Leseprobe – Falk – Ritter ohne Furcht und Tadel


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EINS

An einem Herbsttag des Jahres 1191 bewegte sich ein Zug grauer Gestalten den Felsenhügel hinauf, auf dem Graf Armin von Steinfeld eine neue Burg errichten ließ. Fahle Morgendämmerung lag über dem Land, und in der Ferne erhob sich eine Wolkenbank wie ein düsteres Gebirge. Am Hang fing sich der Wind in Tannen und Buschwerk, das sich zwischen den Felsen im kargen Boden festhielt. Die Rufe von Nachtvögeln drangen durch das morgendliche Zwielicht.

Noch hatte der anbrechende Tag die Nachtkühle nicht vertrieben. Kein Sonnenstrahl wärmte die Männer, die sich zu Fuß den steinigen Pfad hinaufquälten. Es waren hörige Bauern, dem Grafen zu Hand- und Spanndiensten verpflichtet. Sie schleppten allerlei Werkzeuge mit sich. Pferdegespanne zogen mit Bauholz beladene Karren.

»Bewegt eure Füße!«, trieb ein Bewaffneter den Zug an. Er war einer von vier Berittenen, die sich vor, hinter und zuseiten des Fußvolks eingereiht hatten. »Schlaft nicht schon vor der Arbeit ein! Wenn die Sonne aufgeht, will Graf Armin reges Treiben an der Baustelle sehen.«

Trotz des beschwerlichen Weges wagte es keiner der Bauern zu murren. Sie waren der Willkür ihres Lehnsherrn ausgeliefert und ihm zu absolutem Gehorsam verpflichtet. Schweigend setzten sie einen Fuß vor den anderen. Sie kannten den Weg auswendig, weil sie ihn schon an zahlreichen Tagen zurückgelegt hatten. Früh am Morgen ging es hinauf und erst abends wieder hinunter zu den Feldern, wo auch noch Arbeit zu verrichten war.

Auf dem Burghügel angelangt, erwartete die Männer die im Entstehen begriffene Festung. Das Gelände war gerodet und planiert. Ein paar wehrhafte Mauern waren bereits fertiggestellt, an anderen Stellen erhoben sich Leitern und Gerüste. Am Fuß der Mauern lagerten Steinquader und Baumaterial.

»An die Arbeit!«, kommandierte einer der Berittenen. Sein Peitschenknall war weithin zu hören. »Los, los, sonst mache ich euch Beine!«

Unverzüglich machten die Bauern sich an die Arbeit. Keiner von ihnen wollte die Peitsche des Aufsehers spüren. Sie wussten, dass er nicht spaßte. Als Graf Armin wenig später hoch zu Ross auf dem Burghügel angelangte, ging die Sonne eben am Horizont auf. Eine bewaffnete Eskorte berittener Waffenknechte folgte ihm. Der Graf ließ den Blick über die Baustelle wandern und nickte zufrieden.

»Guten Morgen, Vogt. Wie ich sehe, geht die Arbeit zügig voran.«

»Guten Morgen, edler Herr«, erwiderte der Vogt den Gruß. »Meine Männer und ich sorgen dafür. Wir halten die Bauern in Gang, damit sie ihre Pflicht nicht vergessen.«

»Gut, Vogt. Es sind also alle hörigen Bauern dem Befehl gefolgt?«

»Ja, Herr, alle bis auf Bauer Heinrich, der sich entschuldigen lässt, weil er krank ist. Aber er hat sein Gespann einem Nachbarn mitgegeben.«

»Krank?« Der Graf richtete sich im Sattel auf. »Ich glaube ihm kein Wort. Der Kerl will sich nur drücken.«

»Das glaube ich nicht, Herr. Ich kenne Heinrich. Er war noch nie nachlässig, sondern hat seine Pflicht immer erfüllt. Er würde es nicht wagen, sich Eurem Befehl zu widersetzen.«

Armin sah das anders. Er traute dem pflichtvergessenen Bauern nicht. »Schweigt, Vogt, und verteidigt ihn nicht! Kurt, Albert!«

Die gerufenen Waffenknechte eilten an die Seite des Adligen. »Ja, Herr?«

»Reitet zu Bauer Heinrich und holt ihn hierher!«, trug Armin ihnen auf. »Ihr kennt ja seinen Hof. Ich erwarte, dass er hier erscheint, und dulde keine Ausflüchte.«

»Sehr wohl, Herr«, versicherte Albert.

Der Graf sah ihm und Kurt hinterher, als sie im Galopp den Hügel hinunterritten. Wie es aussah, musste er endlich ein Exempel statuieren.

*

Nachdem die Waffenknechte den Hügel hinter sich gelassen hatten, ritten sie quer über die Felder, die an diesem Tag noch nicht bestellt worden waren. Dass ihre Pferde dabei den Bewuchs zertrampelten, war ihnen gleichgültig. Kurt lachte schallend darüber.

»Wozu sollen wir einen Umweg in Kauf nehmen? Die Bauern haben jetzt ja eine andere Aufgabe. Da kommen sie ohnehin nicht dazu, ihre Felder zu bestellen.«

»Der Graf will die Burg unbedingt bis zum Einbruch des Winters fertigstellen«, antwortete Albert.

»Das kann ich verstehen. Mit der Burg dort oben beherrscht er das ganze Tal. Er kann in alle Richtungen weit ins Land hinausschauen und alles überblicken. Wenn die Burg erst fertig ist, braucht er keine Angst vor einer Fehde mit seinen Nachbarn zu haben.«

Eine Weile galoppierten sie schweigend über das Land, bis sich voraus die Silhouetten von Gebäuden abzeichneten. Die Reiter passierten einen Zaun und näherten sich den Gebäuden. Nach Menschen hielten sie vergeblich Ausschau. Außer dem Pfeifen des Windes drang kein Geräusch zu ihnen herüber.

»Heinrichs Hof sieht ziemlich verfallen aus.«

»Seit dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren geht es bergab mit ihm. Früher war hier alles viel besser in Schuss gehalten.«

»Die Abgaben, die er und die anderen Bauern dem Grafen leisten müssen, sind nicht gerade gering«, erinnerte Kurt. »Aber das ist nicht unser Problem.«

»Genau. Schließlich wollen wir ja auch leben.« Albert schaute sich suchend um. »Ich sehe Heinrich nicht. Anscheinend hält er sich im Haus auf.«

Die Waffenknechte ritten bis zum Hauptgebäude und stiegen von den Pferden. Vor dem Eingang banden sie die Vierbeiner an. Am Hof waren die Anzeichen von Verfall nicht zu übersehen. Reparaturarbeiten waren dringend vonnöten. Aus dem Haus drang kein Laut nach draußen. Kurt hob ratlos die Schultern.

»Heinrich scheint unser Kommen nicht gehört zu haben. Vielleicht ist er wirklich schwer krank und liegt mit Fieber im Bett.«

»Das werden wir gleich erfahren.«

»Was hast du vor?«

»Was wohl? Ich werde nachsehen.« Albert klopfte mit der Faust gegen die Tür. »Aufstehen, Heinrich! Der Graf vermisst dich auf der Burg.«

Die Tür öffnete sich vor den beiden Männern. Sie war nur angelehnt gewesen. Mit leisem Quietschen glitt sie ins Innere der Stube. Niemand hielt sich darin auf.

»Bei allen Teufeln, der Kerl ist überhaupt nicht zu Hause«, entfuhr es Kurt.

»Das ist ja heiter. Glaubst du, er hat sich aus dem Staub gemacht?«

»Vielleicht ist er im Stall.«

Sie begaben sich zum Viehstall, ohne fündig zu werden. Auch die Durchsuchung des restlichen Anwesens erbrachte keinen Erfolg. Sie fanden keine Spur von Bauer Heinrich. Er war verschwunden.

Kurt schaute in die Ferne, wo sich sanft geschwungene Hügel erhoben. »Er scheint tatsächlich ausgekniffen zu sein. So ein Dummkopf! Damit zieht er sich gewiss den Zorn unseres Herrn zu.«

»Das müssen wir sofort Graf Armin berichten.«

Die beiden Waffenknechte saßen auf und trieben ihre Pferde an. Wieder ritten sie quer über die Felder. Am Fuß des Felsenhügels kam ihnen der Graf entgegen. Kurt hatte richtig vermutet. Nachdem der Graf ihren Bericht angehört hatte, bekam er einen seiner gefürchteten Wutanfälle. Er bebte buchstäblich vor Zorn.

»Heinrich ist fort? Wie kann er es wagen, sich meinem Willen zu entziehen? Das soll der Bursche mir büßen. Ihr werdet sofort aufbrechen und ihn zurückholen.«

»Aber wo sollen wir nach ihm suchen, Herr?«, fragte Albert. »Heinrich kann in alle Himmelsrichtungen geflohen sein.«

Der Graf ballte die Faust. »Ich glaube, ich weiß, wohin Ihr euch wenden müsst. Bestimmt will Heinrich das Land von Ritter Eberhard erreichen. In letzter Zeit sind schon einige Bauern zu dem mildtätigen Ritter geflüchtet, weil er den Hörigen größere Freiheiten zubilligt.«

»Wenn er die Burg des Ritters erreicht, ist er unserem Zugriff entzogen«, warf Kurt vorsichtig ein.

»Das weiß ich selbst«, schnaubte Armin. »Deshalb sputet euch! Wenn Ihr euch beeilt, könnt Ihr Heinrich vielleicht noch erwischen. Doch bringt ihn lebend zurück! Ich will, dass er um Gnade winselt, bevor ich ihn als abschreckendes Beispiel aufknüpfen lasse. Danach wird es nie wieder ein Bauer wagen, mir den Gehorsam zu verweigern und zu fliehen.«

»Verstanden, Herr.«

Kurt und Albert wendeten ihre Reittiere und preschten davon.

*

Armin von Steinfeld konnte nicht ahnen, dass Heinrich schon am Vorabend aufgebrochen war.  Schweren Herzens hatte der Bauer seinen Hof verlassen und sich auf den Weg gemacht. Sein Gemüt war betrübt, denn er musste einem jungen Mann eine Nachricht überbringen, die ihm nicht leichtfiel.

Sein Weg führte Heinrich bis zur Burg von Ritter Eberhard. Erst an der Fallbrücke, die sich über einen tiefen Abgrund spannte, hielt er inne. Am Tor waren zwei Wachen postiert, die ihn argwöhnisch musterten.

»Was wollt Ihr, Fremder?«

Heinrich zog eine vorbereitete Notiz aus der Tasche und reichte sie dem Uniformierten. »Gebt diesen Zettel dem Zögling Falk, der sich in der Burg eures Herrn aufhält! Sagt ihm, dass ich ihn unten am Weg erwartete!«

Einer der Wachposten nahm den Zettel entgegen und versprach, ihn zu überbringen. Während er durch das Burgtor schritt, ging Heinrich den Weg zurück, den er gekommen war. Am Wegesrand ließ er sich auf einem Stein nieder und wartete.

 

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