Das weite Land lag einladend vor Falk und die Sonne schien von einem wolkenlosen, blauen Himmel. Der junge Ritter war unbeschwert wie lange nicht. Er war in die adlige Gesellschaft aufgenommen worden, doch nach den jüngsten Ereignissen um den hinterlistigen Grafen Armin hatte er für eine Weile genug vom höfischen Leben. Er fühlte sich zu jung, um sesshaft zu werden. Er wollte die Welt erkunden und erst zum Burgherrn werden, wenn er dafür reif genug war. Bis dahin verwalteten Fürst Gottfried von Starkenfels und Fürst Roderich seinen künftigen Besitz.
»Eine herrliche Zeit steht uns bevor, Donner.« Falk tätschelte seinem Braunen den Nacken. »Die Fürsten haben mir Empfehlungsschreiben an ihre Freunde mitgegeben. Um fehlende Gastfreundschaft brauchen wir uns nicht zu sorgen. Man wird uns mancherorts mit offenen Armen empfangen. Wir werden neue Menschen und Länder kennenlernen!«
Der Vierbeiner wieherte verständig. Falk lachte. Manchmal hatte er wirklich den Eindruck, dass sein Reittier seine Worte verstand.
Graf Armins Burg blieb hinter ihm zurück und Donner trug ihn immer weiter hinaus. Falk passierte kleine Dörfer und Gehöfte, ohne Kontakt zu anderen zu suchen. Für eine Weile war die Einsamkeit eine Wohltat. Sie half ihm dabei, seine Gedanken zu sortieren.
Drei Tage lang entfernte er sich immer weiter von seinen Freunden und der Burg, die in seinen Besitz übergegangen war. Er ritt am Tag und schlief des Nachts im Freien. Am dritten Tag erreichte er Ritter Scharfensteins Ländereien.
»Fürst Gottfried meint, er wäre ein Raubritter«, sagte er zu dem Braunen. »Aber mit unserem Empfehlungsschreiben haben wir nichts zu befürchten.«
Falk befürchtete keinen Überfall. Der Scharfensteiner würde sich hüten, etwas gegen den Freund so mächtiger Leute, wie die Fürsten es waren, zu unternehmen. Er zügelte jedoch seinen Vierbeiner, als er verdächtige Geräusche vernahm, und lauschte. Das Klirren von Metall auf Metall sprach eine deutliche Sprache. Vor ihm wurde gekämpft.
*
Falk zögerte keinen Augenblick. »Vorwärts, Donner! Sehen wir nach, was dort geschieht.«
Der Braune preschte durch einen Hohlweg, der zu beiden Seiten von lichtem Wald gesäumt wurde. Der Weg wand sich nach Westen, wodurch Falk keine freie Sicht hatte. Erst am Ende der Biegung wurde er Zeuge der Ereignisse: Gleich eine ganze Horde Wegelagerer hatte es auf einen Reisenden abgesehen.
Falk zog sein Schwert. Er trieb Donner an und stürzte sich ins Kampfgeschehen, ohne lange nachzudenken. Die feige Bande wähnte sich im Vorteil, doch die Räuber sollten sich irren. Sie erwarteten nicht, dass ihr vermeintliches Opfer Hilfe bekam.
Donner preschte mitten zwischen die Angreifer und trieb sie auseinander. Ihre Verwirrung hielt jedoch nur für ein paar Sekunden an. Sie dachten nicht daran, von ihrer Beute abzulassen. Falk erhaschte nur einen kurzen Blick auf das Opfer, einen wohlbeleibten Burschen, der sich seiner Haut zu wehren wusste. Sein Schwert teilte mächtig unter den Angreifern aus. Einen bekam er direkt zu fassen und schleuderte ihn dessen Kumpanen entgegen, was ihren Ansturm verzögerte, sie aber nicht aufhielt.
Ein wüster Fluch drang an Falks Ohr. Einer der Kerle hatte es nun auf ihn abgesehen. Der Ritter sprang aus dem Sattel, um Donner nicht zu gefährden. Schon wurde er heftig attackiert. Ihre Klingen schlugen aufeinander, während in Falks Rücken weiterhin verbissen gekämpft wurde. Es gelang ihm, seinem Gegner das Schwert aus der Hand zu schlagen. Blitzschnell setzte er nach und hieb dem Kerl die Faust unters Kinn.
»Das wird dir die Lust vertreiben, harmlose Reisende zu überfallen.«
Er fuhr herum, um dem Dicken beizustehen – und blieb wie angewurzelt stehen. Von harmlos konnte keine Rede sein. Kein Wegelagerer stand mehr auf den Beinen. Sie lagen im Dreck und rührten sich nicht. Der Dicke hatte sie im Alleingang ausgeschaltet.
»Alle Achtung! Während ich einen der Räuber entwaffnen konnte, habt Ihr gleich sechs Männer aufs Kreuz gelegt. Eine reife Leistung!«
»Das war eine Kleinigkeit.« Der Dicke winkte lachend ab. Er drehte die Enden seines Zwirbelbartes zwischen den Fingern und bedachte die bewusstlosen Wegelagerer mit einem verächtlichen Blick. »Allerdings hätte mir der siebte Schurke zum Verhängnis werden können. Eure Hilfe war deshalb hochwillkommen.«
Falk konnte nicht anders, als in das Lachen einzustimmen. Er war beeindruckt. Der Dicke war nicht nur ein hervorragender Kämpfer, er hatte zudem Humor.
»Gestattet, dass ich mich bedanke und mich vorstelle. Ich bin Bingo. Bingo, der größte aller Gaukler.«
»Bescheiden seid Ihr nicht gerade.« Falk ergriff die dargebotene Hand und nannte seinen Namen. Plötzlich hielt er einen Blumenstrauß in der Hand.
Abermals brach Bingo in Gelächter aus. »Was sagt Ihr? Ist das nicht ein nettes Kunststück?«
»Ja, ganz nett.« Hufschlag erregte Falks Aufmerksamkeit. »Aber all Eure Kunststücke werden Euch nicht gegen die da helfen.«
Eine Reitertruppe kam den Weg entlang. Falk zählte mehr als ein Dutzend bewaffneter Männer. Sie trugen Helme, Lanzen und Schwerter. Ein stattlicher Ritter mit wallendem Haar führte sie an.
»Die Scharfensteiner! Das sind selbst für mich zu viele«, unkte der Gaukler. Seine Heiterkeit war verflogen.
»Mal sehen, vielleicht hilft jetzt eins meiner Kunststücke«, gab Falk zurück.
Die Reiter blieben vor ihnen stehen. Beim Anblick der Bewusstlosen verfinsterte sich die Miene ihres Anführers. »Bei allen Teufeln – habt ihr meine Männer angegriffen?«
»Mit Verlaub, es war genau umgekehrt, Herr Ritter«, versicherte Bingo.
»Schweig, Bursche! Los, Männer, macht sie nieder.«
»Haltet einen Augenblick ein.« Falk hob beschwichtigend die Hände. »Handelt nicht voreilig, denn es würde Euch leidtun.«
Der Ritter schäumte vor Zorn. »Noch niemand hat sich auf meinem Land meinen Männern widersetzt. Die es wagten, haben es mit dem Leben bezahlt. Mit eurer Kühnheit habt ihr zwei einen großen Fehler begangen. Deshalb wird auch euch dieses Schicksal ereilen!«
Falk erkannte, dass friedliche Worte vergebliche Liebesmüh waren. »Los, Bingo!« Er gab dem Dicken einen Stoß. »Ins Gebüsch. Dorthin können uns die Schergen auf ihren Pferden nicht folgen.«
Der junge Ritter und sein neuer Bekannter sprangen durchs Unterholz davon. Bellende Schreie folgten ihnen. Die Männer sprangen von ihren Pferden und machten sich an die Verfolgung.
»Sie kommen. Lange können wir nicht vor ihnen davonlaufen«, fürchtete Bingo.
Der Gaukler hatte recht. Die Häscher würden ihnen kein Pardon gewähren. Falk musste schnell handeln, sonst waren sie verloren. Dazu musste er in die Offensive gehen. Statt die Flucht fortzusetzen, sprang er hinter einen Baum und duckte sich. Er gab Bingo einen Wink.
»Lauft weiter, damit sie Euch verfolgen«, zischte er. »Ich bereite dem Ritter eine kleine Überraschung.«
Der Gaukler stellte keine überflüssigen Fragen. Er hastete durchs Gebüsch und war dabei nicht zu überhören. Zweige brachen unter seinem Körpergewicht und er fluchte lauthals. Sekunden später folgten die Schergen des Scharfensteiners. Sie machten nicht weniger Lärm als der Dicke. Mit Rufen trieben sie sich gegenseitig an. Ihr Herr war nicht unter ihnen. Damit hatte Falk gerechnet. Als die Häscher ihn passiert hatten, ohne ihn in seinem Versteck zu bemerken, schlug er den Weg ein, den er eben gekommen war. Der Ritter saß auf seinem Pferd und wartete auf die Rückkehr seiner Männer. Zu Falks Enttäuschung war er nicht allein. Eine Eskorte mit gezückten Schwertern sicherte ihn.
»Habt ihr sie endlich eingefangen?«, schrie er.
»Noch nicht, Herr, aber wir kreisen sie ein«, kam die Antwort.
Bingo blieb nicht mehr viel Zeit. Wenn Falk sich nicht beeilte, war der Gaukler verloren. Den Häschern lag so wenig wie ihrem Ritter daran, den Dicken lebendig in die Hände zu bekommen.
Behände kletterte Falk auf einen Baum. Geräuschlos schob er sich durch das Astwerk, bis der Scharfensteiner genau unter ihm war. Der Schreihals ahnte nicht, was ihm bevorstand. Falk beugte sich vor und griff blitzschnell zu. Er bekam den Ritter am Umhang zu fassen und zog den Zappelnden in die Höhe, bevor dessen Männer begriffen, was geschah. Er zückte seinen Dolch und hielt ihn seinem Gefangenen an die Kehle.
»Jetzt beruhigt Euch. Und ruft die Männer zurück, sonst seid Ihr es, dessen letztes Stündchen geschlagen hat.«
»Das ist unerhört!« Der Scharfensteiner wehrte sich nach Kräften, doch gegen Falk kam er nicht an. Er sah ein, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als auf die Forderungen einzugehen. »Ihr habt es gehört. Tut, was er verlangt.«
Sie kamen dem Befehl ihres Herrn nach und ließen die Waffen sinken. Falk atmete auf. Soeben kehrten die Häscher mit Bingo zurück. Sie hatten ihn erwischt. Falk hielt den Ritter fest und ließ sich gemeinsam mit ihm von dem Ast herab. Da er ihn mit dem Dolch bedrohte, wagten die Schergen nicht, sich auf ihn zu stürzen.
»So ist es richtig. Wenn ihr euren Herrn behalten wollt, seid vernünftig. Lasst Bingo los, sofort!« Die Männer gehorchten. »Rasch, Bingo, öffne meine Satteltasche und nimm den Brief an Ritter Scharfenstein heraus.«
Der Gaukler tat, wie ihm geheißen. Die Bewaffneten ließen ihn aus Sorge um ihren Herrn gewähren. Mit spitzen Fingern holte Bingo das Schriftstück aus der Tasche und reichte es an Scharfenstein. Dessen Augen wurden immer größer, als er die Siegel erblickte.
»Oh, das sind ja … die Siegel der Fürsten Gottfried und Roderich.«
»Richtig. Und nun lest.«
Scharfensteins Augen wurden immer größer, als er den Inhalt des Schreibens zur Kenntnis nahm. »Verzeiht, Falk«, bat er zerknirscht. »Es war ein Fehler, mich gegen Euch zu stellen. Wie konnte ich aber auch ahnen, dass Ihr der Schützling solch mächtiger Herren seid? Ich bin untröstlich.«
»Schon gut.« Falk war froh, dass der Streit beendet war. »Ich hoffe, mein Freund und ich können nun ungehindert weiterreiten.«
»Selbstverständlich, dafür bürge ich. Doch bevor Ihr aufbrecht, müssen wir unsere Versöhnung feiern. Das bin ich Euch und Eurem Freund schuldig. Nehmt meine Einladung als meine Gäste an.«
»Danke, Ritter Scharfenstein, das ist sehr freundlich von Euch. Aber wir haben eine wichtige Mission zu erfüllen. Bei unserer Rückkehr nehmen wir Eure Gastfreundschaft gerne in Anspruch.«
»Wie Ihr wollt.«
Der Burgherr wirkte ein wenig enttäuscht. Falk verabschiedete sich von ihm und wenig später brachen er und Bingo auf.
*
Von nun an blieben sie unbehelligt. Auf ihrem Weg begegnete ihnen kein Mensch, schon gar keiner, der ihnen ans Leben oder an den Geldbeutel wollte. Ungehindert durchquerten sie Scharfensteins Gebiet. Stunden später hatten sie es hinter sich gelassen.
»Wie hat dir eigentlich mein Kunststück gefallen, großer Gaukler?«, fragte Falk.
»Ausgezeichnet. Ich hatte mich schon verloren geglaubt. Aber du hast mich auch neugierig gemacht. Was für eine wichtige Mission hat dich daran gehindert, Ritter Scharfensteins Einladung anzunehmen?«
Falk lachte auf. »Die Mission, am Leben zu bleiben. Scharfenstein war vom Brief meiner Freunde beeindruckt, aber bei diesen Raubrittern sollte man nie zu sicher sein. Ehrlich gesagt, ich traue ihm nicht. Ich habe ihm auch seine plötzliche Freundschaft nicht abgenommen. Ich spielte ihm einen bösen Streich. Das vergisst ein Mann wie er nicht. Ich bin sicher, er hätte sich etwas ausgedacht, um sich zu rächen. Unter seinem Dach wären wir nicht sicher gewesen.«
»Verstehe. Ich wäre seinen Beteuerungen glatt auf den Leim gegangen«, gestand Bingo. »In Wahrheit befindest du dich also weder auf einer Mission noch hast du ein bestimmtes Reiseziel.«
»Nein, keines von beidem. Ich bin einfach aufs Geratewohl losgeritten. Ich will mir die Welt ansehen, bevor ich mich auf meiner Burg niederlasse.«
Bingo lächelte vergnügt. »Das verstehe ich gut. Mich hat es nie lange an einem Ort gehalten. Seit fünf Jahren schweife ich in der Welt umher und schaue, wohin es mich verschlägt. Ich zeige meine Kunststücke an den Höfen der hohen Herren.«
»Wohin bist du jetzt unterwegs?«
»Ich bin auf der Reise an den Hof des Fürsten Ortwin von Seefels. Der Fürst gibt jedes Jahr ein Fest, zu dem alles eingeladen wird, was Rang und Namen hat.«
»Von diesem Fest habe ich noch nie gehört.«
»Es hat einen ernsten Hintergrund. Manche sprechen gar von einem Wunder.«
Wenn von Wundern die Rede war, war Falk skeptisch. »Erzähle mir davon.«
»Vor vier Jahren ist Ortwins Söhnchen von einem Schiff vor der Steilküste ins Meer gefallen. Ein Mann der Schiffsbesatzung hat ihn unter Einsatz seines Lebens vor dem Ertrinken gerettet. Seitdem wird diese wunderbare Rettung jedes Jahr gefeiert. Als Höhepunkt der Festlichkeiten hat sich der Fürst etwas ganz Besonderes ausgedacht.«
»Du machst mich neugierig.«
Bingo kicherte. »Das dachte ich mir. Nun, an der Stelle, wo sein Sohn ins Wasser gefallen ist, wirft Fürst Ortwin eine goldene Schale ins Meer. Derjenige, dem es gelingt, sie zu bergen, der darf sie behalten. Er wird hoch geehrt.«
»Die Freundschaft des Grafen scheint mir erstrebenswert«, überlegte Falk.
»Ganz gewiss. Er ist ein mächtiger Mann.«
»Dann werde ich dieses Jahr die Schale aus dem Meer fischen«, entschied Falk. Es ging ihm nicht um das Gold. Er wollte sich beweisen und zeigen, was in ihm steckte. Zudem war die Freundschaft zu anderen Rittern und Adligen ein erstrebenswertes Ziel.
»Traust du dir nicht zu viel zu?«, zweifelte Bingo. »Von den drei Schalen, die in den vergangenen Jahren ins Meer geworfen wurden, wurde nur eine geborgen. Die beiden anderen blieben verschollen. Nicht einmal den stärksten Männern ist es gelungen, sie aus der Tiefe zu holen. Ich habe mein Glück selbst versucht, doch die Natur hat sich gegen mich verschworen. Schau mich nur an.«
Falk drehte den Kopf zur Seite und musterte den Gaukler. »Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Ich bin zu fett. Meine Körperfülle verhindert, dass ich im Meer untergehe.«
»Das kann mich nicht abhalten. Ich will es auf jeden Fall versuchen.«
Schließlich war Falk schlank und kräftig gebaut und eine stattliche Erscheinung. Er traute sich zu, die goldene Schale aus dem Wasser zu fischen. Wenn es nicht gelang, war auch das kein Anlass für Trübsal. Schließlich hatte er nichts zu verlieren.