Leseprobe – Falk – Pippo di Fiumes Schatz


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EINS

Das Morgenland.
Jenes sagenumwobene ferne Gefilde voller Geheimnisse und Schätze jenseits des Horizontes.
Falks ursprünglicher Plan war es gewesen, dorthin zu reisen. Zusammen mit seinem guten Freund und treuen Gefährten Bingo della Rocca, der ihn nun schon eine ganze Weile begleitete. Doch im Laufe der letzten Monate hatte die Sehnsucht nach der Heimat immer mehr Platz im Herzen des Ritters eingenommen, gleich einer Schar Soldaten, die eine Festung stürmt.
Nach ihrem gefährlichen Abenteuer mit den Sklavenhändlern hatten Falk und Bingo einige Tage als Gäste auf Schloss Vallechiara verbracht.
Es waren ruhige Tage gewesen, in denen sie sich erholt und an Speise und Trank gelabt hatten. Doch bald schon hatte Bingo zum Aufbruch gedrängt. Er konnte es kaum erwarten, die Reise in den Orient fortzusetzen.
Als die Stunde des Aufbruchs kam, packten sie ihre Sachen, verabschiedeten sich herzlich von ihren neuen Freunden und Gastgebern, die sie in großzügiger Weise mit Reiseproviant versorgt hatten, und machten sich auf den Weg zum Hafen.
Doch kaum hatten die beiden Ritter die heruntergelassene Zugbrücke überquert, lenkte Falk sein Pferd Donner nach links.
Der dicke Gaukler sah ihn verständnislos an. »Das ist die falsche Richtung«, sagte er. »Zum Hafen geht es hier entlang!« Er deutete in die entsprechende Richtung.
Falk zügelte den Braunen. »Ich weiß.« Jetzt war er also gekommen. Der Zeitpunkt, an dem er Bingo die Wahrheit sagen musste. Schon lange hegte Falk den Wunsch, in die Heimat zurückzukehren. Oft schon hatte er es Bingo sagen wollen, doch nie war der richtige Zeitpunkt dafür gewesen. Jetzt kam er nicht mehr drumherum. Auch wenn es Bingo schmerzen würde, er musste es tun. »Ich werde dich nicht ins Morgenland begleiten.« Die Worte kamen nur schwer über seine Lippen. Er beobachtete seinen Gefährten, mit dem er schon so manches erlebt hatte. Sie hatten Gefahren überstanden und Leid und Freud geteilt. Es waren gute und schlechte Zeiten gewesen. Doch nun mussten sie getrennte Wege gehen.
Auch Bingo hatte sein Pferd angehalten, rückte sichtlich nervös seine Mütze zurecht. »Sei mir nicht böse, Falk, aber dein Entschluss kommt etwas überraschend für mich!«
Falk schüttelte den Kopf. »Nein, Bingo, ich bitte dich, mir nicht böse zu sein.« Er ließ seinen Blick über den Hafen schweifen. Sah die Schiffe, die be- und entladen wurden, die ein- und ausliefen. Geschäftiges Treiben herrschte am Ufer. Rufe hallten zu ihnen hinüber. Fluchen und Lachen. »Schon seit einigen Tagen lässt mir die Sehnsucht nach der Heimat keine Ruhe mehr. Ich wollte es dir längst sagen, aber …« Er seufzte. Es war schwer, es vor sich selbst zuzugeben und noch schwerer, es vor seinem Freund zu tun. »Mir fehlte der Mut dazu. Ich weiß ja, was dir die Reise in den Orient bedeutet.«
Seit Monaten sprach Bingo von nichts anderem mehr. Umso mehr hatte Falk gezögert, hatte gehofft, dass sich sein Verlangen legen würde. Doch je weiter sie geritten waren, desto sicherer war Falk in seinem Entschluss geworden.
»Hm.« Bingo rieb sich nachdenklich das Kinn.
Am strahlend blauen Himmel zogen ein paar weiße Wolken. Ein Vogel kreiste über ihnen, hielt nach Beute Ausschau.
»Wenn du die Reise in den Orient allein fortsetzen willst … Ich würde mich freuen, wenn du später nachkommst.«
Bingo zögerte. Rang mit sich. Immer wieder wanderte sein Blick zum Meer, zu den Schiffen mit ihren Masten und Segeln; auf ihnen Männer voller Abenteuerlust, mit Sehnsüchten und Träumen, Mut und Fernweh. Schließlich schluckte er schwer, nachdem er sich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte. »Unsinn! Der Süden läuft mir nicht weg. Aber du! Ich muss bei dir bleiben, ohne mich bist du ja hilflos wie ein Säugling. Ohne meinen Schutz erreichst du nicht einmal die nächste Grenze!«
Unwillkürlich musste Falk lächeln. Ja, Bingo war wirklich ein guter Freund.
»Ich komme mit dir, Falk!«
Sie gaben sich die Hände. »Danke, Bingo!«
Der Gaukler nickte.
Beide wendeten ihre Pferde, hatten den Hafen nunmehr im Rücken; ließen den Orient hinter sich.
Vielleicht ein anderes Mal, dachte Falk.
Und irgendwie war Falk froh, dass Bingo ihn begleitete. Die Heimreise war nicht ganz ungefährlich. Und außerdem … »Ehrlich gesagt, die Trennung von dir wäre mir sehr schwergefallen. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber irgendwie hänge ich an dir. Du … du komischer Vogel!«
Bingo, der neben ihm ritt, riss die Augen auf. Röte überzog sein volles Gesicht. »Komischer Vogel? Du nennst mich, den großen, einmaligen, herrlichen Bingo einen komischen Vogel?« Seine Stimme überschlug sich fast. Er zügelte sein Pferd. »Steig von deiner Schindmähre, du trauriger Ritter, damit ich dir diese Beleidigung in dein freches Mundwerk zurückstoßen kann!«
Falk war sich für einen Moment nicht sicher, ob Bingo wirklich wütend war – oder ob er nur so tat.
Auch er hielt erneut an und stieg ab. Wissend, dass die Tiere so gut trainiert waren, dass sie nicht wegliefen, sondern an Ort und Stelle stehen bleiben würden.
Bingo stand ihm in seiner vollen Pracht gegenüber.
»Bist du bereit?«, fragte er herausfordernd, während die Feder an seiner Mütze wippte.
»Ja!« Falk lachte. »Wenn du mich auf den Rücken zwingst, nehme ich den komischen Vogel zurück!«
»Gut!« Und schon stürzte sich der Gaukler auf ihn.
Es wäre ein Leichtes für Falk gewesen, den Angriff abzuwehren. Doch er tat es nicht. »He! Ha! Kitzeln gilt … ha, ha … nicht!«
Augenblicke später wälzten sich Falk und Bingo im Staub der Landstraße. Für Außenstehende musste es den Eindruck machen, dass zwei Männer auf Leben und Tod miteinander kämpften.
Und so bemerkten sie nicht den Mann, der sich ihnen näherte.
»Ihr Herren! Um Himmelswillen, Ihr Herren!«
Erschrocken zuckte Falk zusammen.
Bingo hingegen hatte den Ruf anscheinend nicht gehört.
»Auseinander!« Der Fremde kannte keine Furcht. Mutig packte er Bingo an der Schulter und versuchte, ihn von Falk wegzuziehen. »Auseinander, habe ich gesagt!«
In seiner Ehre und Körperlichkeit angegriffen, fuhr Bingo ihn an: »He! Hände weg!«
»Nein, kommt zur Vernunft! Ich bitte Euch!«, flehte der Fremde.
Und ehe Falk es verhindern konnte, denn sicherlich hatte es der Bursche nur gut gemeint, hatte Bingo dem Mann die Faust ins Gesicht geschlagen.
»Ah!« Die Wucht des Schlages ließ ihn zu Boden fallen.
Sogleich stürzte Bingo sich auf ihn. »Was fällt dir ein, du ungehobelter Kerl, dich in unsere freundschaftliche Unterhaltung einzumischen?«
Falk saß da, wissend, dass Bingo niemals auf einen wehrlos am Boden Liegenden einprügeln würde.
Verwirrt starrte der Bärtige Bingo an. »F… F… Freundschaftliche Unterhaltung?«, fragte er verständnislos, nicht begreifend, was gerade vor sich ging. Ja, für ihn musste es nach einem ernsthaften Kampf ausgesehen haben. Vielleicht hatte er sogar gedacht, dass Bingo versuchte, ihn umzubringen.
»Ja!« Schnaubend wandte der Ritter sich ab, schüttelte den Kopf. »Komm, Falk, lass uns weiterreiten, die Leute hier sind mir zu grob!« Er zog ihn hoch und dann mit zu den Pferden.
Sie stiegen auf, während der Fremde noch immer dahockte und die Welt nicht verstand.
Großzügig und nicht nachtragend, wie Bingo war, warf er ihm noch ein Goldstück zu. »Hier hast du ein wenig Geld. Leg es dir auf das Auge, das kühlt!«
Damit wandte er sich endgültig ab.
Falk folgte ihm, hörte noch, wie der Mann immer wieder »Ich verstehe die Welt nicht mehr!« vor sich hinmurmelte, während Bingo gut gelaunt, aber unheimlich schief ein Lied anstimmte. »Tralala, mal sind wir hier, mal sind wir da, tralala!«
Falk lachte. Bingo war wirklich ein komischer Vogel. Aber er würde sich hüten, das noch einmal laut auszusprechen.

*

Es war ein sonniger Tag. Ein lauer Wind wehte vom Meer aufs Land. Links und rechts des Weges wuchsen Büsche zwischen den Felsen.
Falk folgte seinem Freund. Doch nach einigen Stunden schlug Bingo eine andere Richtung ein, als Falk erwartet hatte. »Ich dachte, wir müssten hier rechts abbiegen, Bingo!« Irrte er sich, oder war sein Orientierungssinn schlechter geworden?
»Aber, aber! Wir wollen doch nicht denselben Weg zurückreiten, den wir gekommen sind, Falk!«
Falk zog die Augenbrauen hoch. »Und warum nicht?« Sie wussten schließlich, was dort auf sie zukommen würde. Warum sich also unbekannten Gefahren aussetzen?
»Das wäre langweilig!«, antwortete Bingo auf seine Frage. »Ich habe einen anderen Reiseweg zusammengestellt. Er führt uns durch landschaftlich herrliche Gegenden.« Er machte eine ausladende Handbewegung mit der Rechten. »Und außerdem ist auf diesem Weg alles friedlich.«
Falk bezweifelte das. »Wie willst du das wissen? Du warst seit Jahren nicht hier!«, erinnerte er ihn.
»Stimmt«, gab er ohne Umschweife zu. »Aber ich kenne alle Fürsten, Grafen und Ritter, denen die Ländereien gehören, durch die unser Reiseweg führt. Es sind alles ruhige und besonnene Leute!« In seiner Stimme klang seine volle Überzeugung mit. »Glaube mir, Abenteuer erleben wir auf unserem Rückweg nicht. Nur liebenswürdige Gastfreundschaft von allen Seiten!«
»Na, hoffen wir das Beste, du Prophet!«
»Morgen erreichen wir ein sauberes Städtchen, das unter dem Schutz des Grafen Colleverde steht.« In seinen Gedanken war er schon dort, denn ein glückliches Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Er sah sich schon bei einem fetten Braten und gutem Wein am Tisch sitzen.
Besorgt blickte Falk in den Himmel.
Schwarze Wolken waren in der Zwischenzeit aufgezogen. Eine dunkle, bedrohliche Front, die immer näher kam. Auch war es merklich kühler geworden.
»Und wo bleiben wir heute Nacht?« Er deutete in Richtung des aufkommenden Unwetters. »Es sieht nach Regen aus.«
Bingo folgte seinem Blick, kniff die Augen zusammen, nickte dann zustimmend und besorgt zugleich. »Du hast recht. Es braut sich ein Gewitter zusammen. Wir übernachten am besten auf einem Bauernhof. Er liegt hinter dem Hügel dort.«
Falk war froh, dass sein Freund sich hier so gut auskannte. Er hatte keine Lust, klitschnass zu werden.
Sie beeilten sich, um den Unterschlupf noch rechtzeitig zu erreichen. Die Unwetterfront kam rasch näher.
Auch das Meer wurde unruhiger. Hohe Wellen klatschten ans Ufer.
Doch als die Freunde den Hügelkamm erreichten, erwartete sie ein schrecklicher Anblick.
Mit einem harten Zug am Zügel brachte Bingo sein Tier zum Anhalten. »Was …« Sein Blick schweifte über den Hof. Entsetzen stand in seinem Gesicht. Er konnte nicht glauben, was er dort sah. »Bei allen … Ruinen!«
Falk war ebenso fassungslos wie er.
Nach Leben sah es dort unten jedenfalls nicht aus.
Das Nebengebäude war ziemlich heruntergekommen, fast schon verfallen. Weit und breit waren weder ein Tier noch ein Mensch zu sehen. An die einstigen hölzernen Zäune erinnerten nur noch ein paar verfaulte, windschiefe Pfosten.
Ein ungutes Gefühl beschlich Falk. Nervös sah er sich um. Wurden sie beobachtet? War das hier vielleicht eine Falle?
Doch er konnte niemanden entdecken.
»Ganz so friedlich, wie du es prophezeit hast, scheint es hier doch nicht zu sein.« Diesen kleinen Seitenhieb konnte er sich einfach nicht verkneifen.
Aber Bingo winkte ab. »Du denkst natürlich gleich wieder an das Schlimmste«, warf er ihm vor.
Ja, da hatte er recht. Bisher war er damit auch gut durchs Leben gekommen. Wenn man immer das Schlimmste erwartete, wurde man nicht überrascht oder enttäuscht.
»Komm, lass uns nachsehen! Vielleicht hat der Bauer den Hof verlassen und ist in die Stadt gezogen und hat das Gehöft einfach sich selbst überlassen.«
Falk folgte ihm den Hügel hinab – doch an diese Erklärung konnte er einfach nicht glauben. Warum hatte der Bauer dann seinen Besitz nicht verkauft?
Zu allem Unglück fing es nun auch noch an, heftig zu regnen.
»Hallo!« Bingo hingegen hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. »Hallo?«, rief er nochmals.
Nichts.
Nicht mal ein Hund, der bellte. Keine gackernden Hühner, keine muhenden Kühe.
Nur Stille.
»Keine Antwort. Es ist niemand hier, Bingo.«
Sein Freund seufzte bedauernd. »Du hast wohl recht.« Vor dem Stall glitt er aus dem Sattel und betrat vorsichtig das Gebäude, um sich darin umzusehen. Es dauerte nicht lange, bis er wieder herauskam. »Das Stalldach ist noch ganz.«
Das war doch was! »Na, dann verbringen wir die Nacht wenigstens im Trocknen.«
Falk führte beide Pferde hinein. Sie sattelten sie ab, rieben sie trocken und gaben ihnen was zu fressen und Wasser, das sie ja nun im Überfluss hatten. Sie fanden sogar einen alten Eimer, den sie dafür benutzen konnten.
Glück musste man haben!
Dann richteten sie sich so gut es ging ein und aßen etwas, ehe sie sich hinlegten.
»Wenigstens?«, nahm Bingo das Gespräch wieder auf, während er die dünne Decke über sich zog. »Ich möchte jetzt nicht draußen sein. Hör, wie der Regen rauscht!«
Das tat er wirklich. Klatschte gegen die Wände und fuhr zusammen mit dem Wind durch die Ritzen.
»Ja, Bingo.« Falk gähnte, blinzelte müde. »Gute Nacht!« Erschöpft schloss er die Augen. Lauschte. Das stetige Prasseln war irgendwie beruhigend.
Sein Pferd schnaubte.
Irgendwo im Gebälk raschelte es. Vermutlich eine Maus auf der Suche nach etwas Fressbarem.
Augenblicke später wurde das Rauschen des Regens auch schon von Bingos Schnarchen übertönt.
Gerade als Falk dabei war, ins Land der Träume zu driften, vernahm er ein Geräusch.
Er öffnete die Augen, starrte ins Dunkle.
Lauschte angestrengt.
Das klang nach … Hufschlag.
Ja, eindeutig.
Und er näherte sich.
Falk war beunruhigt. Er rüttelte Bingo an der Schulter. »Wach auf! Wir bekommen Besuch.«
Es dauerte, bis sein Begleiter die Augen aufschlug.
Verwirrt sah er ihn an.
»Wie …? Was …?«
»Komm, steh auf!«, flüsterte er.
»Wieso?« Er rieb sich verschlafen mit der Rechten über das Gesicht. »Es ist doch noch mitten in der Nacht.«
»Ich weiß. Aber ich habe Hufschlag gehört.«
»Hufschlag?« Bingo setzte sich auf. »Bist du sicher? Nicht, dass dein übermüdeter Geist dir einen Streich gespielt hat.«
»Sicher nicht.«
»Nun denn.« Stöhnend erhob er sich, während Falk die Laterne anzündete.
Gerade als der Fremde mit seinem Pferd vor die Tür trat, öffneten sie ihm. »Willkommen in dieser bescheidenen Herberge, Fremder!«, begrüßte Falk ihn.
Erschrocken wich der Mann einen Schritt zurück. »Teufel!«, fluchte er. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, hier jemandem zu begegnen. Er und sein Tier waren klitschnass; sie waren offenbar länger unterwegs gewesen. Und er schien nicht erfreut darüber zu sein, diese Nacht nicht allein verbringen zu müssen.
»Was macht ihr hier?«, fuhr er die beiden Ritter an.
Falk musterte ihn. Der Ton gefiel ihm gar nicht. »Das seht Ihr doch! Wir übernachten in diesem Stall.«Damit schien sein Gegenüber ganz und gar nicht einverstanden zu sein. »Ich dulde keine Fremden auf meinem Besitz. Packt eure Sachen und verschwindet!«
»Wie?«, entfuhr es Bingo.
Falk war überrascht. Das sollte der Bauer sein, dem das hier gehörte?
Als sie nicht sofort reagierten, wurde er ungehalten. »Seid ihr taub? Los, los, beeilt euch!« Er deutete zur Tür. So einfach wollte Falk sich jedoch nicht geschlagen geben. Schließlich regnete es draußen immer noch. »Ist das die berühmte Gastfreundschaft, von der du gesprochen hast, Bingo?« Vielleicht gelang es ja dem Gaukler, den Mann zu überzeugen, dass sie zumindest die Nacht hier bleiben durften.
»Einen Augenblick! Ich kenne den Bauern, dem dieses Gehöft gehört. Ihr seid es nicht!«, wandte Bingo sich an den Mann.
Bingos Worte ließen Falk misstrauisch werden. Eine unerwartete Wendung des Blattes.
Der Fremde leugnete den Vorwurf nicht. »Ich bin sein Nachfolger.«
Falk sah Bingo an, dass er von dieser Antwort nicht ganz überzeugt war, auch wenn seine Worte anders klangen. »Dann habt Ihr gut gewirtschaftet. Gratuliere zu dem herrlichen Hof!«
Doch der Mann ließ sich keinen Honig um den Bart schmieren. »Kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten! Verschwindet!«
Jetzt reichte es Bingo. Wütend packte er den Mann am Hemdaufschlag. »Nein! Wir lassen uns nicht in das Unwetter hinausjagen. Es ist noch genug Platz hier für Euch und Euer Pferd!«
Sichtlich eingeschüchtert, sowohl von Bingos hartem Ton als auch von seinem selbstbewussten Auftreten, nickte der Bauer. »Oh! Ich …« Er zitterte. »Wie kommt ihr überhaupt hierher?«, fragte er. »Ihr seid Fremde?«
»Ja.«
Falk beschloss, dass es jetzt genug war. Sie waren schließlich Ritter. Beruhigend redete er auf den Bauern ein. »Mein Freund ist etwas stürmisch!« Er lächelte und deutete mit dem Kopf auf Bingo. »Aber Ihr braucht keine Angst zu haben, wir sind keine Räuber.«
Endlich gab er nach, wenn auch sichtlich widerstrebend – weshalb auch immer. »Na schön. Ihr könnt bleiben.«
»Danke!«, sagte der Gaukler und ließ ihn nunmehr los.
Er und Falk legten sich wieder hin.
Ganz traute Falk dem Frieden jedoch nicht. Ihm schien, als hätte der Bauer etwas zu verbergen. Nur was?
War er wirklich der neue Besitzer, oder hatte er nur so getan?
Vielleicht war es besser, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Er wollte ungern mit einem Messer im Rücken aufwachen.

*

Teufel! Was mache ich jetzt? Der Fremde mit dem Kinnbart sah nachdenklich zu den beiden seltsamen Gestalten rüber, die es sich wieder auf dem Boden gemütlich gemacht hatten – soweit das möglich war.
Sie waren wirklich zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt aufgetaucht! Und jetzt wurde er sie nicht mehr los.
Er kann jeden Augenblick kommen. Die beiden sind zwar Fremde, aber man kann nie vorsichtig genug sein. Er stützte den rechten Ellenbogen auf das Knie und legte das Kinn auf die Hand. Grübelte. Wenn sie ihn später wiedererkennen … Schlimm genug, dass sie mich gesehen haben!
Eine Weile blieb er so sitzen. Schließlich erhob er sich und ging Richtung Tür. »Ich gehe ins Haus hinüber und hole etwas!«, warf er dem Großen über die Schulter zu.
Falk richtete sich auf. In seinem Blick lag Zweifel. »Gut.«
Erleichtert schloss er die Tür und legte den Riegel vor. Dann lief er, so schnell er konnte, ins Haus und kam mit einigen Balken zurück, die er gegen das Tor stemmte.
Anschließend betrachtete er zufrieden sein Werk. »So, jetzt kann er kommen!«

*

Falk hatte sich wieder hingelegt, doch Schlaf gefunden hatte er nicht. Das Verhalten des Mannes kam ihm immer seltsamer vor, je mehr er darüber nachdachte.
Plötzlich vernahm er etwas Ungewöhnliches. »Was war das für ein Geräusch?« Er stand auf. Es war weder von Bingo noch von den Pferden gekommen. Blieb nur noch … die Tür!
Er rüttelte daran, doch sie ließ sich nicht öffnen. »He! Das Tor ist zu!«
Bingo, der bis eben selig geschlafen hatte, rieb sich die Augen. Gähnte. »Wie?«
Falk drehte sich zu ihm herum. »Der Kerl hat uns eingesperrt.«
Stöhnend rappelte Bingo sich auf. »Aber … das verstehe ich nicht. Sein Pferd ist dann doch mit uns eingesperrt.«
Falk nickte. Das ließ nur den Schluss zu, dass er nicht vorhatte zu verschwinden. So fest er konnte, schlug Falk gegen die Tür. »Aufmachen! Macht sofort auf!«
Zu seiner Überraschung bekam er von draußen tatsächlich eine Antwort »Beruhigt Euch! Ich öffne die Tür bald wieder.«
Falk lachte bitter auf. Das sollte er glauben? Hielt der ihn wirklich für so dumm?
Auch Bingo rüttelte an der Tür, bekam sie aber genauso wenig auf wie er. »Seltsam!«, meinte er. »Wir …«
Unwirsch unterbrach Falk ihn, denn er hatte schon wieder etwas gehört. Erneutes Hufgetrappel. »Still! Es nähert sich ein Reiter.«
Jetzt hörte es auch Bingo.
Tatsächlich!
Aber wenn der Mann da draußen wirklich der Bauer war – wer kam da? In so einem Regen jagte man nicht einmal einen Hund vor die Tür.
Irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht.
So, wie es aussah, würden sie früher oder später erfahren, was. Auf die eine oder andere Art.

 

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