Leseprobe – Nick – Eine phantastische Entdeckung


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EINS

»Donnerwetter«, staunte Xutl über den Anblick, der auf dem Schirm zu sehen war. Riesengroße Gesichter schwebten vor dem Kugelschiff. »Unsere Verkleinerung geht rasend schnell voran.«
Nick winkte ab. »Das ist noch gar nichts. Der Prozess hat soeben erst begonnen. Die Wissenschaftler haben ganze Arbeit geleistet. Wir werden dieses Mal noch viel kleiner als bei unserem ersten Testlauf.«
Die Gesichter gehörten jenen angesprochenen Wissenschaftlern, die unter Leitung von Professor Raskin das scheinbar Unmögliche möglich gemacht hatten. Raskin hatte einen Strahler gebaut, der jedes Objekt beliebig verkleinern konnte – so auch Menschen oder ein Raumschiff. Xutl war beim ersten Versuch nicht dabei gewesen. Nun, beim zweiten Vorstoß in den Mikrokosmos, begleitete der Marsianer seine irdischen Freunde, den Weltraumfahrer Nick und den weltweit geschätzten Biologen Tom Brucks.
»Die Schwierigkeiten, mit denen wir bei unserer ersten Expedition zu kämpfen hatten, sind gottlob ausgeräumt«, sagte Tom. »Wir sind unabhängig von dem Strahler im Labor.«
Den Experten war es gelungen, das Gerät direkt ins Schiff einzubauen. Die Besatzung hatte jederzeit Zugriff darauf und war nicht auf eine Bedienung von außen angewiesen.
Zwei Monate waren vergangen seit dem ersten Testlauf. Was anfangs wie ein Wunder geklungen hatte, wurde mittlerweile von allen akzeptiert, die an dem Projekt beteiligt waren. Der menschliche Geist stellte sich schnell auf Fortschritte ein. Das galt für den Verkleinerungsstrahler ebenso wie für den Kugelraumer und dessen modernste Technik. Das Raumschiff war damit vollgestopft: R3-Aggregate zum Anflug auf Planeten, Überlichtantrieb, Elektronengehirn und ein energetischer Schutzschirm. Ein Aufzug verband sämtliche Etagen miteinander. Bei Landungen fuhr er durch die untere Klappe des Raumschiffs bis zum Boden hinab, wo er die Insassen absetzte. Das ganze Schiff war ein Meisterwerk der Ingenieurskunst.
Die Kugel senkte sich nun scheinbar auf ein gigantisches Gebäude herab. Tatsächlich handelte es sich nur um einen Eisenquader, der nicht länger war als eine Hand. Er lag auf einem Tisch, um den die Wissenschaftler versammelt waren, um das Schauspiel zu beobachten. Bald füllte der zum Gebirge angewachsene Quader das gesamte Blickfeld der drei Reisenden aus.
Sie waren Reisende in den Mikrokosmos, dachte Nick ehrfürchtig. In die kleinsten Bauteile der Materie. Dorthin, wohin kein Mensch gelangen konnte, wie man noch vor Kurzem angenommen hatte – fälschlicherweise angenommen hatte. Denn es ging doch, dank der Erfindung von Professor Raskin.
Immer schneller ging die Verkleinerung vonstatten, immer weiter schritt sie voran. Sämtliche bekannten Strukturen veränderten sich, verschwammen, vergingen. Nick und Tom, die den Vorgang bereits miterlebt hatten, blieben gelassen. Xutl hingegen stieß immer wieder verblüffte Ausrufe aus.
»Gigantische Kristalle«, raunte der Marsianer.
»In Wahrheit sind sie so klein, dass kein Mensch sie mit bloßem Auge erkennen kann.« Nick lächelte. »Es sind die Eisenkristalle des Quaders, zwischen denen wir schweben.«
»Das ist unheimlich, aber auch faszinierend.«
Nick fasste die Instrumente ins Auge. »Das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht. Wir werden noch viel kleiner.«

*

Die Wissenschaftler verfolgten das Phänomen mit angehaltenem Atem. Totenstille herrschte in dem Tagungsraum, in dem sie zusammengekommen waren. Was wie ein Wunder erschien, hatte keine andere Ursache als den Forscherdrang weitsichtiger Männer. Besonders Professor Raskin mit seinen genialen Ideen war ein Musterbeispiel für Findigkeit und menschlichen Einfallsreichtum.
»Gehen Sie mit den Köpfen nicht zu nahe heran«, legte der Professor seinen Kollegen nah. »Ihr Atem kann eine Katastrophe auslösen. Jeder noch so winzige Luftzug wirkt sich für unsere verkleinerten Freunde wie ein Orkan aus.«
»Bei der Versuchsfahrt wären Nick und Tom dabei beinahe umgekommen«, erinnerte sich der Wissenschaftler Weber.
Raskin erhob sich und begab sich zur Funkanlage. »Haben Sie noch Verbindung?«
»Leider nicht«, bedauerte der Funker. »Die Störungen sind immer stärker geworden. Jetzt ist die Verbindung ganz abgebrochen.«
»Kein Grund zur Panik.«
Damit war zu rechnen gewesen. Inzwischen war das Schiff mit bloßem Auge nicht mehr zu sehen. Die drei wagemutigen Abenteurer waren auf direktem Weg in den Mikrokosmos.

*

Rings um die Kugel ragten Kristalle auf. Sie bildeten einen Wald, der sich in alle Richtungen erstreckte. Jeder einzelne Kristall war größer als das Raumschiff, das eigentlich gebaut worden war, um durch die Weiten des Weltalls zu fliegen. In der Welt des Kleinen ließ es sich jedoch genauso gut einsetzen. Die Veränderung setzte sich fort. Auf dem Hauptschirm, um den weitere kleine Monitoren platziert waren, prangte ein einzelner Kristall. Den Männern kam er so groß vor, dass sie es kaum fassen konnten. Doch auch seine Form wurde Sekunden später von einem anderen Erscheinungsbild abgelöst.
»Die einzelnen Kristalle lassen sich nicht mehr voneinander unterscheiden«, sagte Tom. »Alles verschwimmt.«
Nick lächelte. »Sie verändern ihr Aussehen nicht wirklich. Das ist eine optische Täuschung, weil wir immer kleiner und kleiner werden.«
»Was hat das zu bedeuten? Alles wird dunkel.« Xutl nahm eine Schaltung an den Instrumenten vor, um eine verbesserte Ansicht zu bekommen. Es gelang nicht.
Der Schirm wurde schwarz. Für einen Moment sah es aus, als sei er ausgefallen. Dann zeichneten sich in der Schwärze winzige Lichtpünktchen ab.
»Ich ahne, was geschieht«, sagte Tom. »Dennoch ist es kaum zu fassen.«
Xutl war ratlos. »Ich verstehe es nicht. Dieser Anblick ist vertraut. Kann mir das einer erklären? Wir sind ja wieder im Weltraum!«
»Ganz recht, auf gewisse Weise jedenfalls«, setzte Nick zu einer Erklärung an. »Es ist nicht das uns bekannte Weltall, sondern ein atomarer Weltraum. Im Verhältnis kreisen die Elektronen um den Atomkern in ähnlichen Entfernungen wie unsere Planeten um die Sonne. Dazwischen befinden sich riesige Leerräume.«
»Also ist ein Atom in diesem Universum vergleichbar mit einem Sonnensystem in dem unseren«, folgerte Tom. »Theoretisch war uns das schon lange klar. Aber erst die Entdeckung der neuen Strahlen gibt uns die Möglichkeit der praktischen Erfahrung. Da draußen sehen wir den Beweis für die Richtigkeit früherer Überlegungen.«
»Eine tolle Entdeckung.« Xutl seufzte.
Nick hatte das Gefühl, dass seinen grünhäutigen Freund ein Anflug von Schwermut befiel. Kein Wunder. Xutl war der letzte überlebende Marsianer. Seine Heimat war in einem durch Krieg ausgelösten Feuersturm versunken und nicht mehr bewohnbar. Xutl konnte nicht mehr zurückkehren, geschweige denn je wieder auf einen anderen seines Volkes treffen.
»Alles in Ordnung?«, fragte der Weltraumfahrer.
Xutl nickte, eine Geste, die Terraner und Marsmenschen gemeinsam hatten. Es gab weitere Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Völkern. Nick bedauerte, dass sie nichts dazu hatten beitragen können, das Drama auf dem Mars zu verhindern.
»Ein großer Körper nähert sich mit ungeheurer Geschwindigkeit«, holte Tom ihn in die Gegenwart zurück. »Was ist das?«
»Keine Ahnung.«
»Wir müssen ausweichen, sonst kollidieren wir mit dem Objekt.«
»Ich schalte den R3-Antrieb ein.« Nick nahm die erforderliche Schaltung vor. Er beherrschte die Kontrollen des Kugelraumers mit traumwandlerischer Sicherheit.
Ein tiefes Grollen rollte durch den stählernen Leib, als das Raumschiff seinen Kurs änderte. Auf dem Bildschirm war ein flammendes Gebilde zu sehen, wie ein glühender Meteorit, der einen feurigen Schweif hinter sich herzog.
»Die Entfernung ist groß genug«, sagte Xutl. »Der unbekannte Körper fliegt weit an uns vorbei.«
»Kein Grund zum Jubeln«, widersprach Nick. »Das Ding besitzt eine hohe Anziehungskraft. Es versucht uns zu sich heranzureißen.«
Tom nestelte fahrig an seiner Brille. »Unternimm etwas, sonst krachen wir zusammen.«
Nick war schon dabei. Er schaltete den R3-Antrieb auf volle Kraft. Die Männer hielten die Luft an, als das Kugelschiff aus dem Kurs gerissen wurde. Es beschrieb einen Bogen und vergrößerte die Distanz zu der Feuerkugel, bevor es abgefangen wurde.
»Geschafft.« Nick beobachtete die Flugbahn des unheimlichen Gebildes. Er bezweifelte, dass das Raumschiff einen Zusammenstoß überstanden hätte. »Es entfernt sich von uns. Die Gefahr ist vorbei.«
»Schön und gut, aber was war das?«, wollte Xutl wissen.
Nick konnte es sich denken. »Vermutlich ein schnelles Alphateilchen. Dessen Bahn verläuft verhältnismäßig gradlinig. Das ist unser Glück. Seine Anziehungskraft wirkte sich zwar auf uns aus, aber es selbst wich nicht von seiner Bahn ab. Sonst hätten wir ihm wahrscheinlich nicht ausweichen können.«
»Junge, Junge.« Tom saß der Schreck in allen Gliedern. »Glück gehabt. Gut, dass du so schnell reagiert hast. Übrigens, werden wir immer noch kleiner?«
»Himmel, ja. Es wird Zeit, dass wir den Verkleinerungsprozess beenden.«
Nick verringerte die Geschwindigkeit und nahm eine weitere Schaltung vor. Optisch veränderte sich nichts. Auf dem Schirm war weiterhin das bekannte Schwarz zu sehen. Nur die Anzeigen verrieten, dass das Raumschiff nicht noch kleiner wurde.
»Im Vergleich zu unserer Größe befinden wir uns jetzt wieder in einem richtigen Universum«, erklärte der Weltraumfahrer. »Entsprechend vorsichtig müssen wir uns verhalten. Es ist durchaus möglich, dass wir auf Meteoritenschwärme treffen. Das Alphateilchen war eine eindringliche Warnung.«
»Am besten bauen wir unseren Schutzschirm auf«, schlug Xutl vor.
»Gute Idee. Der Schirm ist für Meteoriten kaum zu durchdringen.«
Der Marsianer griff auf die zugehörigen Kontrollen zu. Geräuschlos lief das Aggregat an, doch bevor der Schirm sich aufbaute, ging ein Ruck durch das Schiff.
»Was ist jetzt wieder passiert?«, fragte Tom.
»Wir sind getroffen worden. Xutl hat richtig reagiert, aber wir waren zu langsam. Ein Meteorit hat uns erwischt.«
Plötzlich erlosch das Licht. Im Kontrollraum wurde es stockdunkel. Der Biologe stieß eine Verwünschung aus. Nick behielt die Ruhe. Er fand sich auch im Dunkeln zurecht. Vorsichtig tastete er sich zu der Schaltwand vor, wo die Bedienungseinrichtung für die Notbeleuchtung installiert war. Er fand sie und betätigte den Schalter. Im Kontrollraum flammte Licht auf.
»Immerhin, die Notbeleuchtung funktioniert noch«, zeigte er sich zufrieden.
»Was man von dem Schutzschirm nicht behaupten kann«, brummte Xutl. »Er lässt sich nicht aufbauen. Der Meteorit muss etwas beschädigt haben.«
»Ich sehe nach.« Nick wandte sich der Kontrolltafel zu, die in einer Nische zwischen den Pulten eingelassen war. Er deutete auf eine rot glimmende Leuchte. »Das sieht nicht gut aus. Die Warnlampe der Leitung zum Aggregat brennt. Der Meteorit hat die äußeren Leitungen durchschlagen.«
Den Raumfahrern war klar, was das bedeutete. Sie mussten aussteigen, um den Schaden zu reparieren. Solange sich der Schutzschirm nicht aufbauen ließ, war das Schiff in größter Gefahr. Der nächste Einschlag konnte sich als noch viel schlimmer erweisen. Nick lokalisierte die Stelle, wo der Schaden entstanden war. Er streckte einen Arm aus.
»Etwa dort oben. Beeilen wir uns, Xutl.«
Als Biologe war Tom für diese Art von Arbeit weniger geeignet. Er sah zu, wie Nick und Xutl ihre Raumanzüge aus einem Spind nahmen. Schnell legten sie die Anzüge an. Der Marsianer zog eine Kiste hervor. Sie enthielt Werkzeug, um das Leck in der Außenhülle zu reparieren. Nick schnappte sich eine weitere Box mit Ausrüstungsgegenständen, um für alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Sie hatten keine Zeit, noch einmal zurückzukommen, nur weil sie ein benötigtes Utensil vergessen hatten.
Die Freunde schlossen die Helme ihrer Anzüge, während sie aus der Zentrale stürmten. Das Schott schloss sich hinter ihnen und sie folgten dem Verlauf des angrenzenden Korridors. Hinter dem nächsten Schott hielt Nick inne. Über ihnen klaffte eine offen stehende Luke, durch die die nächste Schiffsebene zu erreichen war. Eine Notleiter führte hinauf.
»Wir müssen nach oben.«
»Also eine Kletterpartie.« Xutl griff nach den Leitersprossen.
»Das kostet uns zu viel Zeit.« Neben dem Schott gab es einen Sprechanschluss. Nick hieb auf den Kontakt. »Hörst du mich, Tom?«
»Ja, was gibt es?«, meldete sich der Biologe.
»Schalte das künstliche Schwerefeld aus. Dann kommen wir schneller voran.«
»Verstanden … und schon erledigt!«
Nick spürte es. Er verlor den Boden unter den Füßen. Xutl und er stießen sich ab und schossen in die Höhe. Schwerelos überwanden sie zwei Decks. Vorsichtshalber verschlossen sie hinter sich die Zwischenschotts. Zwei Ebenen weiter wurden sie fündig. Ein Meteorit hatte die Außenhülle durchschlagen.
»Donnerwetter, das ist ja ein Brocken«, entfuhr es Xutl beim Anblick des kartoffelförmigen Weltraumgeschosses.
»Nicht anfassen«, hielt Nick den Marsianer zurück. »Er könnte radioaktiv sein. Ich untersuche ihn mit dem Geigerzähler.«
Jetzt erwies sich die Mitnahme der Instrumente als vorausschauend. Nick nahm ein paar rasche Messungen vor. Sie fielen negativ aus.
»Ungefährlich. Versuchen wir, ihn aus der Einschlagstelle zu lösen.«
Zum Glück hatte die starke Panzerplatte der Hülle den fast mannsgroßen Meteorit aufgehalten und ihn des Großteils seiner kinetischen Energie beraubt. Er war in einen Kabelbaum gekracht und hatte sich in dem Wust verfangen. Mit vereinten Kräften rückten die Männer dem Gesteinsbrocken zu Leibe. Unter normalen Bedingungen hätten sie ihn nicht bewegen können, doch die Schwerelosigkeit erwies sich als große Hilfe.
»Der Bursche bewegt sich. Schaffen wir ihn drüben in die leere Ecke.«
Gemeinsam wuchteten sie das kosmische Geschoss beiseite und legten es auf dem Boden ab. Ein Teil der Kabel war zerfetzt worden. Die losen Enden baumelten von der Decke herab. Sie tanzten wie Schlangenköpfe hin und her. Nick schätzte das Ausmaß der Schäden ab. Sie sahen schlimmer aus, als sie waren.
»Ich beginne umgehend mit der Reparatur.«
»Mit den Leitungen wirst du allein fertig«, sagte Xutl. »Ich sehe mir das Leck aus der Nähe an.«
»Aber sei vorsichtig. Sichere dich auf jeden Fall mit der Leine, damit du nicht in den Weltraum abtreibst.«
»Klar. Ich habe keine Lust, da draußen verloren zu gehen.«
Xutl schwebte davon und Nick begann mit der Reparatur. Er arbeitete in fieberhafter Eile, aber mit der nötigen Konzentration. Während er die zerrissenen Leitungen instand setzte, hörte er über sein Außenmikro immer wieder ein leichtes Kratzen. Es klang gespenstisch, so als würde jemand mit den Zinken einer Gabel über die Metallhülle kratzen. In Wirklichkeit waren es kosmische Partikel, die auf das Schiff einprasselten, kleine Meteoriten. Ihre Winzigkeit machte sie nicht ungefährlich, da sie mit enormer Geschwindigkeit auftrafen.
Außerdem, dachte Nick nervös, konnte jederzeit ein weiterer großer Brocken das Schiff treffen.

*

Gewissenhaft befestigte Xutl die Halteleine und klinkte sie dann an seinem Raumanzug ein. Nachdem er sich gesichert hatte, hängte er das Schweißgerät an seinen Anzuggürtel und schwebte durch die Öffnung, die der Meteorit in die Schiffshülle geschlagen hatte, ins Nichts hinaus. Die gezackten Ränder zeugten von der enormen Wucht, mit der der Brocken und der Raumer kollidiert waren. Nicht auszudenken, wenn sich in diesem Augenblick zufällig jemand in dem Raum aufgehalten hätte!
Xutl schätzte die Optionen einer Reparatur ab. Er sah nur eine Möglichkeit, die Öffnung luftdicht zu verschließen. Sie mussten von innen eine Metallplatte unterlegen und sie festschweißen.
Nachdenklich betrachtete er das Schweißgerät. Nein, allein war diese Aufgabe nicht zu bewältigen. Er brauchte dazu Nicks Hilfe.
Eine rasende Bewegung huschte in sein Sichtfeld. Als Xutl den Kopf zur Seite drehte, sah er etwas auf sich zuschießen.
Ein kleinerer Felsbrocken.
Für einen Moment war der Marsianer wie gelähmt, doch auch eine sofortige Reaktion hätte ihn nicht gerettet. Viel zu schnell schoss der Brocken heran. Er zerfetzte die Halteleine, schlug gegen die Schiffswandung, prallte ab und jagte davon.
Xutl wurde fortgeschleudert. Er überschlug sich und verlor jede Orientierung. In rasender Abfolge zeigte sich das Schwarz des hiesigen Universums vor seinen Augen, die gebirgsgroß erscheinende Schiffshülle, dann wieder das Schwarz. Der Schwung war so groß, dass Xutl aus der schwachen Gravitation des Kugelraumers geriet und in den Raum hinausgetragen wurde.
»Hilfe!«, schrie er ins Helmmikrofon. »Nick! Tom! Ich treibe ab!«

*

Zufrieden betrachtete Nick das Ergebnis seiner Bemühungen. Die Arbeit war ihm zügig von der Hand gegangen. Die Leitungen waren geflickt. Der Schutzschirm sollte einsatzbereit sein. Jetzt konnte er Xutl bei der Reparatur des Hüllenlecks helfen. Bevor er seinen Gedanken in die Tat umsetzen konnte, vernahm er einen gellenden Schrei in seinem Helmempfänger.
Himmel, das war Xutl!
Nick fuhr herum und schwebte durch den Gang. Vor sich entdeckte er das Loch in der gewölbten Hüllenpanzerung. Von dem Marsianer war nichts zu sehen. Nick erreichte das Leck und hielt sich an dem gezackten Rand fest.
»Xutl, wo bist du? Kannst du mich hören?«
Sein Empfänger übertrug ein Knacken. Nick glaubte, seinen Namen zu vernehmen, abgehackte Wortfetzen. Dann folgte statisches Rauschen. Am Rand der Öffnung baumelte das lose Ende von Xutls Halteleine. Etwas hatte sie durchtrennt. Nick hielt vergeblich nach seinem Freund Ausschau. Seine wiederholten Anrufe blieben unbeantwortet. Xutl musste hilflos vom Schiff wegtreiben. Er hatte keine tragbaren Raketen bei sich, mit deren Rückstoß er seine Abdrift korrigieren konnte.
Nick schwebte den Weg zurück, den er gekommen war. Hastig unterrichtete er Tom über das Unglück und beauftragte ihn, nach Xutl Ausschau zu halten. Das Öffnen und Schließen der Schotts zwischen den einzelnen Decks kostete Zeit. Nick konnte nur hoffen, dass Xutl nicht verletzt war. Der Sauerstoffvorrat seines Anzugs hielt eine Weile vor. Ihn dort draußen zu finden, schien jedoch aussichtslos.
»Schwerkraft wieder einschalten, Tom.«
»In Ordnung«, bestätigte der Biologe.
Nick fing sich ab und hetzte das letzte Korridorstück zu Fuß weiter. Als er endlich den Kontrollraum erreichte, kam es ihm vor, als sei er eine halbe Ewigkeit unterwegs gewesen. Tom hantierte an den Geräten.
»Ich bekomme keinen Kontakt zu ihm. Er ist schon außer Reichweite. Sein kleines Funkgerät ist zu schwach, um von uns empfangen zu werden.«
»Energieschirm einschalten, Tom. Ich kümmere mich um Xutl.«
Leider war der Wunsch Vater des Gedankens. Nick hielt in alle Richtungen Ausschau, doch seine Versuche, den Marsianer auf den Bildschirm zu bekommen, misslangen.
»Er ist schon zu weit weg und sein Anzug reflektiert zu wenig Licht.«
»Versuchen wir es mit dem Radar.«
»Gut.« Nick behielt für sich, dass er wenig Hoffnung hatte. Er aktivierte die Radareinrichtung und tastete den Raum um das Schiff ab. Auch dieser Versuch erwies sich als untauglich. »Es hat keinen Sinn. Xutl ist zu klein für das Radar. Wir finden ihn nicht.«
Tom starrte seinen Freund an. »Wir können ihn doch nicht seinem Schicksal überlassen. Er ist da draußen verloren, dem Tode geweiht. Willst du etwa aufgeben?«
»Natürlich nicht. Ich will nicht, aber was können wir schon tun?«, brauste Nick auf. Seine Überlegungen überschlugen sich. Es musste einen Weg geben, Xutl in der scheinbaren Unendlichkeit ausfindig machen. Er stutzte. Vielleicht gab es tatsächlich eine Möglichkeit.
»Was ist los?«, drängte Tom. »Ich sehe dir an, dass du eine Idee hast.«
»Ja. Alles hängt davon ab, ob Xutl am Leben und bei Bewusstsein ist. Dann haben wir eine Chance, ihn zu retten.«
»Aber wie? Heraus mit der Sprache!«
»Sein Funkgerät ist zu leistungsschwach, um uns damit zu erreichen«, sprudelten die Worte aus Nick heraus. »Unser Schiffssender ist ungleich stärker. Xutl müsste noch im Empfangsbereich sein. Es genügt, wenn er uns hört, auch ohne antworten zu können. Er muss nur meine Anweisungen befolgen.«
Der Biologe zuckte mit den Achseln. »Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«
»Das wirst du gleich – hoffentlich.« Denn wenn Nicks Idee nicht funktionierte, war Xutl verloren.

*

Xutl rotierte um seine eigene Körperachse. Die Bewegung war langsamer geworden, doch es gelang ihm nicht, sie gänzlich zu unterbinden. Ohnehin wäre es sinnlos. Er konnte nicht einmal abschätzen, wie weit er sich inzwischen vom Schiff entfernt hatte, geschweige denn, in welcher Richtung es zu finden war. Erreichen konnte er es nicht. Er hatte mit dem Leben abgeschlossen. Xutl war Marsianer und Marsianer machten sich nichts vor. Er war verloren.
Wie lange mochte der Luftvorrat in den Flaschen seines Rückentornisters ausreichen? Für zwei Stunden? Für drei? Schließlich würde die Luft immer dünner werden und er dem Tod entgegendämmern. Vielleicht mit Halluzinationen und Panikanfällen. Xutl wusste nicht, ob er sich dieses Schicksal antun wollte. War es nicht besser, den Luftvorrat abzulassen und ein schnelles Ende zu erleiden, statt sich mit unnützen Gedanken zu quälen?
»Hallo, Xutl, hier spricht Nick. Ich hoffe, du kannst mich hören.«
Der Marsianer zuckte zusammen. Für einen Moment glaubte er, einer Einbildung zu erliegen. Doch dann begriff er, dass die Worte aus seinem Helmempfänger drangen.
»Ich höre dich, Nick«, krächzte er. »Ja, ich kann dich hören.«
Eine sinnlose Antwort. Mit seinem Anzugfunk kam er nicht bis zum Schiff durch. Dessen starke Funkanlage funktionierte jetzt nur in eine Richtung. Xutl konnte empfangen, aber nicht senden. Wieder erklang Nicks Stimme.
»Du musst das Schweißgerät einstellen. Justiere es so, dass die Flamme das Bedienaggregat trifft. Dadurch wird nach ein paar Sekunden eine Explosion ausgelöst. Benutze eine deiner beiden Sauerstoffflaschen als Antrieb, um dich davor in Sicherheit zu bringen. Tom und ich lassen den Bildschirm nicht aus den Augen. Die Explosion wird uns deinen ungefähren Standort anzeigen. Ich bin zuversichtlich, dass wir dich entdecken, wenn wir nur nah genug an dich herankommen.«
Xutl atmete schwer. Das Blut rauschte in seinem Kopf. Ja, so konnte es klappen. Eine glänzende Idee von Nick und Tom! Seine Freunde hatten ihn nicht aufgegeben. Der Marsianer schöpfte neuen Lebensmut.
Was für ein Glück, dass der Sauerstofftank aus zwei Flaschen bestand! Und was für ein Glück, dass der Schweißbrenner noch immer an seinem Gürtel hing.
Xutl griff hinter sich, was in der Schwerelosigkeit gar nicht so einfach war. Die Drehbewegung seines Körpers verstärkte sich wieder. Es gelang ihm, an eine der beiden Flaschen zu kommen und sie aus der Arretierung zu lösen. Nachdem er sie unter seinen Arm geklemmt hatte, hakte er den Brenner aus dem Karabiner und nahm die von Nick geforderten Einstellungen vor. Die Flamme, die auch im Leerraum nicht verlosch, glich einem glühenden Auge. Vermutlich blieben ihm nur Sekunden, bis es knallte.

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