Leseprobe – Falk – Der große Wolf


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EINS

»Wir hätten uns nicht so lange bei dem Grafen aufhalten dürfen«, sinnierte Bingo. »Der Weg ins Morgenland ist weit und voller Strapazen. Um in den Süden zu reisen, müssen wir zunächst das Gebirge überqueren. Eigentlich ist es zu spät im Jahr für ein solches Unterfangen. Hoffentlich sind die Pässe nicht schon verschneit!«

Das Schloss des Grafen Amberg lag hinter den Freunden Falk und Bingo. Vor einer Stunde waren sie aufgebrochen, nachdem sie eine ganze Woche bei ihrem Gastgeber zugebracht und sich ausgeruht hatten. Seitdem ritten sie Richtung Süden. Der dankbare Graf hatte sie einfach nicht gehen lassen. Wäre es nach ihm gegangen, hätten sie den bevorstehenden Winter in seiner Obhut verbracht.

»Es wäre Graf Amberg gegenüber unhöflich gewesen, unseren Aufenthalt in seinem Schloss abzukürzen«, belehrte der blonde Ritter seinen Begleiter. »Gastfreundschaft ist für ihn ein hohes Gut, das man nicht leichtfertig ausschlägt.«

»Ich weiß«, lenkte der Gaukler ein. »Ich sorge mich lediglich, dass wir zu viel Zeit verloren haben.«

Falk ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Du machst dir unnötige Gedanken. Wir haben einen goldenen Herbst. Mir scheint, das gute Wetter hält sich noch recht lange.«

»Du hast vielleicht eine Ahnung vom Gebirge«, brummte Bingo abschätzig.

In dem Punkt musste der Ritter seinem Freund recht geben. »Ich war noch nie in den Alpen. Deren Überquerung ist eine ganz neue Erfahrung für mich.«

»Na siehst du!« Der Gaukler mit dem Kinnbärtchen, das dem einer Ziege glich, und dem Zwirbelbart, der seine Oberlippe zierte, warf sich in die Brust. »Ich hingegen habe sie schon zweimal überquert. Ich versichere dir, dass dort oben ganz andere Witterungsverhältnisse herrschen als im Vorgebirge oder gar im Flachland. Du wirst Schneemassen zu sehen bekommen, dass dir die Augen übergehen. Sogar im Hochsommer liegt zuweilen noch Schnee auf dem Pass. Wir dürfen keine weitere Zeit verlieren, sonst kommen wir in diesem Jahr nicht mehr hinüber.«

Die Ausführungen des Dicken gaben Falk zu denken. »In dem Fall wäre es vielleicht besser gewesen, den Winter über doch bei Graf Amberg zu bleiben.«

»Unsinn.« Bingo schüttelte energisch den Kopf. »Wir schaffen das, wir dürfen nur nicht trödeln.«

»Trödeln?« Falk schaute über die Schulter zu dem Gaukler, der ein wenig hinter ihm zurückblieb. »Wer trödelt denn hier? Du musst mich mit deiner Mähre erst mal einholen, wenn du kannst.«

Bingos Wangen röteten sich vor Aufregung. »Du nennst mein Pferd eine Mähre? Na warte, mein Lieber. Los, Brauner, dem Angeber zeigen wir es.«

*

Anderthalb Wochen ritten sie durch zumeist menschenleeres Land. Nur gelegentlich begegnete ihnen ein Reisender. Nicht minder selten kreuzten fahrende Händler ihren Weg. Auf Feldern arbeitende Bauern sowie Ansiedlungen sahen sie nur aus der Ferne.

Nachts schliefen die Freunde an einem Feuer unter freiem Himmel, um früh am nächsten Morgen ihren Ritt fortzusetzen. Am elften Tag erblickte Falk zum ersten Mal die gewaltige Gebirgskette der Alpen, die sich majestätisch in den klaren Herbsthimmel erhob.

»Herrlich.« Der Ritter zügelte seinen treuen Vierbeiner Donner. »Ein erhebender Ausblick. Allein, um ihn zu genießen, hat sich die weite Reise gelohnt.«

»Gerate nicht allzu sehr ins Schwärmen«, gab Bingo unbeeindruckt zurück.

Falk legte einen Finger auf die Lippen. »Still! Einen solchen Anblick muss man schweigend und mit der gebührenden Andacht in sich aufnehmen.«

»Meinetwegen«, murmelte der Gaukler. »Genieße das Bild, solange du kannst. Das Schwärmen wird dir vergehen, wenn dir das Gebirge erst sein weniger liebliches Gesicht zeigt.«

*

Die Warnung war nicht übertrieben. Bereits im Vorgebirge wurden die Gefährten von einem heftigen Wetterumschwung überrascht. Es schüttete so sehr aus tief hängenden schwarzen Wolken, dass sich rasch Rinnsale bildeten und den Weg überfluteten. Rauer Wind peitschte den Freunden den eisigen Regen mit solcher Macht ins Gesicht, dass Falk das Gefühl hatte, von tausenden Nadelstichen gequält zu werden. Binnen Minuten sog sich die Kleidung voll Wasser und die beiden Männer wurden nass bis auf die Haut.

Bingo hing tief vornübergebeugt über dem Nacken seines Braunen. »Na, du Schwärmer, was sagst du nun? Und das ist erst der Anfang!«

»Ich kann nichts sagen«, gab Falk prustend zurück. »Ich habe den Mund voll Wasser und muss achtgeben, dass ich nicht während des Ritts ertrinke.«

»Spaßvogel! Aber du hast Glück. Am Waldrand hinter dem Hügel liegt ein Gasthof. Dort können wir übernachten.«

»Bist du schon früher dort eingekehrt?«

Bingo schüttelte den Kopf. »Doch das Gasthaus genießt einen guten Ruf. Es ist berühmt wegen seines ausgezeichneten Weines.«

»Damit kannst du mich momentan nicht locken«, gestand Falk. »Vielmehr reizt mich ein kräftiges Kaminfeuer, an dem ich mich aufwärmen kann. Ich bin völlig durchgefroren.«

»Glücklicherweise betreibt der Wirt nebenbei einen kleinen Handel«, erzählte Bingo. »Wir kaufen uns warme Mäntel und zusätzliche Decken für die Pferde. In den höheren Lagen wird es noch kälter.«

Die Pferde kämpften sich durch den schweren Grund den Hügel hinauf, denn der Boden wurde zunehmend morastiger. Die Rinnsale begannen sich in reißende Bäche zu verwandeln. Falk konnte sich nicht erinnern, jemals einen dermaßen drastischen Wetterumschwung erlebt zu haben. Wenn Bingo nicht übertrieb und dies wirklich erst ein Vorgeschmack war, stand ihnen noch eine Menge Unbill der Natur bevor.

»Dort vorne liegt der Gasthof«, machte Bingo den Ritter auf einen aus Holzbohlen errichteten Bau aufmerksam, der im Schutz starker Palisaden lag.

»Das sieht nach einer Festung aus«, stellte Falk fest, obwohl der Regen immer dichter und die Sicht immer schlechter wurde.

»Das hat einen guten Grund«, erklärte Bingo. »Im Winter kommen die Wölfe aus dem Gebirge herunter. Sie finden dort oben nichts zu fressen, sodass der Hunger sie in tiefere Lagen treibt.«

Der Regen wurde immer dichter und machte den Gasthof fast unkenntlich. Der Wald glich einer düsteren Wand. Einzelne Tannen am Fuß des östlichen Hügels wiegten sich wie Geister im Wind. Falk zügelte Donner und lauschte, als sich ein lang gezogenes Heulen in das Wüten des Sturmes mischte.

»Hörst du das? Was ist das?«

»Es klingt wie Wolfsgeheul.« Bingo schüttelte den Kopf. »Nein, das kann nicht sein. Zu dieser Jahreszeit kommen sie noch nicht herunter.«

Doch Falk war jetzt sicher, dass es sich um das Heulen von Wölfen handelte. Er drehte den Kopf zum Waldrand hinüber, als der Wind Rufe aus dieser Richtung herübertrug. Ein mit Planen bespannter Wagen brach aus dem finsteren Tann hervor. Der Weg war in der fortgeschrittenen Dämmerung nicht zu sehen. Der Kutscher auf dem Bock trieb die Pferde, unter deren Hufen Wasser und Schlick aufspritzten, mit der Peitsche an. Drei Reiter preschten in wildem Galopp an dem Zweispänner vorbei.

»Öffnet das Tor!«, schrie einer der Männer. »Wölfe sind hinter uns her!«

Erst jetzt bemerkte Falk das graue Rudel, das hinter dem Planwagen herhetzte. In der zunehmenden Dunkelheit und den vom Himmel fallenden Wassermassen waren die Raubtiere kaum zu erkennen.

»Komm, Bingo!«

Falk zog sein Schwert und trieb Donner an, der Gaukler preschte hinter ihm her. Wie Sturzbäche klatschte ihnen der Regen ins Gesicht. Die Freunde ignorierten das Toben der Elemente, denn die Wölfe kamen dem Planwagen immer näher. Ihr schauriges Heulen versetzte die Pferde des Gespanns in Panik.

Der Wagen schüttelte sich und bäumte sich auf, als das rechte Vorderrad gegen einen dicken Stein krachte. Das Gefährt hob vom Boden ab und mit Getöse brach die Vorderachse. Während der Kutscher in hohem Bogen vom Bock flog und sich im Schlamm überschlug, ging das Gespann durch. Der Wagen schlingerte, drehte sich im Kreis und schlug schließlich um. Zwei Fahrgäste wurden aus dem Wagen geschleudert, ein grauhaariger älterer Mann und eine schwarzhaarige junge Frau. Sie fielen mitten unter die Wölfe.

»Vater!« Die Frau war schneller auf den Beinen als ihr Begleiter. Sie riss dessen Schwert an sich und drosch auf die angreifenden Bestien ein. Doch diese ließen sich nicht zurücktreiben.

»Haltet aus!«, schrie Falk gegen das Tosen des Unwetters an. »Wir helfen Euch!«

Dann waren die Freunde heran. Falk führte sein Schwert mit Geschick, Bingo mit wilder Entschlossenheit. Sie drängten die überraschten Wölfe zurück, doch die wilden Tiere ließen sich nicht vertreiben. Zu groß war ihr Hunger, zu gewaltig ihre Gier. Obwohl zwei ihrer Artgenossen blutend und zuckend im Schlamm verendeten, griffen sie erneut an. Doch nun kam Unterstützung von anderer Seite. Inzwischen hatte der Wirt des Gasthauses seine Knechte zusammengetrommelt. Grölend und Äxte schwingend kamen die Männer herbeigelaufen. Endlich gaben die Wölfe auf. Die Meute zog den Schwanz ein und floh in die anbrechende Nacht hinaus.

Bingo senkte sein Schwert. »Gott sei Dank, sie flüchten. Dem Mädchen scheint nichts passiert zu sein.«

Dem grauhaarigen Mann hingegen schon. Er lag regungslos am Boden und die junge Frau beugte sich über ihn.

»Vater, hörst du mich?«

Mit einem Satz war Falk aus dem Sattel. Er ging in die Knie und untersuchte den bewusstlosen Mann. »Euer Vater ist mit dem Kopf aufgeschlagen. Ich bringe ihn ins Gasthaus.«

»Ich danke Euch« hauchte die junge Frau.

Falk hob den Verletzten auf und trug ihn zu dem offen stehenden Tor, während sich die Reitereskorte daran machte, die durchgegangenen Zugpferde einzufangen.

*

Die junge Frau kümmerte sich um ihren Vater, der schon bald die Augen aufschlug. Man hatte ihn im Wirtshaus auf eine Bank gelegt. Zum ersten Mal hatte Falk Gelegenheit, beide näher zu betrachten. Die von einem Band gehaltenen langen, dunklen Haare des Fräuleins umrahmten ein zierliches Gesicht mit einer kleinen Stupsnase und einem vollen Mund. Die Ärmel ihres blauen Kleides waren gebauscht, um den Hals trug sie eine Kette. Das Gesicht des Mannes war ebenmäßig gezeichnet, sein grauer Bart unterstrich ebenso wie die Kleidung den Eindruck eines vornehmen Reisenden.

»Dem Himmel sei Dank, du kommst wieder zu dir, Vater.«

»Ursula!« Beim Anblick seiner Tochter huschte ein Lächeln über das Gesicht des grauhaarigen Mannes. Er richtete sich auf. »Wir sind gerettet?«

»Ja, Vater.« Das Mädchen deutete zu Falk und Bingo. »Diesen beiden Männern haben wir zu verdanken, dass wir noch am Leben sind. Sie sind uns zu Hilfe geeilt und haben die Wölfe so lange zurückgehalten, bis der Wirt mit seinen Knechten zur Stelle war.«

»Verzeiht, wenn ich widerspreche«, ergriff der Ritter das Wort. »Die Darstellung Eurer Tochter ist nicht ganz richtig. Wenn nicht sie es gewesen wäre, die tapfer auf die Wölfe einschlug, wären Bingo und ich zu spät gekommen.«

Der Gaukler verbeugte sich. »Mein Kompliment, schönes Fräulein! Ihr habt uns fürwahr beeindruckt. Ihr könnt mit dem Schwert besser umgehen als so mancher Mann.«

»Meine Tochter ist sozusagen mit dem Waffenhandwerk groß geworden. Sehr zu meinem Kummer, wie ich gestehen muss. Diesmal jedoch scheinen ihre Fertigkeiten mit dem Schwert ein Glücksfall gewesen zu sein.« Der Grauhaarige betastete die Stelle am Hinterkopf, wo er auf den Stein geschlagen war, und verzog das Gesicht. »Mein Kopf schmerzt.«

»Ich bringe dich in deine Kammer, Vater.« Ursula wandte sich Falk und Bingo zu. »Entschuldigt uns bitte.«

Der Ritter trat beiseite. »Selbstverständlich.«

Der Verwundete erhob sich von der Bank. »Wir sehen uns morgen früh. Dann werde ich hoffentlich in besserer Verfassung sein. Ich danke Euch noch einmal.«

»Ihr könnt mir jetzt folgen.« Der Gastwirt beleuchtete mit einer Kerze die Stufen einer hölzernen Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte. »Die Mägde haben Eure Kammer hergerichtet, Herr.«

»Georg, Lutz und Hans, holt unser Gepäck aus dem umgestürzten Wagen«, wies Ursula die drei Reiter an, die den Planwagen begleitet hatten und sich still im Hintergrund hielten.

Hans spähte unruhig durchs Fenster. »Es wird schon dunkel. Sicher lauern die Wölfe noch draußen.«

»Ich lasse euch von einigen Knechten begleiten«, bot der Gastwirt an.

Bingo musterte die drei Männer. »Ihr seid die Bediensteten der Herrschaften?«

»Ganz recht«, antwortete Lutz mürrisch. »Aber was geht dich das an?«

»Nicht viel.« Der Gaukler zwirbelte seinen Oberlippenbart. »Ich weiß nur, dass ich euch auf der Stelle hinauswerfen würde, wenn ich euer Herr wäre.«

»Was erlaubst du dir?«, empörte sich Lutz.

»Ich spreche nur aus, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Ihr Kerle habt eure Herrschaft feige im Stich gelassen, als der Wagen umschlug. Statt zu helfen, hattet ihr nichts anderes im Sinn, als euch selbst in Sicherheit zu bringen.«

»Wir mussten dafür sorgen, dass das Tor geöffnet wurde«, behauptete Georg. »Ansonsten wäre es für alle schlecht ausgegangen.«

»Dazu waren gleich drei Männer nötig?«

»Misch dich besser nicht in unsere Angelegenheiten ein, Dicker«, versetzte Hans. »Sonst bekommt es dir schlecht.«

»Dicker?«, brauste der Gaukler auf. »Da soll doch gleich …«

»Halte ein, Bingo«, hielt Falk seinen Freund zurück. »Die Burschen haben recht. Es geht uns nichts an. Wenn die Reisenden sich mit Feiglingen umgeben, ist das ihre Sache.«

»Wie nennst du uns? Feiglinge?« Georg ballte die Hände zu Fäusten. »Jetzt reicht es!«

»Ja?« Falk stellte sich dem Burschen entgegen. »Sprich dich ruhig aus. Also, was hast du mir zu sagen?«

Georg wich zurück. »Nichts. Es ist schon gut.«

»Kommt, wir holen das Gepäck«, forderte Hans seine Kameraden auf.

Die drei Männer verließen das Gasthaus, während Ursula und ihr Vater von dem Gastwirt nach oben geführt wurden. Die Freunde ließen sich an einem Tisch nieder und bestellten Wein und etwas zu essen.

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