Leseprobe – Mein Babylon


Zum Roman

 

Kapitel 1

 »Es hat ein Feuergefecht gegeben. Mit Toten. Vielen Toten. Flieg rüber und klär die Sache. Die Presse ist schon unterwegs.« Mit diesen Worten beendete mein Vorgesetzter das Gespräch und ließ mich mit dem Problem allein.

Ich hörte bereits den Gleiter, der sich dem Dach meines Wohnturms näherte, um mich aufzunehmen. Sieben Minuten später näherte ich mich dem Tatort aus der Luft, und die beiden Rauchsäulen wiesen mir den Weg. Es machte tatsächlich den Eindruck, als wäre ich im Anflug auf ein Kriegsgebiet, aber vor mir lag die Innenstadt von Hamburg.

Ich fragte nie nach den Hintergründen eines Einsatzes, denn das ging mich erstens nichts an und zweitens wollte ich mich damit nicht belasten. Moralische Bedenken waren kein Thema, denn wenn ich gerufen wurde, dann bewegte sich der Auftrag mindestens in den Grauzonen der Legalität, meistens aber im Aufgabenbereich der Strafverfolgung. Ein viel wichtigerer Grund für meine gewollte Unwissenheit war allerdings, dass ich nicht zum Mitwisser und Geheimnisträger werden wollte. Denn wenn man zu viele schmutzige Geheimnisse kannte, dann wurde man irgendwann als potenzielle Gefahr eingestuft und entsorgt. Wahrscheinlich vom eigenen Nachfolger.

Ich hatte bereits während des Fluges veranlasst, dass die Straße und die umliegenden Häuser wegen einer angeblichen Bombendrohung geräumt wurden. Ich kann schon gar nicht mehr sagen, wie oft ich diesen Vorwand in den letzten Jahren benutzt habe. Aber da es täglich überall auf der Welt Bombenanschläge gab, musste man bei diesem Thema nicht lange diskutieren. Niemand hielt es für zu abwegig, dass zwei Straßengangs, die sich eine Schießerei lieferten, auch Sprengsätze mit sich führten.

Der Gleiter setzte mich am Rand der Absperrung ab, und ich verschaffte mir einen kurzen Überblick von der Umgebung. Die Schießerei war auf eine Straße begrenzt gewesen, was auf jeden Fall ein Vorteil war. Zeugen durfte es wenige oder gar keine geben, denn in den heutigen Zeiten eilten die Menschen bei einem Schuss nicht ans Fenster um nachzuschauen, was vorging, sondern warfen sich auf den Boden und blieben dort.

Ich überzeugte mich davon, dass die eintreffenden Medien von ihrem Standplatz aus nichts erkennen konnten und näherte mich dann an einer unauffälligen Stelle der Absperrung.

Ein Polizist trat mir mit erhobener Hand entgegen: »Na, was kann ich für dich tun, Brother?«

»An Ihrer Sozialkompetenz arbeiten«, empfahl ich und hielt ihm meinen Ausweis unter die Nase, während ich vorüberging. »Jesko Rudolph, NEO-Hanse.«

Ich besaß einen Dienstausweis, der mir in weiten Teilen der Welt jede Unterstützung von Konzernmitarbeitern zusicherte und mir innerhalb von Hamburg bei allen Bewohnern Halbgottstatus verlieh.

Ich bin ein Schadensregulierer mit afrikanischer Abstammung ohne ebensolche Wurzeln. Ich leide milde an meinem Übergewicht und dem alltäglichen Rassismus. Außerdem trainiere ich seit meinem achten Lebensjahr täglich Aikido, weil eine sportliche Betätigung im Leben wichtig ist und man als dicker Schwarzer keine leichte Schulzeit hat. Darüber hinaus pflege ich eine gewisse Schlampigkeit im Äußeren und penible Korrektheit bei meiner Arbeit.

Das Ablenkungsmanöver für die Presse war sofort nach meiner Benachrichtigung gestartet.

Schritt 1: Ich verhängte eine Nachrichtensperre, um weitere Schaulustige abzuhalten, dann kümmerte ich mich um die Pressemitglieder, die schon auf dem Weg waren. Die Tarngeschichte war platziert und wurde verbreitet. Jede andere Nachricht wurde sofort dementiert und als Falschmeldung bezeichnet. Das entmutigte einen Großteil der Meute, der sich stattdessen auf die Suche nach einer anderen Sensation machte.

Schritt 2: Eine andere Sensation wird lanciert. Wir haben solche vermeintlichen Knüller immer in der Schublade und können sie nach Bedarf einsetzen. Ich ließ eine Bombe platzen, die einen viel größeren Nachrichtenwert besaß. Zu diesem Zweck bezahlte ich einige Schläfer, die sich rund um die Uhr bereithielten, um eine solche Ablenkung zu inszenieren. Diejenigen Reporter, die bereits zum Tatort unterwegs waren, würden ihretwegen die Richtung ändern und der falschen Fährte folgen.

Schritt 3: Diejenigen, die bereits am Tatort eingetroffen waren, wurden so lange außer Sichtweite hingehalten, bis sie die Lust verloren oder es tatsächlich nichts mehr zu sehen gab. Sie würden natürlich wissen, dass dort etwas vertuscht wurde, aber sie hatten keine Ahnung was, von wem und weshalb. Über Com sprach man nur über eine Schießerei zwischen zwei verfeindeten Gangs. Solche Sachen waren an der Tagesordnung und für die Berichterstattung nicht besonders interessant.

Ich rückte die Strickmütze auf meinem Kopf zurecht und schlug meinen Mantel an der Hüfte zurück wie ein Revolverheld. Nur dass ich anstelle einer Waffe meine kleine Umhängetasche unter meinem Mantel nach vorne zog.

Ich war so früh am Ort des Geschehens, dass ich noch einen Blick auf die abrückenden Wagrier werfen konnte. Die Sondereingreiftruppe der NEO-Hanse. Alles durchtrainierte Kerle, die aussahen, als hätten sie ihr ganzes Leben nichts anderes getan, als zu kämpfen und für den Kampf zu trainieren.

An der Spitze Sparkle Darstein, ein Musterbeispiel für diese Sorte Mensch. Zwei Meter groß, braungebrannt und komplett ohne Körperfett. Dazu ein wirklich sympathisches, grellweißes Lächeln, das man überhaupt nicht bei ihm vermutet hätte und das sofort verschwand, als er mich erblickte. Wir legten beide keinen Wert auf eine Begegnung und drehten uns gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen.

Ich zwinkerte etwas länger und schaltete damit meine Kontaktlinse in den Aufnahmemodus. Alle Bilder wanderten sofort in den internen Speicher der UCL (Universal Contact Lenses). Ich begann, Aufnahmen des Schadens zu machen.

Die Wagrier hatten mal wieder ganze Arbeit geleistet. Kopfschüttelnd betrachte ich den Vordereingang des Hauses, der mit einem Blaster herausgesprengt worden war. Dabei gab es eine Tür und die war unverschlossen gewesen. Es konnte doch nicht schneller gehen, eine Wand zu sprengen, als einen Türgriff zu benutzen. Mich ärgerten diese unnötigen Ausgaben, aber noch schlimmer fand ich, mit welcher Bedenkenlosigkeit die Wohnungen anderer Menschen zerstört wurden. Es war völlig unnötig, alle persönlichen Gegenstände der Bewohner zu vernichten, denn nicht alles kann man durch Geld wiedergutmachen.

Ich inspizierte den Ort, an dem die Toten gelegen hatten. Man musste kein Forensiker sein, um zu erkennen, dass die Schusswinkel nicht zueinanderpassten. Die Blutspritzer an der Hauswand konnten nur dann entstanden sein, wenn der Getroffene zu diesem Zeitpunkt gekniet hatte. Das Ganze erinnerte mehr an eine Hinrichtung, als an eine wilde Schießerei.

Der Kugelhagel der angeblichen Terrorzelle war gut sichtbar platziert. Jeder Treffer an den Mauern und Fahrzeugen wiederzufinden. So wie mir der Vorfall geschildert wurde, erschien mir dieses Bild einfach viel zu ordentlich.

Mein Team traf ein, um die Nachbereitung zu übernehmen. Die wichtigste Arbeit war getan, die Aufregung war abgewendet, die Ablenkung installiert. Nun übernahmen sie es, die ganze Geschichte überzeugend zu verankern, Spuren zu verwischen und Neugierige auf andere Gedanken zu bringen.

Sie landeten mit unserem Daredevil innerhalb der Absperrung. Der Daredevil war eine Mischung aus Gleiter und Wohnmobil, der über alle technischen Raffinessen verfügte, die für uns notwendig sein konnten. Like steuerte die Kiste und bei längeren Einsätzen wohnten wir sogar darin.

Ich winkte ihr zu, als sie aus der Maschine stieg. Like war eine gutaussehende Fitnessverrückte. Sie war muskulös und sehnig wie die Shaolinmönche in alten Kung-Fu-Filmen. Sie betrachtete mich immer mit diesem mitleidigen Blick, der mich zum Lachen reizte. Aber sie verkniff es sich, mich missionieren zu wollen und zu mehr Training anzuhalten, wofür ich dankbar war. Wahrscheinlich hielt sie mich für einen hoffnungslosen Fall. Diese Vorstellung wiederum störte mich ein bisschen, denn sie sollte mich gefälligst nicht aufgeben.

»Renitente?«, fragte ich mein Team über Funk.

»Bisher noch nicht.«

Als Renitente bezeichneten wir diejenigen Beteiligten, die sich weder überreden noch kaufen ließen und wahrscheinlich Ärger machen würden. Also Menschen mit Überzeugungen, oder lästige Störenfriede, wie ich sie nannte. In der Regel kosteten sie nur mehr Aufmerksamkeit, bis man sie dort hatte, wo man sie haben wollte.

Die Tatsache, dass alles so reibungslos ablief, und es kaum Störungen von außen gab, ließ mir mehr Zeit, mich um die Ungereimtheiten zu kümmern, die mir aufgefallen waren. Das ganze Szenario wirkte schlecht inszeniert und wenig überzeugend.

Ich ging zu Like. »Wo sind die Leichen?«

»Die wurden bereits fortgeschafft.«

»Von wem?«

»Darstein und seine Jungs haben sie mitgenommen«, erklärte sie.

Nun war ich tatsächlich überrascht. Für gewöhnlich ließen die Wagrier alles stehen und liegen, wenn sie verschwanden. Sie benahmen sich wie schlecht erzogene Kinder und Sparkle Darstein war der Schlimmste von ihnen.

»Versuch herauszufinden, wohin man die Leichen gebracht hat. Etwas stört mich an der Geschichte, die sie uns hier verkaufen wollen.«

Like salutierte ironisch und verschwand im Daredevil.

Die Abschleppfahrzeuge rückten an und schafften die Wagen weg, die von Kugeln getroffen worden waren. Das Gebiet, in dem sie standen, wurde zur Parkverbotszone umdeklariert. Während die zurückkehrenden Besitzer also glaubten mussten, ihr Fahrzeug wäre wegen Falschparkens abgeschleppt worden, wurden in einer Werkstatt alle Spuren der Schießerei beseitigt. Wenn die empörten Besitzer dann bei der entsprechenden Behörde auftauchten, entschuldigte man sich wegen des fälschlichen Abschleppens und überreichte ihnen einen Gutschein wegen der Unannehmlichkeiten.

»Ich habe die Leichen gefunden, oder das, was von ihnen übrig ist«, meldete Like.

»Soll heißen?«

»Die Körper wurden bereits eingeäschert.«

»Wer hat das veranlasst?«

»Allem Anschein nach unser Freund Sparkle.«

»Da stimmt etwas nicht. Ich will mir den Tatort noch einmal ansehen. Gib bitte Bescheid, dass man die Bewohner noch eine Stunde länger vertröstet.«

Like bewegte sich nicht. Bei einem Menschen, der eigentlich immer in Bewegung war, wirkte das besonders auffällig.

»Was ist?«, fragte ich.

»Die Zentrale hat uns angewiesen, unsere Zelte hier abzubrechen. Die Mission wurde offiziell für beendet erklärt.«

»Eigentlich ist es meine Aufgabe, eine Mission für beendet zu erklären.«

Like zuckte mit den Schultern. »Die Anweisung kam direkt von Spicklebach. Willst du mit ihm reden?«

Ich schüttelte den Kopf. Das wäre sinnlos. Wenn unser Vorgesetzter eine solche Entscheidung traf, dann war klar, dass er sie ebenfalls von oben erhalten hatte. Sehr wahrscheinlich kannte er die Gründe dafür selbst nicht und wenn doch, dann würde er sie mir nicht verraten. Mein Wissen musste ich mir anders beschaffen. Oder auch nicht, denn ich hatte das untrügliche Gefühl, dass es sich um die Art von Wissen handelte, das ich überhaupt nicht haben wollte.

Mein Auftrag war erledigt, mein Vorgesetzter zufrieden. Es gab also keinen Grund, die Angelegenheit nicht auf sich beruhen zu lassen. Ich konnte mich zurückziehen, ohne von den meisten Anwesenden wahrgenommen worden zu sein. So, wie ich es schätzte.

Ich trug stets Kleidung, die den meisten Menschen keinen zweiten Blick wert war und hielt mich im Hintergrund. Natürlich achtete ich auch darauf, nicht gefilmt zu werden. Diese Vorsichtsmaßnahmen konnten nicht verhindern, dass man auf mich aufmerksam wurde, sondern nur das Risiko vermindern. Einem aufmerksamen Reporter könnte auffallen, dass ich mich oft an solchen Tatorten aufhielt. Über Gesichtserkennungssoftware könnte er das Filmmaterial von allen Tatorten ziemlich schnell miteinander abgleichen und dann spielt es keine Rolle mehr, welche Kleidung ich gerade trug. Doch bisher hatte ich keinen Reporter dicht genug an einen meiner Tatorte herangelassen.

Ein Reinigungswagen kam vorbei. Er spülte Blut und Glasscherben von der Straße. Unzählige kleine Wichtel, die diesem Ort wieder in den Urzustand versetzten, bevor jemand bemerken konnte, was hier eigentlich vorgefallen war. Und ich war ihr Meister.

Zum Roman