Als eines Morgens die ersten Sonnenstrahlen über den Wipfeln der mächtigen Urwaldriesen aufblitzten, drang lautes Gezeter aus Tibors Baumhütte.
»Was fällt dir ein, mich so unsanft aus meinen Träumen zu reißen?«, kreischte Pop und sprang wild hin und her. »Ich träumte gerade davon, eine monsterhaft große Banane zu verspeisen, und da …«
»Elende Schlafmütze«, gab sein Bruder zurück. »Wenn du weiter so viel pennst, wirst du so ein dicker und träger Kloß wie Kerak.« Er kicherte frech. »Ich wette, dass du es jetzt schon nicht mehr schaffst, mich zu fangen.«
»Dass ich nicht lache!« Pop stemmte die kleinen Arme in die Hüfte. »Selbst für eine Schnecke wärst du noch zu langsam. Pass auf, jetzt kriegst du meine Rache zu spüren!«
Er sprang vor, doch Pip wich geschickt aus und turnte über das Fensterbrett auf ein Regal, von dem aus er Pop frech zuwinkte.
»Hört auf, so einen Lärm zu machen«, grummelte Kerak und setzte sich auf. »Ich möchte noch schlafen!«
Doch darauf nahmen die Äffchen keine Rücksicht. Pip hüpfte vom Regal auf den Tisch, dicht gefolgt von Pop. »Gleich habe ich dich, und dann …«
Pip sprang herab und landete direkt auf Keraks Bauch, der ihm wie ein Trampolin noch mehr Schwung gab.
Der Gorilla stieß den Atem pfeifend aus.
»Jetzt reicht es aber!« Noch immer schlaftrunken kam er auf die Beine, doch binnen weniger Augenblicke war er hellwach. Die Äffchen konnten gar nicht so schnell reagieren, wie er sie am Schwanz gepackt und aus dem Fenster geworfen hatte.
»So, ihr könnt den anderen Tieren dort draußen mit eurem Gekeife auf die Nerven gehen«, schickte er ihnen hinterher und grinste zufrieden.
Pip und Pop flogen in hohem Bogen durch die Luft. Geschickt griffen sie nach Lianen und hangelten sich an ihnen in die Höhe, bis sie einen Ast erreichten.
»Dieser Grobian!«, entfuhr es Pop. Er schüttelte seine kleine Faust. »Ganz schön gemein von ihm.«
»Ja, wir müssen ihm mal wieder zeigen, dass wir uns nicht alles gefallen lassen«, bekräftigte Pip und dachte nach. »Hör zu«, meinte er, »ich habe eine Idee …« Er kam nahe an Pops Ohr und flüsterte verschwörerisch.
Dieser grinste, als er den Vorschlag hörte, und nickte eifrig. Zufrieden huschten die Äffchen über die Äste, auf der Suche nach dem passenden Objekt für ihre Rache.
*
»Du warst recht grob mit den beiden«, meinte Tibor, der bei diesem morgendlichen Tumult kein Auge mehr hatte zumachen können.
Kerak grunzte. »Ach was. Die beiden kann man nicht hart genug anfassen, sonst tanzen sie einem nur auf der Nase herum.« Er gähnte herzhaft und kratzte sich am Kopf. »Ich denke, ich werde uns zum Frühstück ein paar saftige Früchte holen.«
Tibor sah ihm nach. »Gut, dann nehme ich inzwischen mein gewohntes Morgenbad im Fluss.«
Er wollte die Hütte gerade verlassen, als er klagende Laute von draußen hörte. Er erkannte Pips Stimme, die nach Kerak rief. Besorgt ging er zum Fenster.
»Was zum …?«
Noch bevor er reagieren konnte, klatschte etwas gegen seinen Oberkörper und platzte auseinander. Instinktiv schloss er die Augen und wich zurück, doch da stieg ihm bereits ein übel riechender Gestank in die Nase.
Tibor verzog den Mund und wischte sich die Reste einer überreifen Frucht von der Brust, die in langen Schlieren herabtropfte.
»Oje, der Schabernack ging daneben!«, hörte er eine fiepende Stimme und blickte verärgert nach draußen. Die beiden Äffchen saßen nur unweit von ihm entfernt auf einem Ast und sahen ihn schuldbewusst an.
»Wir … wir dachten, Kerak würde aus dem Fenster schauen«, erklärte Pop kleinlaut. »Ihn wollten wir treffen, nicht dich.«
»Das war ein ganz schlechter Scherz«, erwiderte Tibor und beschrieb mit dem Zeigefinger eine mahnende Geste. »Dein Stöhnen hörte sich an, als seist du ernsthaft verletzt. Damit spaßt man nicht, hört ihr? Macht das nie wieder!«
Die kleinen Affen nickten eifrig. »Nein, Tibor, versprochen. Wir …«
Ein Toben und Brüllen unterbrach ihre Entschuldigung.
Tibor kniff die Augen zusammen und spähte nach draußen. »Das war der Schrei eines Tieres in höchster Not!«
Er schwang sich aus dem Fenster und sprang auf eine Liane zu. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie Kerak gerade mit einer Handvoll Früchte zurückkam.
»Kommt!«, rief der Sohn des Dschungels. »Wir wollen sehen, was da los ist!«
*
Kurz darauf hatten sie die Stelle erreicht. Das Brüllen und Fauchen war immer lauter geworden und hatte ihnen den Weg gewiesen. Tibor landete auf einem Ast und hielt überrascht inne.
Auf der kleinen Lichtung hatten Löwen, Leoparden und Gorillas ihre gemeinsame Beute in die Ecke gedrängt, die sich mit dem Rücken schutzsuchend gegen einen knorrigen Baum drückte. Allein das war schon ungewöhnlich genug, doch es war die Beute selbst, deren Anblick ihn überraschte.
Bei allen … ein weißer Gorilla!, machte er sich bewusst. Ein Gorilla mit schneeweißem Fell!
Solch einer war ihm noch nie in seinem Dschungel begegnet. Es grenzte an ein Wunder, dass dieser Albino zu einem stattlichen Männchen hatte heranwachsen können, denn eigentlich wurden alle Tiere, die aus der Art geschlagen waren, sofort getötet. Meist von ihren eigenen Artgenossen.
Der weiße Gorilla setzte sich mit einem schweren Ast gegen die Attacken zur Wehr. Noch hielten seine Verfolger einen sicheren Abstand, als seien sie von einer Mischung aus Wut und Furcht erfüllt.
Als Tibor unter ihnen auf den Boden sprang, wichen die Löwen ehrfurchtsvoll zurück.
»Gut, dass du kommst!«, begrüßte ihn eine der Raubkatzen. »Ich hätte mich überwinden müssen, meine Fangzähne in dieses weiße Ungeheuer mit den roten Augen zu schlagen. Töte du es mit deinem blitzenden Zahn!«
»Niemand erfährt den Tod durch meine Hand, es sei denn, er hat das Dschungelgesetz gebrochen!«, erwiderte Tibor mit Nachdruck. »Dieser weiße Affe soll dorthin zurückkehren dürfen, woher er kam. Bis er unser Gebiet wieder verlassen hat, steht er unter meinem Schutz!«
Die Tiere grollten bei diesen Worten, doch keines wagte, zu widersprechen.
»Das wird noch vor Anbruch der Nacht geschehen«, fügte Tibor an. »Das verspreche ich euch.«
Es war deutlich zu sehen, wie sehr es den Raubkatzen und Gorillas widerstrebte, den Albino, der in ihren Augen ein Ungeheuer war, am Leben zu lassen.
»Tut, was Tibor sagt!«, grollte Kerak und schlug sich gegen die Brust. »Er ist der Herr des Dschungels, und seine Entscheidungen waren immer weise.«
Die Tiere senkten den Kopf und wichen langsam zurück. Tibor atmete innerlich auf, denn die Anspannung, die in der Luft lag, war fast zum Greifen spürbar. Er ging auf den weißen Gorilla zu.
»Du hast alles mit angehört«, richtete er sich an ihn. »Lass deinen Knüppel fallen. Ich begleite dich aus meinem Gebiet. Dir wird nichts geschehen.«
Doch anstatt den Worten zu vertrauen, holte der Albino mit einer blitzschnellen Bewegung aus und drosch mit dem schweren Ast nach Tibor. Nur dessen Reflexe retteten ihm das Leben. Er duckte sich unter dem Hieb weg. Gleichzeitig zuckte seine rechte Faust vor und versetzte dem Gorilla einen schweren Schlag gegen das Kinn.
Dies schien den Albino jedoch nur noch mehr anzustacheln. Er riss die Arme empor und brüllte wuterfüllt auf.
»Tibor wird angegriffen!«, rief einer der Gorillas aus Orks Horde. »Schützt den Herrn des Dschungels.« Die großen Affen stürmten auf den Albino zu, doch Tibor stellte sich vor ihn und hielt die Hände abwehrbereit.
»Nein, nicht!«, forderte er die Gorillas auf. »Lasst von ihm ab! Ich befehle es euch!«
Er streckte seine Brust vor und warf einen entschlossenen Blick in die Runde. »Das ist eine Sache zwischen dem weißen Gorilla und mir. Keiner mischt sich ein!«
Die Gorillas brummten und senkten die Arme.
Tibor registrierte es zufrieden. Er musste es so aussehen lassen, als ginge es in diesem Zweikampf um seine Ehre. Das erkannten die Tiere des Dschungels an. Er warf dem Albino einen Blick zu. Dieser zitterte am ganzen Körper, und seine roten Augen flackerten. Dennoch waren die gespannten Muskeln deutlich unter dem Fell auszumachen.
Er betrachtet mich immer noch als Gegner, erkannte Tibor. Und er wird mich jeden Moment angreifen …
Als hätte der weiße Gorilla seine Gedanken gelesen, sprang er vor und versuchte, den Sohn des Dschungels mit seinen wuchtigen Pranken zu umschließen. Doch dieses Vorgehen kannte Tibor nur allzu gut durch die rituellen Zweikämpfe, die er in all den Jahren immer wieder gegen Herausforderer hatte bestehen müssen.
Er ließ sich zu Boden fallen, noch bevor die Arme ihn umschließen konnten, gleichzeitig riss er seine Beine nach oben. Der Gorilla wurde durch seinen eigenen Schwung nach vorne geschleudert, und so konnte Tibor den schweren Körper über sich hinwegwuchten. Ohne seinen Sturz abfangen zu können, prallte der Albino mit dem Hinterkopf gegen einen Baumstamm und hielt sich benommen den Schädel.
Tibor setzte nach und packte seinen Gegner von hinten. Wie ein Schraubstock legten sich seine ineinander verschränkten Hände gegen den Nacken des Gorillas und drückten ihn nach vorne. Gleichzeitig pressten seine Arme die Pranken fest an den Körper. Der große Affe keuchte und schnaufte und musste erkennen, dass er sich nicht aus dem Griff befreien konnte.
»Gib auf, sonst muss ich dich töten!«, rief Tibor ihm zu.
Der Widerstand des weißen Gorillas brach. »Du … du schenkst mir das Leben?«, fragte er ungläubig.
Tibor wartete, um sicher zu gehen, dass es keine Finte war. Doch sein Gegner wagte keinen weiteren Angriff mehr, und so ließ er ihn los. Der Gorilla taumelte und stützte sich gegen einen Baum.
»Ich will deinen Tod nicht«, sagte Tibor. »Wäre ich sonst dazwischengesprungen, als die Löwen sich schon duckten, um dich zu zerreißen? Du solltest mir endlich vertrauen!«