Leseprobe – Falk – Grafschaft der Angst


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EINS

Ritter Falk von Steinfeld und sein Freund Ritter Bingo della Rocca waren von einer langen, abenteuerlichen Reise in den Süden nun wieder auf dem Heimweg. Dank Bingos ›einzigartiger‹ Ortskenntnis hatten die Freunde sich verirrt.

Falk hatte das schon vor Tagen geahnt, bisher aber geschwiegen. Bingo reagierte bei Vorwürfen bisweilen sehr ungehalten. Irgendwann jedoch reichte es Falk, auch wenn er diesen schönen Tag damit vermutlich ruinieren würde. Als sie Seite an Seite einen kaum noch erkennbaren Weg entlangritten, platzte es aus ihm heraus. »Ich wette zehn Goldstücke, dass du keine Ahnung …«

»Einen Augenblick, Falk!«, unterbrach Bingo ihn, als wüsste er, in welche Richtung das Gespräch laufen würde. Er seufzte und fasste in seine Satteltasche. Das Metall war kühl in seinen Händen. Die Münzen klapperten leise, als er sie herausholte und Falk hinhielt, der diese mit einer gewissen Genugtuung nahm. »Hier sind die zehn Goldstücke. Es zerreißt mir das Herz.« Er gestikulierte dramatisch mit weit ausholenden Handbewegungen. Die Feder an seinem Barett wippte. »Aber der großartige, einmalige, unfehlbare …«

Falk verdrehte leicht genervt die Augen.

»… Bingo ist durch widrige Umstände …«

Widrige Umstände?, dachte Falk amüsiert.

»… leider nicht in der Lage zu sagen …«

»Halt, halt!« Falk lachte. »Sag es kurz und ohne Umstände: Ich habe recht!«

Theatralisch schlug Bingo sich mit der Linken gegen die Stirn und schloss für einen kurzen Moment die Augen. »Es ist so! Entsetzlich!« Seine Stimme wanderte eine Oktave höher. »Wo legen wir unsere müden Häupter nieder?«

»Vielleicht kommen wir vor Anbruch der Nacht doch noch in ein Dorf.« Noch hatte Falk die Hoffnung nicht ganz aufgegeben.

Und tatsächlich, sie hatten Glück. Ein paar Minuten später zügelte Bingo sein treues Pferd. »Oh! Was erspäht meine unfehlbare Pupille? Eine Burg!«

Falk folgte seinem Blick. Burg? Nun, diese Bezeichnung erschien ihm etwas übertrieben, soweit er das von hier aus beurteilen konnte. Die Silhouette war … unvollständig. Ein großer Teil der Festung schien zu fehlen. »Hm. Es scheint mehr eine Ruine zu sein«, meinte er, als sie weiterritten und er mehr erkennen konnte. Die besten Zeiten hatte dieses Gemäuer längst hinter sich.

»Besser ein löchriges Dach über dem Kopf als gar keines, Falk«, entgegnete Bingo pragmatisch. Er gab sich mit allem zufrieden, solange er nicht unter freiem Himmel schlafen musste. »Es ist nicht weit. Da vorne zweigt der Weg ab. Lass uns hinaufreiten!«

Falk war vorsichtig. Wie oft waren sie schon in einen Hinterhalt geraten? Er sah sich aufmerksam um. »Ich bin mehr dafür weiterzureiten. Wenigstens bis hinter den Hohlweg. Von dort hat man bestimmt einen weiten Blick ins Land.«

Bingo schnaubte abfällig. »Das ist Zeitverschwendung! Dort oben finden wir mit Sicherheit ein ruhiges Plätzchen.«

Falk gab nach. Er hatte keine Lust, sich zu streiten. »Na schön.«

*

Die zwei Ritter blieben nicht unbemerkt. Jemand beobachtete ihr Näherkommen bereits eine ganze Weile von einem hohen Turm aus. Um genau zu sein von jenem Turm, den Falk und Bingo erspäht hatten. Es war der perfekte Ort, um alles in der Gegend im Blick zu haben.

»Sieh an! Zwei Reiter, die ihre Nasen in Dinge stecken wollen, die sie nichts angehen. Hat Graf Dino del Monte doch noch Dumme gefunden?«

Augenblicke später tönte eine eigenartige, auf einer Flöte geblasene Melodie durch das Gemäuer. Sie brach sich an den Wänden und hallte seltsam wider.

Eine Spinne krabbelte einen der Steine hoch und begann, ihr Netz instand zu setzen.

Eine graue Maus huschte hinaus ins Freie und verschwand unter einem nahe gelegenen Busch.

»Kommt herbei, meine gefiederten Freunde, kommt herbei!«

Drei Adler wandten ihre Köpfe in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Sie waren aufgeregt. Unruhig.

»Tötet die Eindringlinge, meine Freunde! Stoßt auf sie hinab!«

Als hätten die Tiere nur auf einen Befehl gewartet, stoben sie mit kräftigen Flügelschlägen aus dem Turm.

*

Bingo entdeckte sie zuerst. »He! Aus dem verfallenen Turm fliegen drei Adler. Der eine ist ja … riesig!« Noch nie in seinem Leben hatte er ein so großes Exemplar gesehen. Es war wirklich gewaltig. Als wäre das Tier einem Albtraum entsprungen.

Auch Falk hatte die Tiere bemerkt. »Donnerwetter, ja!« Er war ebenso beeindruckt wie sein Freund und Gefährte. »Übrigens … mir war, als hätte ich Flötenspiel gehört.«

Bingo nickte zustimmend. »Mir war auch so. Aber das war sicher eine Täuschung. Wahrscheinlich verursacht der Wind, der durch das Gemäuer bläst, solche Geräusche«, vermutete er. Denn wer sollte schließlich schon hier draußen im Nirgendwo rumsitzen und Flöte spielen? »Wir … He! Die Adler!«

»Bei allen … sie fliegen auf uns zu!« Solch ein Verhalten kannte Falk von diesen Tieren nicht. Normalerweise waren sie scheu und machten einen großen Bogen um Menschen. Zumindest die, denen er bisher begegnet war.

Bingo traute seinen Augen nicht. »Sie … sie greifen uns an!«, stieß er überrascht hervor. Warum? Sie hatten ihnen nichts getan.

Die Vögel kamen direkt auf sie zu und stießen dabei schrille Töne aus.

»Das ist ja … seit wann greifen Adler Menschen an, ohne dass sie gereizt wurden oder man ihrem Horst zu nahe gekommen ist?« Falk überlegte fieberhaft, was sie tun sollten.

Bingo hatte sich schon entschlossen. Er zog sein Schwert. »Diese Raubvögel tun es jedenfalls. Zieh auch dein Schwert, Falk!«

Für eine Flucht war es bereits zu spät. Ohnehin gab es außer dem Turm nichts, was ihnen Schutz geboten hätte. Und so folgte Falk Bingos Beispiel.

Die Freunde wehrten den ersten Angriff der Raubvögel ab. Doch als die Adler kurz darauf zurückkehrten, scheuten die Pferde. Bingo verlor die Kontrolle und fiel aus dem Sattel, schlug hart auf der Erde auf und stöhnte.

»Bingo!« Falk blieb vor Schreck fast das Herz stehen, als sich einer der Adler sofort auf den am Boden Liegenden stürzte. Ohne seine Waffe, die er verloren hatte, war Bingo dem Tier hilflos ausgeliefert. Immer wieder hieb es mit seinem scharfen Schnabel nach ihm, nachdem es ihm mit seinen spitzen Krallen einige tiefe Kratzer versetzt hatte.

»Hilfe!«

»Ich komme, Bingo! Halte durch! Ich bin gleich bei dir!« Falk sprang vom Pferd und rannte los, voller Sorge um seinen Freund. »Da!« Ein gezielter Hieb gegen den Kopf eines der angreifenden Tiere schleuderte es zur Seite. »Du greifst keinen Menschen mehr an!«

»Hinter dir, Falk! Vorsicht!«

Die Warnung kam in letzter Sekunde. Mit knapper Not entging Falk dem Schnabelhieb. Doch die scharfen Fänge des Raubvogels zerrissen sein Wams und hinterließen schmerzhafte Spuren auf seinem Oberkörper. »Ah!« Wütend ging Falk zum Gegenangriff über. »Jetzt hört die Gemütlichkeit auf! Da und da, du gefiederter Räuber!«

Bingo, der immer noch benommen am Boden lag, bemerkte zu seinem Entsetzen das Näherkommen des dritten Adlers. »Jetzt … hört alles auf, Falk! Der Riesenadler stürzt sich auf uns.« Mühsam rappelte er sich auf. Niemals hätte er gedacht, dass er mal so enden würde. Dahingestreckt von einem Vogel!

Falk nickte. »Wirf dich erst im letzten Augenblick zur Seite, Bingo. Vielleicht zerschmettert er am Boden.«

»Mach ich.«

Doch …

Falks Plan ging nicht auf. Im letzten Moment drehte der Vogel ab.

»Er fliegt davon, Falk!«

»Gott sei Dank!« Erleichtert stieß Falk die Luft aus und lauschte. »Oh! Da ist wieder das Flötenspiel!« Er sah dem Tier nach. »Und der Adler kehrt auf den Turm zurück.

Hm …«

Bingo krauste nachdenklich die Stirn. Auch er vermutete einen Zusammenhang. »Sollte es möglich sein, dass das Flötenspiel eine Art Befehl ist? Ich habe zwar noch nie davon gehört, dass man Adler auf diese Weise abrichten kann …«

»Ich auch nicht. Aber vergiss nicht, man kann sie zur Jagd abrichten wie Falken und andere Raubvögel.«

Bingo legte einen Zeigefinger an sein Kinn. »Auf Hasen … Ja! Aber auf Menschen? Und dann noch mit Musik! Es ist nicht zu fassen! Wie dem auch sei, mit einem Hasen bin ich bestimmt nicht zu verwechseln.« Er klang leicht empört.

»Mir ist nicht zum Scherzen zumute! Komm!« Da ihre Pferde fortgelaufen waren, machte Falk sich zu Fuß auf den Weg. »Unsere Pferde sind durch den Hohlweg geflohen. Hoffentlich finden wir sie.«

»Allmächtiger!« Erst jetzt wurde Bingo die ganze Tragweite bewusst. »Unser Geld und die Begleitschreiben der Grafen und Fürsten, bei denen wir zu Gast waren, sind in den Satteltaschen! Ganz davon zu schweigen, dass ich ungern zu Fuß gehe.«

Nun, wer tat das schon? Noch dazu, wenn man ein Ritter war.

»Außerdem tun mir alle Knochen weh … und die Kratzer und Schrammen brennen …«

Genervt stapfte Falk weiter. »Glaubst du, meine Kratzer bereiten mir Wohlbehagen? Wir können froh sein, dass es noch so glimpflich für uns ausgegangen ist!«, erinnerte er seinen Freund an ihr Glück. »Du hättest ein Auge oder – schlimmer noch – dein Leben verlieren können!«

 

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