Leseprobe – Falk Sonderband I


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AUSGERAUBT

»Langsam, Donner, nicht so stürmisch«, bremste Falk sein treues Pferd. »Sonst holt uns der dicke Bingo nicht mehr ein.«

Der Dicke – diese Bezeichnung mochte der Gaukler überhaupt nicht. Falk war der Einzige, der es sich erlauben durfte, ihn gelegentlich so zu nennen, und dann auch nur unter vier Augen. Jeder andere musste Bingo für diese Beleidigung auf der Stelle Rede und Antwort stehen, was schon zu mancher Rauferei und Schlimmerem geführt hatte.

Verständig, wie Donner war, verfiel er vom Galopp in leichten Trab. So ist es besser, dachte Falk. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter. Hinter ihm blieb ein Dorf zurück, in dessen Mittelpunkt sich die Kirche hoch über alle anderen Gebäude erhob. Aus einigen Kaminen stieg Rauch auf. Abseits der letzten Hütten grasten Kühe und die Bauern gingen auf den Feldern bereits ihrem Tagwerk nach. Die Freunde hatten in dem Bergdorf übernachtet und wollten früh am Tag aufbrechen, doch am Morgen, als sie reisefertig waren, hatte Bingo es sich plötzlich anders überlegt.

»Reite schon voraus, aber langsam, damit ich dich später einholen kann«, hatte der Gaukler gebeten. »Ich habe noch eine Kleinigkeit zu erledigen.«

Um was für eine Art von Kleinigkeit es sich handelte, hatte Bingo beharrlich verschwiegen. Nun ritt Falk alleine durch den jungen Tag. Von den Bergen wehte ein frischer Wind herunter, über den blauen Himmel zogen nur vereinzelte Wolken. Nicht lange, und die höher steigende Sonne würde die kühle Morgenluft vertreiben. Das Frühjahr hatte Einzug gehalten. Nach dem langen, kalten Winter mit seinen Schneeeinbrüchen, den zugewehten Pfaden und den vereisten Talbrücken, die den Freunden den Weiterritt unmöglich gemacht hatten, genoss Falk jeden Sonnenstrahl.

»Ich frage mich wirklich, was er noch so Wichtiges zu erledigen hat, von dem er nicht einmal mir etwas sagt«, murmelte der Ritter.

Einen guten Grund hatte er ganz gewiss. Schließlich war es Bingo, der sich nach seiner südlichen Heimat sehnte und der Falk mit seiner unnachahmlichen Überredungskunst dazu gebracht hatte, ihn ins Morgenland zu begleiten. Bei Bingos Überraschungen wusste man nie, woran man mit ihnen war. Manchmal zogen sie unerwarteten Ärger nach sich. Aber vielleicht war diesmal alles ganz harmlos. Vielleicht ließ er sich vom Wirt des Gasthauses nur eine Abkürzung durch die wilde Landschaft beschreiben, um unversehens vor Falk aufzukreuzen und mit seiner unfehlbaren Ortskenntnis zu prahlen, mit der er sich so gerne brüstete.

»Tragen wir es mit Fassung, was, Donner?«, raunte der Ritter dem Vierbeiner ins Ohr. »Bingo ist zwar der Welt größter Aufschneider, aber trotz allem ein Prachtkerl – und außerdem mein Freund. Bald werden wir ja wissen, was es mit der Geheimniskrämerei auf sich hat.«

*

»Hallooooo!« Der lang gezogene Ruf schallte den Weg hinauf, den Felsgestein und Nadelbäume säumten. »Warte auf mich!«

Also doch keine Abkürzung, dachte Falk. Er zügelte seinen Braunen. Bingo kam heraufgeritten. Etwas hing um seinen Hals, das beim Ritt hin- und herschaukelte. Falk erkannte es erst, als Bingo ihn einholte.

»Ein Dudelsack?« Großer Himmel, das durfte doch nicht wahr sein. »Ist das deine Überraschung? Ein Dudelsack?«

»Und was für ein Prachtstück! Sieh ihn dir nur an! Was sagst du?«

Unschlüssig betrachtete Falk das Holzblasinstrument. »Was soll ich dazu sagen? Ich bin sprachlos.«

»Kein Wunder.« Versonnen strich der Gaukler über den Luftsack. »Aber sehen allein genügt nicht. Hören musst du ihn! Ich sage dir, du wirst begeistert sein. Mir ging es jedenfalls so. Für nur drei Goldstücke habe ich dem Wirt das gute Stück abgeschwatzt.«

»Drei Goldstücke?« Damit hätte man, fand Falk, beileibe Besseres anfangen können, als sich eine Bockpfeife zuzulegen. Ironisch fügte er hinzu: »Das reinste Schnäppchen.«

»Tja, da staunst du. Ich bin eben der größte …«

»Kaufmann der Welt.«

»Nicht nur das, sondern auch der Welt bester Dudelsackbläser.«

Ich glaube es dir, auch ohne es zu hören, wollte Falk sagen, doch es war zu spät.

Schon legte Bingo die Lippen an die Spielpfeife. Er plusterte die Backen auf und blies mit aller Kraft hinein. Ein tiefer Ton entstand, ein Brummen, das klang wie ein aufziehendes Unwetter. Es hielt einige Sekunden lang an und veränderte sich dann zu einem schrillen Kreischen, das Falk durch Mark und Bein ging. Wiehernd bäumte sich Donner auf und warf seinen Reiter beinahe ab. Es gelang Falk gerade noch, sich im Sattel zu halten.

»Ruhig, Donner, ganz ruhig«, redete er auf den Braunen ein.

Bingo ließ den Dudelsack sinken. Die Pfeife rutschte ihm aus dem Mund. »Dein Pferd ist wohl nicht sehr musikalisch.«

»Mehr als du«, versetzte der Ritter.

Säuerlich, als hätte er in eine Zitrone gebissen, verzog Bingo das Gesicht. Falk ergriff die Zügel von Bingos Vierbeiner und machte Anstalten, ihn hinter sich herzuziehen.

»Was soll das?«, protestierte Bingo. »Lass los!«

»Kommt nicht infrage. Wir reiten zurück ins Dorf.«

»Und wozu?«

»Ich will dem Wirt weitere drei Goldstücke geben, damit er dieses teuflische Instrument wieder zurücknimmt.«

»Wie bitte?« Diesmal pustete Bingo die Backen auf, ohne den Dudelsack blasen zu wollen. »Wie kannst du nur? Nein, bitte nicht! Ich will ihn behalten! Seit meiner zartesten Jugend ist es mein Wunsch, ein solches Instrument zu besitzen und darauf spielen zu können.«

Falk verdrehte die Augen. »Aber du kannst nicht darauf spielen. Das hast du soeben eindringlich bewiesen.«

Bingos Mundwinkel sackten nach unten. »Vielleicht hast du recht. Ich gebe zu, allzu himmlisch ist meine Musik noch nicht, aber das liegt allein an der fehlenden Übung. Wenn ich unterwegs fleißig übe, werde ich sicher bald Meisterschaft erlangen.«

»Unterwegs? Du willst den ganzen Weg über auf diesem Ding dudeln?«

»Nicht den ganzen Weg, nur hin und wieder.«

»Na schön.« Seufzend lenkte Falk ein. Er konnte seinem Freund das Dudelsackspiel schlecht verbieten, und wenn es noch so grauenhaft klang. »Aber wenn du auf dem Ding musizierst, dann mindestens eine halbe Meile vor oder hinter mir. Kommt ganz darauf an, aus welcher Richtung der Wind weht.«

Bingo rümpfte die Nase. »Einverstanden, du Banause. Ich reite voraus. Sieh zu, dass es dir nicht langweilig wird ohne meine Gesellschaft.«

Der Gaukler gab seinem Pferd die Sporen und preschte davon. Falk trottete gemächlich hinter ihm her. Womit hatte er das bloß verdient?

*

Der Abstand brachte nicht viel und nach einer Weile stellte Bingo seine ebenso lautstarken wie kläglichen Versuche, dem Dudelsack halbwegs erträgliche Töne zu entlocken, wieder ein. Er wartete, bis Falk zu ihm aufgeschlossen hatte, und nebeneinander ritten sie weiter, einem sacht ansteigenden Gebirgspfad folgend. Zu ihrer Linken erhob sich eine Steilwand, zu ihrer Rechten lag leicht abschüssiges Gelände, bewachsen mit Buschwerk und vereinzelten Tannen. Die Vormittagsstunden verstrichen und gelegentlich gab Bingo ein unzufriedenes Brummen von sich. Offensichtlich war er mit seiner musikalischen Pause nicht glücklich. Schließlich hielt er es nicht mehr aus.

»Habe ich mich nun lange genug zurückgenommen?«, platzte es aus ihm heraus. »Darf ich endlich wieder?«

Falk brauchte nicht zu fragen, wonach es seinen Begleiter gelüstete. Er wusste es auch so, schließlich fummelte Bingo unermüdlich an den Pfeifen des Dudelsacks herum.

»Meinetwegen«, fügte er sich in sein Schicksal. »Ich bin zu geschwächt, um Nein zu sagen.«

Lächelnd führte der Gaukler die Spielpfeife zum Mund und schauriges Heulen und Kreischen setzte ein. Falk fand, dass sich das Gedudel noch schlimmer anhörte als zuvor. Er presste sich die Hände auf die Ohren, ließ sie aber gleich wieder sinken, als er einen Reiter um die Wegbiegung kommen sah. Das Pferd des Mannes bäumte sich auf, ebenso sein Packpferd, und beide kamen vom Weg ab. Während der Reiter einen entsetzten Schrei ausstieß, rutschten die beiden Vierbeiner die Böschung hinunter.

»Bingo!«, schrie Falk.

Der Gaukler hatte bereits begriffen. Der Lärm aus seinem Instrument endete. Er ritt schneller, um dem Gestürzten zu Hilfe zu eilen. Auch Falk preschte hinzu. Die Freunde sprangen aus dem Sattel.

»Siehst du, was du angerichtet hast?«, schimpfte der Ritter.

Bingo zog eine Unschuldsmiene. »Willst du damit sagen, seine Pferde sind auch nicht musikalisch?«

Sie sprangen die Böschung hinunter, Bingo noch immer mit dem umgehängten Dudelsack vor der Brust. Der Fremde rappelte sich in die Höhe. Er trug die Kleidung eines Söldners und einen Helm auf dem Kopf. An seiner Seite baumelte ein Schwert. Seine Pferde kamen ohne Hilfe auf die Beine. Sie hatten keine Blessuren davongetragen, lediglich das Packpferd hatte einen Teil seiner Last verloren. Ihr Reiter reckte und streckte sich, um festzustellen, ob er sich die Knochen gebrochen hatte.

»Seid Ihr verletzt?«, fragte Falk besorgt.

»Zum Glück nicht. Aber was war das bloß für ein entsetzliches Geräusch? Mir fuhr der Schreck in alle Glieder. Es hörte sich an, als ob alle in der Hölle gequälten Seelen auf einmal voller Pein aufheulten. Kein Wunder, dass die Pferde bei diesem infernalischen Lärm scheuten.«

»Ich muss doch sehr bitten.« Bingo verzog das Gesicht. »Keine Beleidigungen.«

Der Fremde starrte ihn aus großen Augen an. »Bei allen Teufeln! Ihr wart das! Etwa mit diesem seltsamen Ding, das Ihr da um den Hals tragt?«

»Beruhigt Euch«, schritt Falk ein, bevor Bingo ein falsches Wort sagen konnte. »Wir helfen Euch, die heruntergefallene Kiste wieder auf dem Packpferd festzubinden.«

»Bemüht Euch nicht, das mache ich schon«, wehrte der Fremde ab. Noch immer taxierte er Bingo wie einen Aussätzigen. »Geht zum Teufel, aber geht!«

»Schon gut. Es tut mir leid«, versicherte der Gaukler.

Dem Fremden war es egal. Er drehte sich um und machte sich daran, die Kiste wieder auf sein Packpferd zu laden. Sie hatte durch den Sturz keinen Schaden davongetragen. Er band sie fest, ohne die Gefährten eines weiteren Blickes zu würdigen.

»Komm mit«, forderte Falk seinen Freund auf. Sie stiegen die Böschung hinauf. »Tu mir einen Gefallen! Lass die Luft aus dem Dudelsack und wickle ihn in eine Decke, damit ich ihn für eine Weile weder sehen noch hören muss. Am besten für eine sehr lange Weile.«

»Meinetwegen«, gab Bingo klein bei. »Aber ich füge mich nur der rohen Gewalt.«

Nachdem er sein Schmuckstück verstaut hatte, saßen sie auf und ritten schweigend weiter. Irgendwann hob der Dicke den Kopf und schnupperte. Ein Lächeln stahl sich in sein Gesicht. Betörender Duft lag in der Luft.

*

»Riechst du das? Das wunderbare Aroma von köstlichem Braten, der über einem Feuer brät.«

»Wahrhaftig.« Falk nickte. »Der Geruch scheint aus dem Waldstück dort vorne zu kommen.«

Erst jetzt merkten die Freunde, wie hungrig sie waren. Bingo knurrte der Magen. Kein Wunder, die Mittagszeit war längst angebrochen. Sie entdeckten eine hinter den Bäumen aufsteigende Rauchfahne und wandten sich in diese Richtung. Ein breiter Weg führte zwischen den Bäumen hindurch, aus deren Kronen das Zetern von Vögeln drang. Gleich darauf wurde es übertönt von menschlichem Gelächter. Auf einer Lichtung standen zwei Männer und eine Frau an einem Feuer, über dem an einem Ast ein großes Stück Wildbret briet. Ein Wassereimer stand daneben. Unter einem Baum war ein Planwagen abgestellt, das ausgespannte Pferd weidete in der Nähe.

»Eine Zigeunerfamilie«, stellte Falk erfreut fest.

»Hallo Freunde!« Bingo winkte. Beim verlockenden Duft des garenden Fleisches lief ihm das Wasser im Mund zusammen. »Ist am Feuer noch ein Plätzchen für zwei Edelleute frei?«

»Uns sind alle willkommen, die friedliche Absichten haben.« Der ältere der beiden Männer machte eine einladende Handbewegung. »Und unser Fleisch reicht auch für Gäste.«

Bingo stieg lachend aus dem Sattel. »Dann sind wir hier richtig. Der Einzige, der sich vor mir fürchten muss, ist der Braten.«

Der Ältere fiel in das Lachen ein. »Ich heiße Baschnu. Dies sind Silvana und Paneli.«

Falk nannte ihre Namen. Er nahm ein Goldstück aus seinem Geldbeutel und reichte es Baschnu, der ebenso wie die beiden anderen große Ohrringe trug. Ein Wasserfall langer schwarzer Haare fiel der jungen Silvana bis auf den Rücken.

»Danke, Herr. Bitte nehmt Platz«, forderte Baschnu die Freunde auf, während sich Paneli daranmachte, Fleischstücke von dem Braten abzuschneiden und zu verteilen. »Für uns arme Leute ist es eine Ehre, zwei Ritter als Gäste zu haben.«

»Und uns ist es eine Ehre, an eurem Feuer Platz nehmen zu dürfen.«

Alle setzten sich und aßen. Besonders Bingo langte kräftig zu. »Junge, Junge, das schmeckt ganz ausgezeichnet«, schnaufte er kauend. »Woher kommt ihr?«

»Wir waren gestern auf der Burg des Grafen Lanzenkamp und haben dort eine Vorstellung gegeben«, plauderte Baschnu. »Wir sind fahrende Künstler, die die Menschen unterhalten, wo immer man uns willkommen heißt. Meine Tochter tanzt, mein Sohn balanciert auf dem Seil und auch ich gebe allerlei Kunststücke zum Besten.«

Bingo horchte auf. »Fahrende Schausteller? Genau wie ich. Ich beherrsche auch so einiges.«

»Tatsächlich?«, staunte Silvana. »Ein Ritter, der Kunststücke aufführt?«

Der Dicke warf sich in die Brust. »Ich bin nicht nur ein Ritter, sondern zudem der größte Gaukler und Magier der Welt. Soll ich es beweisen?«

»Unbedingt. Wir sind schon sehr gespannt«, sagte Paneli.

»Nichts lieber als das.« Bingo ließ einen abgenagten Knochen fallen und wischte sich die Hände ab. Er klaubte sechs Steine auf und jonglierte geschickt damit, wie er es schon auf so manchem Marktflecken getan hatte. »Na, was sagt ihr dazu?«

»Donnerwetter! Das hätte ich nicht gedacht«, gestand Baschnu. »Allerdings jongliere ich auf dem Kopf stehend.«

»Wie bitte?«

»Ganz recht. Seht her, Herr Ritter.« Der Ältere übernahm die sechs Steine. Tatsächlich legte er mit durchgedrücktem Rücken einen Kopfstand hin. Mit spielerischer Leichtigkeit wiederholte er das Kunststück, das Bingo zuvor durchgeführt hatte.

»Hm.« Bingo räusperte sich. »Nicht schlecht – doch ich kann das genauso gut. Wenn nicht sogar besser, bei aller Bescheidenheit. Ich mache den Kopfstand und nehme noch zwei weitere Steine dazu.«

Falk ahnte nichts Gutes, doch er unternahm keinen Versuch, den Dicken zur Vernunft zu bringen. Einmal in Fahrt gekommen, war Bingo ohnehin nicht mehr aufzuhalten – so wie jetzt. Den Kopfstand bekam er noch halbwegs gelungen hin, obwohl er dabei zappelte und mit den Füßen ruderte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Doch als er den ersten Stein in die Luft warf, kippte er hintenüber und fiel rücklings in die Feuerstelle. Mit einem Aufschrei wälzte er sich zur Seite und sprang mit dem Hosenboden in den Wassereimer.

Baschnu klatschte Applaus. »Das ist ein gelungener Abschluss der Nummer, Herr.«

»Ja, die Leute wollen immer etwas zu lachen haben«, stimmte Paneli seinem Vater zu.

»Zu lachen?« Umständlich erhob sich der Gaukler. Er straffte seine Gestalt. »Ja, genau. Man muss stets auf den Geschmack des Publikums eingehen. Deshalb war das beabsichtigt.«

Angesichts des Missgeschicks seines Freundes fiel es Falk schwer, ein Lachen zu unterdrücken. »Du bist wirklich unverbesserlich, Bingo. So, und nun …«

Weiter kam der Ritter nicht. Hufgetrappel schallte durch den Wald und eine Reiterschar brach durchs Unterholz. Die Männer machten keinen freundlichen Eindruck.

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