Leseprobe – Falk – Ohne Gnade


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EINS

Es ging immer weiter nach Süden, mittlerweile schon im zweiten Jahr. An manchen Tagen dachte Falk, ihre Reise ins Morgenland würde niemals ein Ende finden. Er sehnte sich nach der Heimat und musste immer häufiger an Daheim denken. Acht Wochen waren vergangen seit dem Abenteuer mit dem kopflosen Reiter. Nun ritten Falk und Bingo unter einem geradezu malerischen blauen Himmel dahin. Kaum einmal zogen Wolken auf, und dementsprechend selten fiel Regen.

In der gebirgigen Landschaft hingen die Dörfer wie Schwalbennester an den Bergwänden. Der exotisch anmutende Anblick versetzte Falk in Erstaunen.

»Weshalb liegen die Dörfer eigentlich an so unzugänglichen Orten?«, erkundigte er sich bei seinem Weggefährten, wobei er zu den Felsen hinauf deutete. »Hier im Tal wäre das Gelände viel günstiger, die Dörfer einfacher zu bauen und müheloser zu erreichen.«

»Das schon«, pflichtete Bingo ihm bei, »aber wir sind nicht weit von der Küste entfernt, und die birgt eine ständige Gefahr für die hier lebenden Menschen.«

»Von was für einer Gefahr redest du?«, fragte Falk.

»Man merkt, dass du dich hier nicht auskennst«, antwortete der Gaukler. »Sonst wüsstest du die Vorsicht der Menschen zu schätzen. Von Zeit zu Zeit dringen nämlich übers Meer kommende Seeräuber und Sklavenjäger bis hierher vor, um menschliche Beute zu machen, seit Jahrhunderten schon. Deshalb die wehrhafte Lage der Dörfer. Während der Regierungszeit des großen Kaisers soll es besser geworden sein, aber nun ist Friedrich tot, und manches alte Problem kehrt zurück. Wer weiß, ob die Seeräuber nicht schon wieder wagemutiger werden.«

»Keine angenehme Vorstellung, von Sklavenjägern eingefangen und verschleppt zu werden.«

»Siehst du? Deshalb die Vorsicht der Menschen. Sie nehmen lieber die Mühsal in Kauf, ihre Dörfer in der Felswand zu bauen, als hier unten schutzlos ausgeliefert zu sein.«

»Das kann ich verstehen.« Falk stutzte. »Was ist das dort vorn? Sieht aus wie eine menschliche Gestalt.«

»Großer Himmel!«, stieß Bingo aus. »Tatsächlich. Ein Baumstamm ragt über die Felsen hinaus ins Leere. Ein Mann hängt daran.«

»Und er bewegt sich. Also ist er am Leben. Komm, wir müssen ihm helfen.«

Ohne zu zögern, trieben die Freunde ihre Reittiere an. Das Packpferd preschte hinter ihnen her. Der Hufschlag der Vierbeiner donnerte durchs Tal, als sie über den kargen Untergrund galoppierten. Gestein wurde losgetreten und spritzte davon.

»Vielleicht handelt es sich um einen Verbrecher, der auf diese Weise bestraft wird«, überlegte Bingo laut. »Meinst du wirklich, wir sollen uns einmischen?«

»Das ist hoffentlich nicht dein Ernst. Natürlich sollen wir«, schimpfte Falk. »Und wir werden! Oder kannst du seelenruhig weiterreiten, solange der Unglückliche dort oben hängst? Wenn es nun ein Kaufmann ist oder ein anderer Reisender, der von Räubern überfallen und in diese Lage gebracht wurde?«

»Schon gut, du hast ja recht«, lenkte Bingo ein. »Egal wer er ist und warum er da hängt, wir müssen uns auf jeden Fall Gewissheit verschaffen. Bei der Vorstellung, einen hilflosen Menschen seinem Schicksal zu überlassen, könnte ich nicht mehr ruhig schlafen.«

Sie zügelten ihre Pferde vor einem Felsabschnitt, der weniger steil anstieg als die umliegenden Wände, und sprangen aus dem Sattel. Die Freunde ergriffen ihre Schwerter und machten sich an den Aufstieg.

*

Der Baumstamm ragte drei Meter über die Felskante hinaus. Man hatte einen schweren Felsblock auf das eine Ende gewälzt, um ihn in dieser Position zu halten. Die Handgelenke des Mannes waren am anderen Ende mit Stricken festgebunden. Der Gefangene pendelte hilflos über dem Abgrund. Aus eigener Kraft konnte er sich nicht befreien. Als er die Ritter bemerkte, drehte er den Kopf zur Seite, einen flehenden Blick in den Augen. Unverständliches Nuscheln drang herüber.

»Man hat ihn geknebelt, damit er nicht um Hilfe rufen kann«, stellte Falk fest. »Selbst wenn er wirklich ein Verbrecher ist, können wir ihn nicht so hängen lassen. Eine solche Strafe ist grausam, das verdient kein Mensch.«

»Was willst du tun?«, fragte Bingo. »Über den Baumstamm klettern, um zu ihm zu gelangen? Ein halsbrecherisches Vergnügen.«

Falk wurde einer Antwort enthoben. »Verschwindet!«, ertönte ein Schrei. »Der Bär kommt.«

Die Freunde drehten sich in die Richtung, aus der der Ruf kam. In der Krone eines Baumes hockte ein junger Bursche mit schulterlangem schwarzen Haar. Er trug ein von den Schultern bis zu den Oberschenkeln reichendes Kleidungsstück aus braunem Fell, das von einem um die Hüfte geschlungenen Gürtel gehalten wurde, und um die Füße gewickelte Felle anstelle festen Schuhwerks. Breite Metallbänder schmückten seine Handgelenke. Hinter ihm kauerten mehrere Männer, älter als er, aber ähnlich gekleidet. Nach einem Bären hielt Falk vergeblich Ausschau.

»Verschwindet endlich!«, schrie der junge Bursche. »Sonst vergrämt ihr den Bären und verhindert unsere Rache. Oder was noch schlimmer wäre, der Bär greift euch an. Worauf wartet ihr noch? Macht endlich, dass ihr wegkommt. Der Kerl, der dort hängt, hat den Tod verdient.«

Bingo war mit der Untersuchung des Baumstamms beschäftigt. »Sieh dir das an. Sie haben den Stamm mit Honig bestrichen.«

»Diese Teufel!« Falk schnaubte. »Eine wirksame Methode, um einen Bären anzulocken. Wenn er erst am Honig schleckt, wird er immer weiter auf den Stamm hinaussteigen, um noch mehr zu ergattern. Schließlich bekommt der Baumstamm Übergewicht, und Mann und Bär stürzen in die Tiefe.«

»Wieso zögert ihr immer noch?«, rief der junge Bursche. »Hinfort mit euch!«

»Zu spät«, sagte einer der Männer. »Der Bär kommt.«

Jetzt bemerkte Falk Meister Petz ebenfalls. Der Prachtbursche brach zwischen den Bäumen hervor, ein kehliges Grollen ausstoßend. Unwillkürlich tastete Bingo nach seinem Schwert. Falk ließ das seine stecken. Der Bär konnte nichts dafür, dass er angelockt und für ein makabres Spiel missbraucht wurde. Ihn lockte nur der Honig. Dass er dazu beitragen sollte, einen Menschen zu töten, begriff er nicht. Falk wedelte mit den Armen, rief lautstark nach dem Raubtier und erregte seinen Zorn, um ihn abzulenken. Das Manöver zeigte Wirkung. Ob Honig oder ein blutiges Stück Fleisch war dem Braunpelz zunächst einmal egal. Er stürzte sich auf den Zweibeiner, der zum Schluchtrand zurückwich.

»Vorsicht, Falk!«, warnte Bingo seinen Freund. »Der Abgrund ist gleich hinter dir!«

Der Ritter wusste, was er tat. Kaltblütig wartete er ab. Erst als der Bär auf Armlänge heran war, warf er sich zur Seite. In die Irre geführt, brüllte das wütende Tier. Falk ließ ihm keine Zeit, sich umzudrehen und nach seiner vermeintlichen Beute Ausschau zu halten. Er versetzte dem Bären einen mächtigen Stoß. Vom eigenen Schwung getragen, kippte der Braunpelz vornüber und purzelte den Abhang hinunter.

Unten rappelte er sich auf. Er schüttelte sich ein paar Mal und machte, dass er davonkam.

»Er trollt sich.« Falk lachte hell. »Bestimmt verlegt er sein Jagdrevier nach dieser schmerzhaften Erfahrung in ruhigere Gefilde. Und nun befreien wir endlich den Unglücklichen aus seiner gefährlichen Lage.«

»Das wird nicht ohne Weiteres gelingen«, fürchtete Bingo. »Ich glaube, die da haben was dagegen.«

Der schwarzhaarige Jüngling war vom Baum gestiegen, und auch die anderen Männer hangelten sich aus der Krone zu Boden. Vorsichtig kamen sie näher. Der Jüngling trug eine Axt in der Hand. Prüfend strich er mit den Fingerspitzen über die Schneide.

»Wir freien Bergbauern bewundern tapfere Männer«, verkündete er. »Doch das ist der einzige Grund, warum wir nach eurer unbotmäßigen Einmischung nicht über euch herfallen. Ihr habt euch zur Genüge eingemischt. Geht jetzt!«

Falk wich keinen Schritt. »Nicht, bevor wir diesen Mann dort befreit haben.«

»Ihr Narren! Er hat den Tod verdient.«

»Kein Mensch verdient einen solchen Tod«, widersprach Falk, »ganz gleich, was er getan haben mag.«

»So setzt man sich kaum für einen Fremden ein.« Die Miene des Jünglings verdunkelte sich. »Ihr scheint ihn also zu kennen. Ist er vielleicht sogar euer Freund?«

»Nein, wir haben ihn nie zuvor gesehen …«, begann Falk. Ihm blieb keine Gelegenheit auszureden.

»Vorwärts, Männer!« Der Jüngling schwenkte seine Axt, und auch die anderen langten nach ihren Waffen. »Überwältigen wir die Beiden, bevor sie ihren Freund befreien.«

»Jetzt ist der richtige Moment, die Schwerter zu ziehen, Bingo«, zischte Falk.

Schon drangen die anderen auf sie ein. Zwei gestandene Kämpfer wie Falk und Bingo ließen sich von der Übermacht jedoch nicht ins Bockshorn jagen. Die Gegner prallten aufeinander, und sofort erwies sich, dass die Freunde die lärmenden Raufbolde nicht zu fürchten brauchten.

»Eure Äxte sehen gefährlich aus, aber sie haben eine schwache Stelle«, versetzte Falk. »Nämlich ihren Holzstiel, der einem Schlag mit der Klinge nicht standhält.«

Unter den Hieben des Ritters flogen die Axtblätter durch die Luft, und die Angreifer hielten nur noch die Stiele in der Hand, weil auch Bingo denselben Trick anwandte wie sein Freund. Sie trieben die Männer zurück. Nur den Jüngling verloren sie aus den Augen. Er nutzte die Gunst des Augenblicks, um Abstand zwischen sich und die Kämpfenden zu bringen.

»Haltet sie in Schach, bis ich den Felsblock von dem Baumstamm gewälzt habe!«, rief er seiner Gefolgschaft zu.

Falk dachte nicht daran, ihn seinen Plan in die Tat umsetzen zu lassen. »Schaffst du es allein, die Bande in Schach zu halten, Bingo?«

»Ich denke schon«, schnaubte der Gaukler. Er setzte seine mächtigen Fäuste ein und schickte gleich zwei Männer zu Boden. »Schließlich bin ich der einmalige, einzigartige und phantastische Bingo.«

Mochten die Worte des Gauklers auch markig klingen, sie waren nicht aus der Luft gegriffen. Falk konnte es daher riskieren, hinter dem Jüngling herzueilen und ihn von seinem ruchlosen Vorhaben abzuhalten. Während er ihn von dem Baumstamm fortstieß, von dem er soeben den Felsbrocken hinunterwälzen wollte, entwaffnete Bingo die verbliebenen Gegner. Er machte die letzten Äxte unbrauchbar, sodass die Kerle unversehens ohne Waffen dastanden. Sie schauten einander verdutzt an, dann machten sie auf dem Absatz kehrt und suchten das Weite.

»Sieh dort, deine Kameraden fliehen. Willst nicht auch du das Feld räumen?«, schlug Falk dem schwarzhaarigen Burschen vor.

»Niemals.« Der Jüngling schwenkte die Axt, die ihm als Einzigem verblieben war. »Ich bin im Recht, und für dieses Recht kämpfe und siege ich.«

»Das sind stolze Worte, junger Mann«, zeigte sich Falk beeindruckt.

»Die ich ihm gleich in den Mund zurückstopfen werde«, brauste Bingo auf.

»Ihr kämpft für eine schlechte Sache, deshalb werdet ihr mir unterliegen. Kommt nur näher, ihr Beiden«, forderte der Hitzkopf die beiden Edelleute heraus.

Bingo ließ sich nicht zweimal bitten. »Dein Wunsch ist uns Befehl, Bursche. Aber mach dich auf eine Tracht Prügel gefasst.«

»Warte«, hielt Falk seinen Gefährten zurück. »Dieser Jüngling hat einen ehrlichen Kampf verdient. Ich trete allein gegen ihn an. Du gegen mich. Was hältst du davon? Wir kämpfen so lange, bis einer von uns entwaffnet ist. Einverstanden?«

»Nein!« Der Jüngling schüttelte den Kopf. Seine Haare flogen. »Ich kann diese Bedingung nicht akzeptieren. Ihr nehmt einen schlechten Menschen in Schutz. Deshalb seid ihr genauso schlecht wie er und müsst sein Schicksal teilen.«

Die Antwort des jungen Burschen überraschte Falk. Mit einer solch harschen Abfuhr hatte er nicht gerechnet. Auch Bingo stand das Staunen ins Gesicht geschrieben. Der Jüngling hielt sich nicht mit weiteren Reden auf. Mit erhobener Axt stürmte er auf Falk zu.

»Für mich und euch gibt es nur Sieg oder Tod. Da!«

Doch mit einer geschmeidigen Bewegung wich Falk dem Schlag aus. Den nächsten Angriff konterte er mit seinem Schwert. Seine Kampferfahrung machte sich bezahlt, auch wenn er zugeben musste, dass der junge Hitzkopf mit der Axt umzugehen verstand.

»Bleib stehen!«, verlangte der Schwarzhaarige. »Nennst du das etwa kämpfen?«

»Ja, denn ich will dich nicht töten, obwohl du es offenbar darauf anzulegen scheinst.« Falk tauchte unter einem weiteren Schlag hindurch. »Deshalb warte ich auf eine Gelegenheit, dich zu entwaffnen, ohne dich zu verletzen.«

Es gelang. Wieder wandte Falk den schon zuvor benutzen Trick an. Mit einem kräftigen Hieb durchtrennte er den Axtstiel seines Gegners. Die Wucht warf den Jüngling zu Boden. Mit gramverzerrter Miene kam er auf die Knie.

»Stoß zu. Worauf wartest du noch? Ich bin von einem Schurken besiegt worden. Mit dieser Schmach kann ich nicht weiterleben.«

»Von einem Schurken?« Bingo platzte endgültig der Kragen. »Jetzt ist es genug, Falk. Als er mich beleidigte, habe ich nichts gesagt, doch jetzt schmäht er dich, obwohl du ihn verschont hast. Das lasse ich nicht zu. Na los, du Grünschnabel und Hinterwäldler, steh endlich auf. Anscheinend erkennst du nur deine eigene Sichtweise als die richtige an. Hast du schon einmal etwas von Menschlichkeit gehört? Den Eindruck vermittelst du jedenfalls nicht. Mein Freund und ich sind Ritter. Glaubst du etwa, dass Verbrecher den Ritterschlag empfangen? Du solltest deine Worte etwas vorsichtiger wählen, bevor du jemanden als Schurken anprangerst.«

»Es gibt genug Gesindel unter der Ritterschaft«, zeigte sich der Jüngling uneinsichtig. »Oder wie würdest du all die durchs Land streifenden Raubritter nennen?«

»Ganz unrecht hat er nicht«, räumte Falk ein.

»Du kannst dir deine gönnerhaften Worte sparen.« Katzengleich sprang der Jüngling nach vorn. Sein Ellbogen rammte Bingo, seine Faust traf den überraschten Falk unters Kinn. Der Ritter steckte den Schlag weg, doch der Bursche griff erneut an, sodass Falk keine andere Wahl blieb, als ihn mit einem gezielten Faustschlag ins Reich der Träume zu schicken.

»Tut mir leid, aber du hast es nicht anders gewollt.«

»Die reinste Wildkatze«, sagte Bingo. »Nun, für eine Weile haben wir Ruhe vor ihm.«

»Wenn er wieder zu sich kommt, muss er uns erzählen, warum er und seine Freunde den armen Kerl auf so grausame Weise umzubringen trachten. Komm, wir befreien ihn.« Falk verstummte und lauschte. »Hörst du das?«

»Ein Hornsignal. Die Geflüchteten rufen Verstärkung herbei. Vermutlich bleibt uns nicht viel Zeit, bis sie hier eintreffen.«

*

Die Freunde beeilten sich. Bingo setzte sich auf den Felsblock, der den Baumstamm hielt. Falk wagte sich langsam vorwärts. Da er deutlich weniger Körpergewicht vorzuweisen hatte als der Gaukler, blieb der Stamm im Gleichgewicht, als er vorsichtig auf dem mit Honig bestrichenen Holz entlangkroch.

»Siehst du ein, dass es manchmal ganz schön nützlich sein kann, wenn man schön dick ist?«, fragte Bingo.

Falk überhörte die Frage. »Bisher habe ich Honig immer gern gemocht, aber nun habe ich für lange Zeit genug davon.«

Der Ritter schob sich immer weiter vor, bis er endlich das frei in der Luft hängende Ende des Baumstamms erreichte. Der Gefesselte schaukelte leicht hin und her. Falk zog seinen Dolch. Nachdem er den Gefangenen mit einer Hand gepackt hatte, schnitt er die Stricke durch und zog den Mann zu sich hinauf. Dazu musste er all seine Kraft aufbieten, damit sie nicht gemeinsam abstürzten. Rückwärts ging es noch langsamer vonstatten, da er nicht nur auf sich selbst achtgeben, sondern zudem den geschwächten Gefangenen sichern musste. Mehr als einmal hatte Falk das Gefühl, von dem Stamm abzurutschen, doch schließlich gelang es ihnen, sich auf festen Boden zu retten.

»Geschafft«, brachte er keuchend hervor.

»Wie kann ich Euch nur danken, Ihr edlen Herren, Ihr Ritter ohne Furcht und Tadel?«, sprudelte es aus dem Geretteten heraus. Er rieb sich die schmerzenden Handgelenke. Der Schweißfilm auf seinem kahlen Schädel glänzte im Sonnenlicht, und ein langer Spitzbart zierte sein Kinn. »Mein Name ist Romero Astuto. Ich bin Kaufmann und hatte Geschäfte in den Bergdörfern zu erledigen. Plötzlich fielen diese Bauern über mich her und schleppten mich zur Schlucht. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Ich begreife immer noch nicht, weshalb sie sich so verhielten. Dieser Jüngling, dieser verdammte Jüngling, er war der Anführer. Er hat die Bauern gegen mich aufgehetzt, obwohl es keinen Grund dazu gab. Er wollte mich umbringen, deshalb hat er den Tod verdient. Gebt mir Euren Dolch, damit ich Genugtuung erlangen kann.«

»Immer mit der Ruhe, Kerl.« Falk hielt den Kahlkopf fest. »In dieser Gegend scheinen alle ganz versessen darauf zu sein, einen anderen umzubringen. Ist das etwa der wundervolle Süden, von dem du mir dauernd vorgeschwärmt hast, Bingo?«

Der Gaukler wand sich. »Hm, nun ja, die Menschen hier sind eben etwas temperamentvoller als in deiner Heimat.«

»Temperamentvoll nennst du das?«

»Ich gebe ja zu, dass sie oft handeln, bevor sie denken.«

»Das tun wir jetzt besser auch.« Denn Falk gewahrte eine zwischen den Bäumen heranstürmende Meute. »Die Bauern kommen mit Verstärkung zurück. Sie sind bis an die Zähne bewaffnet. Gegen diese Menge haben wir keine Chance. Verschwinden wir von hier!«

»Lasst mich nicht allein, Ihr Herren!«, heischte der Kaufmann um Hilfe.

»Spart Euch Eure Luft fürs Laufen und nehmt die Beine in die Hand, Astuto«, riet Falk ihm. »Hier entlang, und dann dort vorne den Abhang hinunter.«

Die drei Männer rannten nach Kräften, während Dutzende Verfolger durch den Wald brachen. Sie schrien und trieben sich gegenseitig an. Falk, Bingo und Romero Astuto kletterten in die Schlucht hinunter, um zu den Pferden zu gelangen.

*

Der schwarzhaarige Jüngling kam gerade wieder zu sich, als die aufgepeitschten Verfolger an ihm vorbeiliefen. Er hatte keine Verwundung davongetragen, lediglich sein Stolz war verletzt.

»Halt!«, hielt er die Männer auf. »Nicht dort entlang. Bis ihr unten seid, sitzen die Schurken längst auf ihren Pferden.«

Die Verfolger wandten sich ihm zu. »Gottseidank, Nunzio, du lebst.«

»So ist es, und das sollen sie noch bedauern. Folgt mir! Wir erwischen sie weiter oben, wo sich die Schlucht verjüngt.«

»Verzeih, dass wir vorhin geflohen sind«, entschuldigte sich Garibaldi, einer der Männer. »Die Fremden hatten uns entwaffnet.«

Nunzio winkte ab. »Schon gut. Noch ist es nicht zu spät für meine Rache. Ich lasse mich nicht davon abbringen. Dieser Astuto muss sterben, und nicht nur, weil ich es damals geschworen habe. Sein Tod wird als abschreckendes Beispiel dienen. Niemals wieder darf einer dieser Seelenverkäufer seinen Fuß in unsere Dörfer setzen. Astutos Tod wird den anderen eine Lehre sein.«

An der Spitze der Männer hetzte Nunzio an der Klippe entlang. Noch war von den drei geflüchteten Schurken nichts zu sehen. Unten verengte sich die Schlucht zusehends. Für denjenigen, der ihren Verlauf nicht kannte, konnte sie schnell zur Falle werden. Nunzio hielt inne, als er Hufschlag vernahm. Er dirigierte die Männer mit Gesten.

»Dieser dicke Felsbrocken genügt, um die Schlucht zu versperren. Haltet euch bereit, ihn auf mein Zeichen hin hinabzustürzen.«

»Wir sind bereit.« Garibaldi legte die Stirn in Falten. »Aber sollen wir Astuto und seinen Spießgesellen den Felsblock nicht besser direkt auf die Köpfe donnern, statt ihnen nur den Weg abzuschneiden?«

»Nein«, lehnte Nunzio den Vorschlag ab. »Das wäre ein zu rascher Tod für sie. Ich will sie lebend haben. Dort vorn können wir mühelos hinunterklettern, dann sind wir in ihrem Rücken.«

Der Hufschlag in der Schlucht wurde lauter, die Pferde der Geflohenen donnerten in vollem Galopp heran. Als Nunzio sie entdeckte, gab er das Zeichen.

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