Leseprobe – Nick – Spurlos verschwunden


Zum Roman

 

EINS

Das Sternenschiff bewegte sich mit geringer Geschwindigkeit durch den interplanetaren Leerraum. Der vierte Planet des Systems mit der kleinen gelben Sonne lag hinter den Raumfahrern, der dritte vor ihnen, auch er in der habitablen Zone. Unter den flinken Fingern des Radartechnikers Hert Braxler entfalteten die Instrumente Aktivität. Sie maßen die aus dem All grün und bräunlich aussehende Welt sorgfältig durch, und die Wissenschaftler stürzten sich wissbegierig auf die eintreffenden Daten.
»Da unten gibt es reiche Erzvorkommen, Nick«, stellte der Geologe James Simpson fest.
Das war eine ausgezeichnete Neuigkeit. Der Kommandant nickte bedächtig. »Wenn sich die Lebensbedingungen als günstig erweisen, landen wir.«
»Bist du sicher, dass du dich auf dem Planeten umsehen willst?«, fragte Xutl. Der grünhäutige Marsianer drehte den Kopf und fasste Nicks eingegipsten Arm ins Auge.
»Mein gebrochener Arm stört mich nicht«, behauptete der Weltraumfahrer. »Und zum Erforschen ist eine Welt so gut wie jede andere. Warum also sollten wir diese dort nicht untersuchen, wenn sie uns gewissermaßen auf einem Silbertablett präsentiert wird?«
»Weil Xutl davon ausgeht, dass du von diesem Sonnensystem die Nase voll hast«, warf Tom Brucks ein. »Und ich sehe das ähnlich.«
Nick hob eine Braue. »Darf ich erfahren, wieso?«
»Weil das System uns kein Glück gebracht hat.« Tom senkte die Stimme. »Denk nur an das intelligente Ameisenvolk, das wegen unseres Besuchs nicht mehr existiert. Wir kamen mit den besten Absichten – und was ist passiert? Eine Katastrophe! Wir tragen zwar keine Schuld am Untergang dieses Volkes, dennoch waren wir daran beteiligt.«
Nick verstand die Bedenken seines Freundes. Dem Biologen war jedes Leben heilig. Dass eine ganze Zivilisation ausgelöscht worden war, selbst eine so aggressive und feindlich gesinnte wie die der Ameisen, traf Tom tief. Doch so traurig das Geschehene war, in ihrer Verblendung hatten die Ameisen ihren Untergang selbst heraufbeschworen.
»Du bist wie Tom gegen eine Landung, Xutl?«, wollte Nick wissen.
Der Marsianer zuckte mit den Achseln. »Das habe ich nicht gesagt. Ein Sonnensystem hier draußen ist so gut wie Millionen andere. Ich gebe nur zu bedenken, dass wir uns im Randbereich der Milchstraße befinden. All die Entdeckungen, auf die du so scharf bist, laufen uns nicht weg. Vielleicht wäre es klüger, zunächst nach einem Heimweg zu suchen.«
Nick lächelte. »Vielleicht. Ja, mag sein. Doch trotz der ungeheuren Entfernung zur Erde kennen wie die Richtung. Auch sie läuft uns nicht weg. Warum also nicht unser Glück versuchen? Nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit wird es Zeit, dass unsere Forschungsmission endlich einen positiven Verlauf nimmt. Wir hätten es uns verdient. Denkt außerdem an die zerstörten Landestützen.«
Das Glück war ihnen wirklich nicht hold gewesen seit ihrem Notsprung, der sie zwar vor der Vernichtung durch die Gluthölle Proxima Centauri bewahrt, sie aber in den intergalaktischen Leerraum außerhalb der Milchstraße geschleudert hatte. Zwei Sonnensysteme im Randbereich der Galaxis hatten sie danach angeflogen, und beide Male hatten sie Federn lassen müssen. Oder Landestützen. Zunächst auf der Welt der Metallfresser, dann bei dem intelligenten Ameisenvolk, das die Besucher mit einer Atombombe hatte aus dem Universum fegen wollen. Das Sternenschiff konnte nicht mehr aufsetzen, ohne umzukippen. Die Stützen mussten schnellstens repariert werden. Nick selbst hatte einen gebrochenen linken Arm davongetragen. Der Gips schränkte den Weltraumfahrer bei fast allen Tätigkeiten ein.
»Ich würde mich deiner Zuversicht gern anschließen«, sagte Xutl, während er eine weitere minimale Kurskorrektur vornahm. Das Sternenschiff flog jetzt geradewegs auf den dritten Planeten zu. »Aber ich bleibe lieber skeptisch, das erspart mir weitere Enttäuschungen.«
»Vielleicht finden wir da unten Uran. Unsere Energiereserven könnten eine Auffrischung vertragen«, sprach der leitende Techniker Ricardo einen wichtigen Punkt an.
Ein weiteres gutes Argument für eine Landung, stimmte Nick dem Mann zu. »Bring uns in eine Kreisbahn, Xutl.«
Der Marsianer griff auf die Steuerung zu. Inzwischen stand der dritte Planet groß im Zentrum des Bildschirms. Das Sternenschiff bremste ab und schwenkte in den Orbit ein.

*

Frederic Wohler kam aus dem physikalischen Labor in die Zentrale geeilt. »Die Spektralanalyse des dritten Planeten ist abgeschlossen«, verkündete der Optikspezialist.
»Heraus mit der Sprache, Doktor!«, forderte Nick den kräftigen Zweimetermann auf. »Wie sieht die Atmosphärezusammensetzung aus?«
»Ausgesprochen erdähnlich.« Wohler schwenkte einen Zettel, der mit Datenkolonnen übersät war. »Das Verhältnis von Sauerstoff und Stickstoff ist ideal für Menschen. Die Spuren von Edelgasen bewegen sich im akzeptablen Rahmen. Meine Herren, die Atmosphäre ist für uns bedenkenlos atembar.«
»Ausgezeichnet.« Der Weltraumfahrer nickte zufrieden, doch trotz der guten Nachrichten und seiner Entschlossenheit zur Landung vermied er übereilte Schritte. »Wir gehen noch vorsichtiger vor als beim letzten Mal. Wir schleusen zunächst unsere Kameraroboter aus, um sicherzugehen, dass diese Welt kein intelligentes Leben trägt. Außerdem warten wir die Ergebnisse des biologischen Labors ab.«
»Eine kluge Maßnahme«, pflichtete Tom seinem Freund bei.
Nick erließ den Befehl an Techniker Ricardo, der sich daraufhin umgehend an die Programmierung der mit Kameras bestückten Maschinen machte. Wenig später fielen die fußballgroßen Roboter aus der unteren Polschleuse. Sie rasten durch die Atmosphäre und der Planetenoberfläche entgegen.

*

Die Kameraroboter schwärmten aus.
Schon lieferten sie erste Aufnahmen, die direkt auf einen Monitor des Sternenschiffs übertragen wurden. Der Planet bot zwei verschiedene Gesichter. Manche Gebiete erstreckten sich trostlos und karg, geprägt durch unbelaubte Hügel und flache Felsformationen, durch Sand und Gestein. Dem gegenüber standen grüne Landstriche mit Wiesen und Wäldern. Das zerrissene Antlitz bewirkte, dass der dritte Planet aus dem Weltraum grün und braun aussah. Zwischen all dem dehnten sich zwei große Ozeane und zahlreiche Seen aus, die die Landmassen mit blauen Sprenkeln überzogen.
Bald entdeckten die Roboter Tiere, irdischen Sauriern der Urzeit ähnelnde Riesen. Sie weideten auf den Wiesen und taten sich an Buschwerk und Baumkronen gütlich.
»Es sind Pflanzenfresser.« Tom nestelte interessiert an seiner Brille. »Von denen haben wir nichts zu befürchten.«
»Geht deine Wissbegier als Botaniker mit dir durch?«, fragte Nick. »Unsere primäre Aufgabe besteht darin, das Schiff zu reparieren und unsere Treibstoffvorräte zu ergänzen.«
»Sag das mal unseren beiden Gästen.«
Die Tierfänger Jane Lee und Jack Hunter hielten sich nicht in der Zentrale auf. Beiden ging es darum, exotische Tierarten von fremden Planeten zur Erde zu bringen, um sie dort in einem Zoo zu präsentieren. Dass Hunter nicht vor Gewalt zurückschreckte, um sein Ziel vor seiner Konkurrentin zu erreichen, hatte er bereits auf der Erde unter Beweis gestellt.
»Jane und Jack müssen sich ebenso gedulden wie du, Tom«, vertröstete Nick seinen Freund. »Aber keine Sorge. Die Reparatur wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Das bedeutet, dass wir so schnell nicht wieder losfliegen. Du wirst Gelegenheit erhalten, die Tierwelt und besonders die hiesige Flora zu untersuchen.«
»Fein. Ich bereite …« Der Biologe stutzte mitten im Satz. »Was erheben sich da vorn für Strukturen? Sind das Bauwerke?«
Die Raumfahrer drängten sich vor dem Bildschirm, als sich Toms Eindruck bestätigte. Ein Kameraroboter übermittelte Aufnahmen von flachen Gebäuden.
»Eine Stadt!«, entfuhr es dem Archäologen Brown, dem auch der Ruf anhaftete, das reinste Sprachgenie zu sein. »Wo es eine Stadt gibt, da gibt es auch Menschen. Beziehungsweise andere intelligente Lebewesen.«
Der Roboter flog direkt auf die Steinbauten zu, die kreisförmig angelegt waren. Es war unübersehbar, wie beachtlich die Ausdehnung der Stadt war. Die Kamera enthüllte nun Einzelheiten der überwiegend einstöckigen Häuser, die längst verlassen waren. Nirgendwo regten sich Lebenszeichen.
»Eine Ruinenlandschaft«, stellte Nick fest.
Umso mehr löste die Entdeckung Überraschung bei den Wissenschaftlern aus. Vor ihnen lagen die Überreste einer versunkenen Kultur. Da sie davon ausgingen, dass die Letzten jener Unbekannten schon vor langer Zeit vom Antlitz dieser Welt verschwunden waren, bestand nicht die Gefahr eines feindselig verlaufenden Zusammentreffens, wie sie es auf dem Nachbarplaneten erlebt hatten. Über die Ruinen freuten sich die Archäologen noch mehr als über die Begegnung mit lebenden Angehörigen einer fremden Zivilisation. Bei den steinernen Hinterlassenschaften fühlten sie sich voll und ganz in ihrem Element.
Doktor Brown bedrängte seinen Kommandanten, in der Nähe der Ruinenstadt niederzugehen. »Wer weiß, was für Geheimnisse auf uns warten. Ich kann es kaum erwarten, die Häuser zu betreten.«
Nick zögerte, den Befehl zur Landung zu erteilen. Er wartete auf mögliche Entdeckungen der anderen Kameraroboter. Tatsächlich spürten sie ein paar kleine Tierarten auf, unter denen jedoch keine Raubtiere waren. Intelligente Lebewesen gab es auf dem ganzen Planeten keine. Die unbekannten Erbauer der Stadt existierten längst nicht mehr. Das bewiesen über den ganzen Planeten verstreute Ruinenstädte. Keine von ihnen barg Leben. Während Nick noch um eine Entscheidung rang, meldete sich Helen Snider aus dem Labor.
»Wir haben unsere Analysen abgeschlossen«, eröffnete die Chemikerin. »Wir haben weder Bakterien noch Viren festgestellt, auch keine sonstigen Schadstoffe, die einem Menschen gefährlich werden können.«
Das gab den Ausschlag. »Bring uns runter, Xutl«, entschied Nick.
Der Marsianer bestätigte und leitete den Landeanflug ein – ohne die Landestützen ein waghalsiges Manöver. Mit all seiner Routine gelang es ihm in dem unebenen Gelände dennoch, das Sternenschiff auf der unteren Polkuppel aufzusetzen. Ein leichter Ruck ging durch die Schiffszelle, dann lag der Kugelraumer in stabiler Position. Als Xutl den Antrieb ausschaltete, überschlugen sich die Archäologen förmlich, endlich ins Freie zu gelangen.

*

Vier Raumsoldaten begleiteten die Wissenschaftler, die sich sogleich vom Zauber der untergegangenen Kultur gefangen nehmen ließen. Namensschilder auf den Kombis wiesen die Bewaffneten als Tim McCoy, Harry Leik, Jeff Johnson und Doug Cooper aus.
Südlich der Stadt erhoben sich Vulkankegel. Rauch stieg dem wolkenlosen Himmel entgegen, der in ein paar hundert Metern Höhe vom Wind davongetragen wurde. Im Westen funkelte ein See im Sonnenlicht. Für einen Moment schaute Brown zu dem Vulkan hinüber, der dem Schiff am nächsten lag. Die graue Rauchfahne machte keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck. Der Wissenschaftler wandte sich von dem Bergkegel ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Stadt.
»Das müssen einst prachtvolle Bauten gewesen sein«, geriet er angesichts der Trümmerlandschaft ins Schwärmen. »Wenn auch vor langer Zeit.«
Jetzt gab es nur noch Ruinen in verschiedenen Stadien des Erhalts. Sand hatte sich am Fuß der steinernen Häuser angesammelt. Der Wind pfiff durch Öffnungen und in den schmalen Gassen. Schwere, aufrecht stehende Säulen erinnerten die Archäologen an antike ägyptische Architektur.
»Sehen Sie sich die Vulkane an.« Doktor Wimbley deutete in die Ferne. Auch ihm waren die rauchenden Schlote nicht geheuer. »Sie können jederzeit ausbrechen. Ich bin sicher, das ist in der Vergangenheit schon oft geschehen. Möglicherweise sind sie der Grund für den Untergang des Volkes, das einst hier lebte.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach Brown halbherzig. »In der Nähe der anderen von den Robotern entdeckten Ruinenstädte gibt es keine Vulkane. Etwas anderes könnte das Verschwinden dieser Zivilisation ausgelöst haben. Untersuchen wir die Ruinen. Vielleicht finden wir in den Trümmern Hinweise.«
Gerade als die Raumfahrer losgehen wollten, gellte ein markerschütternder Schrei auf. Er klang, wie von einem Menschen ausgestoßen.

*

Die drei Freunde verweilten in der Zentrale und beobachteten das Vorrücken der ausgestiegenen Männer. Nick taxierte die Ruinen. Er bedauerte, nicht selbst an der Expedition teilnehmen zu können. Jeder Planet, den sie betraten, bedeutete eine neue Herausforderung. Jede neue Welt, die sie entdeckten, verhieß ungeahnte Möglichkeiten für die Menschheit.
»Zu blöd«, murmelte Nick. »Der Gips ist wirklich zu hinderlich.«
»Eine Woche noch, dann bist du ihn los, sagt der Doc. Statt dich zu beschweren, solltest du froh sein, dass wir alle so glimpflich davongekommen sind«, erinnerte Tom den Kommandanten.
Nick sah den leisen Vorwurf durchaus ein. »Stimmt leider. Noch ein paar Tage mehr auf dem Ameisenplaneten, und wir hätten unsere Krankenstation erweitern müssen. Wie geht es eigentlich Ted?« Der Raumsoldat Theodore Storm hatte sich bei den Auseinandersetzungen auf dem vierten Planeten Verbrennungen an der Wade zugezogen und ein paar Granatsplitter abbekommen.
»Ted ist zäh. Seine Wunden heilen schnell. Er kann schon wieder aufstehen und humpelt im Zimmer umher.«
»Und was macht Jack nach dem Eidechsenbiss?«
»Er leistet Ted beim Humpeln Gesellschaft.« Tom grinste breit. »Nein, ernsthaft, unser spezieller Freund ist schon wieder auf dem Damm. Es geht ihm gut. Für meinen Geschmack ein bisschen zu gut. Ich fürchte, es wird nicht lange dauern, bis ihm etwas Neues einfällt, womit er uns auf die Nerven gehen kann.«
»Er hat versprochen, sich keine Extratouren mehr zu erlauben«, sagte Nick. »Hoffen wir, dass er sein Wort hält.«
»Unsere Leute haben die Ruinen erreicht«, warf Xutl ein.
Nick richtete seine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm. Die Männer waren unbedrängt bis zum Rand der Stadt vorgedrungen. Etwas abseits weidete ein Saurier. Er schien die Menschen gar nicht bemerkt zu haben, und wenn doch, so kümmerte er sich nicht um sie.
»Hm«, machte Xutl. »Das ist merkwürdig. Das Feld links vor den ersten Ruinen war eben noch vollkommen kahl. Jetzt wachsen dort knallrote Pflanzen.«
Tom winkte ab. »Du musst dich irren. Dem Aussehen nach handelt es sich um eine Agavenart. Solche Pflanzen wachsen nicht von einem Moment auf den nächsten. Sicher hast du sie eben nur übersehen.«
»Habe ich nicht.« Xutl kniff die Augen zusammen. »Sie waren eben noch nicht da. Da bin ich ganz sicher.«
»Bring unseren Botaniker nicht durcheinander«, scherzte Nick.
Der Marsianer ließ sich nicht beirren. »Seht euch die Steinsäule an. Jetzt thront auch dort oben eine Agave, ganz wie aus heiterem Himmel.«
»Xutl hat recht«, räumte Tom verwundert ein. »Das verstehe ich nicht. Keine Pflanze kann sich so schnell entwickeln. Nun ja, zumindest auf der Erde nicht. Aber vielleicht besitzt die hiesige Flora Wachstumsfähigkeiten, die unseren Kenntnisstand übersteigen.«
Plötzlich kam Bewegung in die Agave. Sie schnellte von der Spitze der Säule und umklammerte mit ihren Blättern den Hals des Sauriers, der sich ihr beim Grasen genähert hatte. Der grüne Riese schüttelte wie von Sinnen den Kopf, doch es gelang ihm nicht, den Angreifer loszuwerden.
»Die Agaven sind wurzellose fleischfressende Pflanzen«, staunte Tom.
»Und sie schrecken nicht vor großer Beute zurück. Unsere Leute haben keine Ahnung von der drohenden Gefahr. Wir müssen sie warnen.« Nick reagierte gedankenschnell. Seine Hand hieb auf den Schalter für die Funkverbindung. Bevor er eine Warnung durchgeben konnte, vernahm er einen Schrei.
»Sie werden angegriffen.« Xutl wirbelte herum, um die Zentrale zu verlassen. »Ich nehme zwei Männer mit schweren Strahlern mit und kümmere mich darum.«

*

»Der Schrei hörte sich menschlich an«, überlegte Wimbley laut.
»Es muss eine Täuschung gewesen sein.« Brown nestelte verunsichert an seiner Brille. »Die Kameraroboter haben den Planeten gründlich untersucht. Menschliche oder andere intelligente Wesen wären ihnen nicht entgangen.«
»Stimmt. Dennoch haben wir alle den Schrei gehört.«
Und er ertönte abermals, als die Raumsoldaten noch ihre Zustimmung bekundeten. Wieder klang er beinahe menschlich, doch zugleich auch fremdartig. Diesmal ließ sich die Herkunft bestimmen. Brown deutete in Richtung des Sees.
»Sehen wir nach.« Entschlossen stapfte der Archäologe los.
Die Raumsoldaten folgten ihm eilig, alldieweil Wimbley ein wenig zurückfiel. Sie zogen ihre Strahler und flankierten Brown zu beiden Seiten. Weit brauchten sie nicht zu gehen, um Aufklärung zu erhalten. Ein Saurier streckte seinen Kopf aus dem Wasser und äste am Blattwerk ufernaher Büsche. Als er die Männer heranlaufen sah, stieß er ein weiteres Mal seinen inzwischen bekannten Schrei aus, bevor er sich in dem Gewässer umdrehte, um sich zu zwei Artgenossen am anderen Seeufer zu begeben.
»Damit ist das Rätsel gelöst«, stellte Brown fest. »Diese Tiere klingen fast menschlich. Wirklich interessant.«
»Seltsam ist jedoch, dass er das Weite sucht.« Wimbley hatte die Gruppe inzwischen eingeholt. »Tiere, die noch nie mit Menschen in Berührung kamen, fliehen in der Regel nicht.«
»Vielleicht ist die Furcht vor den früheren Stadtbewohnern noch in der Erinnerung dieser Art verankert«, spekulierte Brown.
Wimbley pflichtete seinem Kollegen bei. »Das könnte die Erklärung sein. Sicher sind die Vorfahren dieser Tiere einst Jagdwild gewesen. Das ist eine Sache für Tom Brucks. Begeben wir uns lieber an die Untersuchung der Ruinen.«
Brown kam nicht zu einer Antwort. Aus dem Augenwinkel erhaschte er ein Huschen. Als er den Kopf zur Seite drehte, gewahrte er eine knallrote, etwa mannshohe, agavenähnliche Pflanze, die ihm zuvor nicht aufgefallen war. Während er sich noch darüber wunderte, dass nichts in der Nähe war, das sich hätte bewegen können, entfaltete das Gewächs ein unerwartetes Eigenleben. Brown erkannte kaum, auf welche Weise es sich näherte, doch es war schnell, sehr schnell sogar. Ehe die Soldaten reagieren konnten, erreichte die Pflanze Wimbley und hob ihn in die Luft. Unversehens gebärdeten sich die roten Blätter wie Tentakeln. Blitzschnell rollten sie den Wissenschaftler ein. Wimbley zappelte und schrie, doch gegen die unheimliche Pflanze kam er nicht an.
»Sie versucht, ihn in ihr Inneres zu ziehen«, erkannte Raumsoldat Harry Leik.
Brown begriff schlagartig. »Das ist eine fleischfressende Pflanze! Wir müssen sie aufhalten, bevor sie Wimbley verschlingt.«
Die Soldaten hatten ihre Strahler bereits erhoben und nahmen die gefräßige Agave ins Visier, doch sie wagten nicht zu schießen. Zu groß war die Gefahr, den Wissenschaftler zu treffen. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen die in Aufruhr geratenen Blätter und verschaffte sich ein wenig Bewegungsspielraum.
»Ich muss es versuchen.« Tim McCoy schluckte krampfhaft. »Sonst ist er verloren.«
Brown stockte der Atem. Er stand stocksteif da, zu keiner Antwort fähig. Aus aufgerissenen Augen verfolgte er den Kampf seines Kollegen gegen dessen bizarren Gegner. Ein Energiestrahl zischte durch Browns Blickfeld. Er begriff, dass McCoy den Auslöser seiner Waffe betätigt hatte. Der Strahl fraß sich in den zentralen Strunk der Agave und riss sie regelrecht in Stücke.
Wimbley, unversehens frei, stürzte zu Boden. Brown eilte hinzu, um seinem Kollegen auf die Beine zu helfen.
»Sind Sie verletzt?«
Wimbley kam umständlich in die Höhe. Er reckte und streckte sich. »Nein, ich glaube nicht. Das ging gerade noch einmal gut. Wer hätte gedacht, dass die Flora dieser Welt so angriffslustig ist? Eine fleischfressende Pflanze, nicht wahr?«
»Ja, vermutlich«, ächzte Brown. »Ganz sicher bin ich mir jedoch nicht. Vielleicht handelt es sich um Tiere, die wie Pflanzen aussehen.«
»Wie auch immer, meine Herren«, riss McCoy die Wissenschaftler aus ihrem Zwiegespräch. »Jedenfalls kommen da drüben Dutzende dieser Dinger. Wir müssen hier weg.«
»Zurück zum Raumschiff!«, keuchte Wimbley.
»Zu spät.« McCoy sah sich um. Seine Kameraden zielten auf den roten Blätterwald, der sich ihnen näherte. »Sie haben uns den Weg zum Schiff abgeschnitten. Uns bleibt nur eine Fluchtmöglichkeit. In das Gebäude hinter uns. Beeilung, meine Herren!«
Die Wissenschaftler rannten los, die Raumsoldaten deckten sie. Obwohl die Pflanzen aufholten, erreichten die Raumfahrer den Eingang. Sie zogen sich in das steinerne Portal zurück, und die Soldaten eröffneten das Feuer. Zu Dutzenden verbrannten die Agaven in der von den Strahlern ausgelösten Flammenhölle. Doch schon näherten sich weitere Pflanzen. Auf die vermeintliche Beute aufmerksam geworden, bezogen sie in einigem Abstand Stellung, hungrig abwartend.
»Sie kommen nicht näher.« McCoy ließ seine Waffe sinken. »Einstweilen sind wir also nicht in Gefahr. Andererseits können wir nicht hinaus, ohne zu riskieren, von zwei Seiten angegriffen zu werden. Eine Patt-Situation, aber kein Grund zur Besorgnis. Sicher haben sie im Schiff mitbekommen, was geschieht. Verstärkung wird also in Kürze eintreffen.«
»Wir dringen trotzdem tiefer ins Gebäude vor und suchen nach einem anderen Ausgang«, entschied Brown nach kurzem Überlegen. »Zwei Mann genügen, um die Pflanzen zurückzuschlagen, falls sie es sich anders überlegen sollten.«
»Tim und ich bleiben hier«, sagte Harry Leik.
Die Archäologen, Johnson und Cooper stiefelten in der Hoffnung los, einen zweiten Ausgang aus der Falle zu finden.

*

»Unsere Leute verschanzen sich in dem Gebäude dort drüben.« Xutl trieb die beiden Raumsoldaten Brad Miller und Chris Konig an, die wie er selbst schwere Energiegewehre bei sich trugen. »Sie werden von Hunderten dieser Pflanzen angegriffen. Die Gewächse rotten sich regelrecht zusammen.«
Strahlenfeuer schlug aus dem Eingang des Bauwerks, dessen Abmessungen Xutl nicht überschauen konnte. Zu Dutzenden gingen die Agaven in Flammen auf. Knisternd verbrannten sie zu Asche. Als noch zweihundert Meter die Verstärkung von dem roten Pflanzenwald trennten, unterbrachen die Agaven ihren Aufmarsch. Gleich darauf endete der Beschuss von der anderen Seite.
»Und nun, Xutl?«, fragte Miller.
»Weiter!«, drängte der Marsianer. »Wir müssen zu unseren Leuten durchbrechen. Hoffen wir, dass die fleischfressenden Pflanzen keinen von ihnen erwischt haben.«
Mit grimmiger Entschlossenheit stapften die drei Männer weiter. Mit kurzen gezielten Feuerstößen rückten sie dem Dickicht mannshoher Gewächse zu Leibe. Die Strahlenbahnen hielten reiche Ernte. Sie mähten nieder und verbrannten, was sich nicht rechtzeitig in Sicherheit brachte. Ein Ascheregen rieselte zu Boden, dessen Flocken unter den Stiefeln der Raumfahrer zu Nichts zerfielen.
Endlich war der Weg frei. Xutl stürmte los und tauchte ins Halbdunkel des Eingangs ein. Er stieß auf Tim McCoy und Harry Leik.
»Wo sind die Wissenschaftler?«, verlangte er zu wissen.
»Sie sind in die Ruine vorgedrungen«, antwortete Leik. »Jeff und Doug sind zu ihrem Schutz mitgegangen.«
Xutl atmete auf. Sie hatten also keinen Mann verloren. Er wies die Soldaten an, am Eingang zu warten und die Umgebung zu überwachen. Sollten weitere Agaven herbeiströmen, mussten sie vernichtet werden. Der Marsianer vertraute sich dem vor ihm liegenden Gang an und machte sich auf die Suche nach den Wissenschaftlern.

Zum Roman