien. Doch seine Worte wurden ihm quasi von den Lippen gerissen, sodass er zum Gestikulieren überging. Lydia signalisierte Ty, dass sie den Wink verstanden hatte und wandte sich bereits Rinat zu. Einmal mehr staunte er über die große Kraft seines Ersten Offiziers. Während Lydia kaum Boden gegenüber Ty eingebüßt hatte, schien Rinat immer weiter zurückzufallen. Seine Reserven schienen nahezu aufgebraucht zu sein. Schnell drehte Ty wieder den Oberkörper zurück und peilte das über den Fluss gespannte Seil an. Die Strömung nahm noch zu, während gleichzeitig die Wellen verflachten. Sie näherten sich tatsächlich einer Furt, die sie aber ohne fremde Hilfe kaum zum Verlassen des Flusses hätte nutzen können. Tys Hände schossen vor, umfassten das Drahtseil und dann ging ein harter Ruck durch seine Schultern. Er biss die Zähne zusammen und zog sich Hand um Hand zum Shuttle hinüber. Ty stieg keuchend aus dem Wasser und winkte dann Algis zu.
»Achte auf Rinat. Er wird unsere Hilfe benötigen!«, brüllte er gegen den Lärm an.
Mit einem knappen Heben der Hand zeigte Algis an, dass er verstanden hatte. Ty nahm erleichtert zur Kenntnis, dass Lydia ebenfalls auf Anhieb das Seil zu packen bekam. Doch sie verharrte in der Position, bewegte sich nicht aufs Plateau zu. Ty wollte ihr schon zurufen, dass sie sich beeilen sollte, doch dann erkannte er ihre Absicht. Er ging in die Hocke und setzte sich dann auf den feuchten Felsen. Rinat Arsal trieb wie ein Korken im Wasser umher. Er wehrte sich kaum noch gegen die Strömung. Lydia behielt den Jäger fest im Blick und dann packte sie mit der Rechten blitzschnell zu. Ty konnte sehen, wie Rinat kurz untertauchte und dann prustend neben Lydia wieder die Wasseroberfläche durchbrach.
»Langsam hierher! Ich übernehme ihn dann«, rief Ty.
Meter um Meter zog sich Lydia am Seil entlang. Rinat konnte ihr kaum helfen, so geschafft war er. Da tauchte auf einmal Algis neben den Beiden auf und unterstützte Lydia bei ihren Bemühungen. Gemeinsam zerrten sie den Jäger bis an den Rand des Plateaus, auf dem Ty saß. Seine Beine waren durch das kalte Wasser beinahe gefühllos geworden, doch nur so konnte er die Schultern von Rinat packen und ihn an der Jacke aus dem Wasser ziehen.
»Schneller, Leute! Wir bekommen gleich Gesellschaft«, rief auf einmal Torak Nool.
Der Ingenieur eilte auf Ty zu, der schwer atmend neben Rinat auf dem feuchten Felsen lag. Lydia und Algis kletterten aus dem Wasser. Ty kam auf die Beine und zog gemeinsam mit Torak den halb ohnmächtigen Rinat auf die Füße. Keine halbe Minute später schloss sich die Heckrampe und das Shuttle stieg sofort auf. Algis war es noch gelungen, das Seil am anderen Ufer zu lösen und es mitzunehmen. Frierend schob sich Ty auf den Kopilotensitz, während Che das Shuttle in einer scharfen Kurve vom Fluss weglenkte.
»Die Verfolger am Boden konnte ich abhalten. Doch jetzt hat sich ein Patrouillenschiff der Marshalls auf unsere Spur gesetzt«, erklärte er.
Ty warf einen Blick auf das Display vor sich und konnte das Schiff ausmachen. Obwohl Che bereits trotz der niedrigen Höhe über den Bäumen das Triebwerk auf Volllast fuhr, schloss das Patrouillenschiff erschreckend schnell zu ihnen auf.
»Das kann unmöglich eine der kleinen Einheiten sein, die permanent auf Scandus stationiert sind. Vermutlich haben wir es mit einem der modernen Patrouillenschiffe zu tun«, stellte Lydia fest.
Sie stützte sich auf die Rückenlehne von Tys Sitz auf, sodass kleine Wassertropfen auf seine Kleidung fielen. Lydias Haar umschloss ihren Kopf wie ein feuchter, schwarzer Helm. Die Tortur im Fluss musste ihr fast alles abverlangt haben, dennoch wirkte sie hellwach und einsatzbereit.
»Sehe ich auch so. Wir werden viel Glück benötigen, um davonzukommen«, stimmte Che zu.
Er arbeitete konzentriert und erteilte dem Bordcomputer rasend schnell Befehle. Offenbar hatte Che etwas auf Lager, wie er die Marshalls beschäftigen konnte. Ty spürte, wie Lydia verschwand und dann tippte ihm jemand auf die Schulter.
»Lass mich dahin. Ich denke, dass ich Che besser helfen kann«, bat Torak.
Darüber musste Ty nicht diskutieren. Er machte dem Ingenieur Platz und zog sich in den Heckraum zurück. Dort hatte Algis den Jäger bereits entkleidet und in eine Isodecke gewickelt. Lydia zog sich ebenfalls ungeniert aus und nahm eine Decke entgegen, sodass Ty als Letzter den Boden mit Wasser vollkleckerte.
»Raus aus den nassen Sachen. Hier ist eine Decke für dich«, befahl Algis.
In Windeseile, wobei ihn seine klammen Finger ein wenig behinderten, entkleidete Ty sich und nahm dankend die Isodecke entgegen. Als er sich gerade auf einem der Sitze niederlassen wollte, kränkte das Shuttle heftig nach links und Ty taumelte durchs Heck.