Leseprobe – Silla


Zum Roman

 

Kapitel 1

Eine laue Frühlingsluft strich über die Terrasse des ›Camouflage‹. Das Sonnenlicht brach sich in blanken Glastüren und exquisiten Gläsern, die Kellner in perfekt sitzenden roten Uniformen an die Tische brachten. Es waren nur wenige Gäste an diesem Nachmittag auf der Aussichtsplattform zu sehen.

Das Café war eines der exklusivsten der Stadt. Und das hatte mehrere Gründe.

Erstens: Der Blick auf den neuen Eiffelturm war phantastisch. Die Konstruktion aus blau gefärbtem Titan war mit 598 Metern fast doppelt so hoch wie das 2038 bei einem Terroranschlag zerstörte Original und dem Vernehmen nach ebenso beeindruckend.

Zweitens: Die Speisekarte war hervorragend. Das Restaurant bezog exotische und extraterrestrische Speisen direkt von der NEO-Hanse, Frische war garantiert.

Drittens: Die Kellner waren diskret. Sie ermöglichten ungestörte Treffen unter vier Augen in diversen Separees am Rande der Aussichtsplattform. Und dies war auch der Grund, aus dem Shenmi das ›Camouflage‹ für das Rendezvous ausgewählt hatte. Sie legte keinen Wert darauf, zusammen mit ihrem Gast gesehen zu werden. Und das ›Centre de Culture‹ war sie mittlerweile leid.

Dabei war es dieses Mal Dana Fedorova gewesen, die den Kontakt zu Shenmi gesucht hatte. Natürlich dezent und auf die gewohnt geheimnisvoll-verschwörerische Art, die Shenmi eher amüsant als beunruhigend fand. Sie war gespannt, was die Leiterin der Hanse Security von ihr wollte. Bislang war sie allerdings noch nicht aufgetaucht.

Gelangweilt spielte Shenmi mit ihren lockigen, roten Haaren – dass es sich um eine Perücke handelte, war für Außenstehende nicht zu erkennen. Sie betrachtete das Treiben auf den Champs Élysées. Die Menschen eilten geschäftig herum, als bestünde ihr Leben aus nichts als Eile. Diese Narren würden nie verstehen, dass ihr Herumrennen am Ende zu nichts führte. Solange sie die wahren Hintergründe von dem, was auf der Erde und in diesem System vor sich ging, nicht durchschauten, waren sie nichts als dumme Insekten, die blind vor sich hin werkelten. Bemitleidenswert.

»Ganz schön viel los heute in Paris.«

Wäre Shenmi nicht so gut ausgebildet gewesen, wäre sie sicherlich zusammengezuckt. Sie hatte Dana Fedorova nicht kommen sehen, geschweige denn, dass sie mitbekommen hätte, wie die vornehme Brünette auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz genommen hatte. Die Leiterin der Hanse Security sah deutlich besser aus, als bei ihrer letzten Begegnung. Sie war elegant gekleidet wie immer – graues Kostüm, perfekter Lidstrich, modische schwarze Schuhe mit Absätzen, deren Klappern Shenmi eigentlich aus einer Meile Entfernung hätte hören müssen.

Ihre eigene Unachtsamkeit ärgerte Shenmi maßlos, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Stattdessen beugte sie sich vor und griff nach ihrem langstieligen Glas. »Sind Sie im Verkehr stecken geblieben oder warum sind Sie schon wieder so spät dran? Das scheint eine schlechte Angewohnheit von Ihnen zu sein«, fragte sie kühl und nippte an der rubinroten Flüssigkeit. Ein guter Jahrgang Marsianischen Weines, fast zu schade, um ihn in dieser Gesellschaft zu trinken.

Dana Fedorova zupfte an ihren Fingerspitzen, um sich betont lässig die Lederhandschuhe von den Fingern zu streifen. Nicht, dass sich Shenmi underdressed vorgekommen wäre. Sie wusste sehr gut, wie beeindruckend sie in dem weißen Etuikleid wirkte, das ihre zierliche Gestalt perfekt zur Geltung brachte.

»Mein Fahrer ist ganz gut durchgekommen«, sagte Fedorova. »Ich schätze, er sucht einen Stellplatz und wird dann im Foyer auf mich warten.«

Clever, dachte Shenmi. Die Agentin hatte somit klar gemacht, dass sie nicht alleine gekommen war, dass sie dieses Gespräch jedoch unter vier Augen zu führen beabsichtigte – ebenso wie Shenmi.

Fedorova orderte bei einem diensteifrig auftauchenden Kellner eine Tasse Tee und lehnte sich erwartungsvoll zurück. »Wollen wir lange um den heißen Brei herumreden oder gleich zum Punkt kommen?«, fragte sie süffisant. Das gefiel Shenmi, obwohl sie Dana Fedorova noch immer nicht besser leiden konnte als all die Male, bei denen sie sich zuvor begegnet waren.

»Ich mag Ihre direkte Art«, sagte sie lächelnd. »Ich nehme einfach einmal an, es geht um Ty Hawkins?« Zumindest war es das, was Shenmi hoffte.

Dana Fedorova zog die Augenbrauen nach oben. »Ich sehe, wir verstehen uns. Haben Sie mir etwas zu sagen?«

Shenmi nahm einen weiteren Schluck. »Vielleicht ist unsere Kommunikation doch nicht so perfekt wie gedacht. Ich habe nämlich keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«

Der Kellner brachte den Tee und unterbrach die Unterhaltung für einige Augenblicke. Die beiden Frauen schwiegen, bis sich der Rotbefrackte wieder entfernt hatte. Dana Fedorova rührte etwas Zucker in den Tee und nahm einen kräftigen Schluck. »Herrlich erfrischend an einem solchen Tag. Ich trinke tagsüber keinen Alkohol mehr.«

Shenmi überhörte die Spitze geflissentlich. »Was genau wollen Sie denn von mir hören?«

Dana Fedorova setzte die Tasse ab und legte die Fingerspitzen aneinander. »Sie haben es doch selbst angesprochen: Ty Hawkins ist das Stichwort. Haben Sie etwas von ihm gehört? Oder vielleicht Ihr Auftraggeber Van Bekeren – falls er denn noch Ihr Auftraggeber ist?«

»Von Hawkins habe ich nichts gehört, bedaure«, antwortet Shenmi, ohne auf die letzte Frage einzugehen und schlug lässig die Beine übereinander. Wir führen uns auf wie zwei Pfauen, die umeinander herumstolzieren und Rad schlagen, dachte sie belustigt. Aber das gehörte natürlich zum Spiel.

»Das soll ich Ihnen glauben?«, fragte Dana Fedorova leicht indigniert. »Hawkins hat Sie sicher kontaktiert.«

»Warum denken Sie, dass er das tun sollte?«, wollte Shenmi wissen.

Seelenruhig rührte Dana Fedorova in ihrem Tee, ließ Shenmi dabei jedoch nicht aus den Augen. »Nun, Sie haben ein enges Verhältnis zu Hawkins, da liegt es nahe.«

Haben wir das?, fragte sich Shenmi unwillkürlich. Sicher, Ty war ihr Geliebter gewesen, und ein verlässlicher Freund. Doch etwas stand stets zwischen ihnen. Und es war nicht nur die Tatsache, dass er mittlerweile wusste, dass sie eine Halb-Deinoidin war. Es gab da noch ein Geheimnis, das sie hütete, und das Ty irgendwann erfahren musste.

»Ich habe schon seit Ewigkeiten nichts von ihm gehört«, sagte sie wahrheitsgemäß. Ihr letzter Kontakt zu Ty und zur ›Shadow Dancer‹ lag wirklich schon geraume Zeit zurück – so lange, dass sie langsam begann, sich Sorgen zu machen. Deswegen hatte sie ihre Hoffnungen in das Gespräch mit Dana Fedorova gesetzt. Vielleicht wusste die Leiterin der Hanse Security ja mehr als sie zugab.

»Sie wollten nicht um den heißen Brei herumreden«, erinnerte Shenmi. »Also, was können Sie mir zu Ty Hawkins’ Verbleib sagen?«

Dana Fedorova lehnte sich zurück. Enttäuschung zeichnete sich in ihrer Miene ab. »Ich befürchte, genauso wenig wie Sie. Der Kontakt zur ›Shadow Dancer‹ ist abgebrochen. Ich hatte gehofft …«

Ein leiser, aber aufdringlicher Klingelton wie das zarte Zirpen einer Grille unterbrach sie. Fedorova runzelte die Stirn.

Shenmi lächelte unverbindlich. »Entschuldigen Sie – eine dringende Nachricht auf meiner Privatfrequenz«, sagte sie und griff in ihre weiße Handtasche, die so winzig war, dass gerade einmal der Kommunikator und ihre Brieftasche darin Platz hatten. Sie hatte den Kommunikator zwar extra für das Gespräch mit Fedorova abgelegt und trug ihn nicht am Handrücken, um nicht gestört zu werden. Doch der Signalton war eindeutig. Sie musste die Nachricht sofort annehmen.

Schon beim ersten Blick auf das Display war Shenmi klar, dass das Treffen beendet war. Es war nur ein Wort, das sie ansprang wie ein Löwe die Beute: Mantikor.

»Ich bedaure, meine Liebe, aber wir müssen unsere Unterhaltung ein anderes Mal fortsetzen«, sagte Shenmi und schloss die Tasche. Den Kommunikator befestigte sie wieder am Handrücken.

Sie freute sich über Dana Fedorovas überraschtes, ja, entrüstetes Gesicht.

»Was?«, entfuhr es der Agentin. »Aber wir haben doch noch gar nicht …«

»Nun, wie ich Ihnen bereits sagte, weiß ich nichts über den Verbleib von Ty Hawkins«, sagte Shenmi bestimmt. Sie stand auf, ohne ihre Rechnung zu begleichen. Man kannte sie gut im ›Camouflage‹ – der Betrag würde von ihrem Konto abgebucht werden. »Wir können uns gerne demnächst wieder auf eine Tasse Tee oder ein Glas Wein treffen – vielleicht haben Sie dann ja Neuigkeiten für mich, die es wert sind. Und dann habe ich im Gegenzug vielleicht auch welche für Sie.«

Shenmi eilte davon und ließ die verblüfft dreinblickende Dana Fedorova im Separee zurück. Sie war viel zu neugierig, um ihr noch einen weiteren Blick zu schenken. Immerhin hatte Shenmi sie nicht angelogen: Sie würde wirklich bald etwas von der ›Shadow Dancer‹ hören. Das Passwort Mantikor bedeutete, dass die Nachricht von ›Chimairis‹ stammte. Und dass es Probleme gab, in die Ty Hawkins auf irgendeine Weise verwickelt war.

 

Zum Roman