Leseprobe – Nick – Unendliches All


Zum Roman

 

EINS

Der Weltraum hatte keine Sterne mehr und keine farbenprächtigen Nebel. Die Projektion auf dem großen Bildschirm zeigte eine unheimliche Schwärze – als hätte der Hyperraum das Sternenschiff vor wenigen Augenblicken an einen Ort jenseits von Raum und Zeit ausgespien.
»Großer Gott!«, stöhnte einer der Techniker im Kommandobereich der Zentrale. »Wo sind wir? Wir werden unsere Erde nicht wiederfinden. Niemals hätten wir den Sprung ohne Berechnung wagen dürfen …«
»Dann wären wir in Proxima Centauri verbrannt wie Motten in einer Kerzenflamme! Nur Nicks schnelle Entscheidung hat uns der tödlichen Anziehungskraft der Sonne entkommen lassen.«
»Aber wohin …?«
Nick, der Weltraumfahrer, wandte sich in seinem Sessel zu den Technikern um. Beschwichtigend hob er beide Hände. Sogar das letzte unwillige Murmeln verstummte daraufhin.
»Ich bin sicher, dass wir unsere Dimension wieder erreicht haben«, sagte er. »Diese absolute Schwärze kann nicht real sein; vermutlich gibt es Fehler in der optischen Übertragung. Ein Reparaturteam wird sich umgehend darum kümmern.«
Minuten vergingen, bis endlich ein vager Lichtschimmer auf dem Schirm entstand. Eine mächtige Spirale aus Licht wurde sichtbar. Doch das war keine der fernen Galaxien, wie die Raumfahrer sie von hochaufgelösten Fotografien kannten. Tom Brucks fingerte unruhig an seiner Brille. Der Biologe stand neben Nicks Kommandoplatz. Er räusperte sich. »Ist das wirklich …?« Seine Stimme klang kratzig, er brachte die Frage nicht zu Ende.
Nick bestätigte die Vermutung seines Freundes. »Wir sind außerhalb der Milchstraße im intergalaktischen Leerraum in unsere Dimension zurückgefallen.«
Er wandte sich an den leitenden Kontrolltechniker, der an einem der Überwachungsinstrumente hantierte: »Schalten Sie den mittleren Schirmbereich auf Vergrößerung, Ricardo!«
Die Bildprojektion schien allen in der Zentrale entgegenzuspringen.
»Kein Zweifel, das ist unsere Galaxis!«, stellte der Marsianer Xutl fest. »Ich erkenne den Orionarm, außerdem einige markante Kugelsternhaufen.«
»Dann kann der schwächere Nebelfleck im Hintergrund nur Andromeda sein«, vermutete Nick. »Von unserer Position aus dürfte die Entfernung an die drei Millionen Lichtjahre betragen.«
In der optischen Vergrößerung wuchs die Milchstraße zur funkelnden Lichtflut an. Einige Hundert Milliarden Sonnen, dicht gedrängt, waren ein atemberaubender Anblick.
Die erste interstellare Expedition hatte ins nahe Umfeld des eigenen Sonnensystems führen sollen. Die Wissenschaftler, Techniker und Raumsoldaten hätten nie erwartet, so weit hinaus ins Nichts verschlagen zu werden. Jeder in der Zentrale des Sternenschiffs blickte gebannt auf das überwältigende Panorama.
Im äußeren Bereich der Galaxis blinkte ein Markierungspunkt. Xutl hielt die Fernsteuerung dafür in der Hand. »Ungefähr an diesem Punkt steht unser Sonnensystem«, stellte er fest.
»Proxima Centauri ebenfalls«, fügte Nick hinzu. »Aus der aktuellen Perspektive schrumpfen die gewaltigen Distanzen zu einem Nichts. Wir haben uns weit entfernt – viel zu weit. Offenbar bedurfte es erst der lebensbedrohlichen Nähe zu Proxima Centauri, damit wir erkennen, was das Sternenschiff leisten kann. Unüberwindbare Distanzen schrumpfen für uns zum Katzensprung.«
»Die Beinahekatastrophe deckt leider auch die Mängel des Schiffes auf«, mahnte der Marsianer. »Unsere Elektronenrechner sind zu ungenau.«
Nick musterte seinen Gefährten. Xutls zartgrüne Hautfarbe schimmerte dunkler als zuvor. Also beschäftigte sich der Marsianer intensiv mit dem Problem.
»An Bord des Sternenschiffs sind die besten Elektronengehirne installiert, die je auf der Erde entwickelt wurden«, widersprach Nick. »Bevor du ihre Leistungsfähigkeit anzweifelst, frag Professor Raskin nach den Besonderheiten.«
Xutl tippte sich mit zwei Fingern ans Kinn. »Es hat nichts mit den Computern und ihrer Kapazität zu tun, sondern mit den Werten, die unseren Flugberechnungen zugrunde liegen. Wir nutzen die astronomischen Entfernungsmessungen als Grundlage für jeden Hyperraumsprung. Dabei sind sie nur annähernd genau. Ich gebe zu, dass für die Lokalisierung von Sonnen und Planeten einige Millionen Kilometer Abweichung keine Rolle spielen; trotzdem können sie über Leben und Tod entscheiden.«
»So ist es«, pflichtete Tom bei, der bislang schweigend zugehört hatte. »Dass wir um ein Haar in der Gluthitze Proxima Centauris gebraten worden wären, steckt mir gewaltig in den Knochen.«
»Selbstverständlich müssen wir alle Unsicherheitsfaktoren in die Berechnungen einbeziehen.« Nick lächelte säuerlich. »Im Notfall bleibt uns dennoch keine andere Wahl, als schnell zu handeln.«
»Mir genügt es vollauf, dass wir einmal fast geröstet worden wären«, sagte der Marsianer. »Ich brauche keinen weiteren Zwischenfall dieser Art.«
»Nachdem das nun geklärt ist: Kannst du unsere exakte Position bestimmen, Xutl?«
»Das wird nicht einfach, Nick. Irgendwo im Leerraum zwischen den Galaxien, das ist unser Standort.«

*

Über Rundruf hatte Nick die technischen und wissenschaftlichen Mitarbeiter der Freischichten in die Zentrale gebeten. Da verharrten sie nun und blickten ihm, Tom Brucks und dem Marsianer angespannt und erwartungsvoll entgegen. Sie alle an Bord bildeten eine eherne Gemeinschaft. Vor ihnen lag das bislang größte Abenteuer der Menschheit – und das Schicksal hatte einen beachtlichen Anteil daran.
»Unsere interstellare Forschungsreise verläuft bereits zu Beginn anders als erwartet«, eröffnete Nick seinen Zuhörern. Keine ihrer Regungen entging ihm. Hinter dem Raumfahrer erstreckte sich der große, dem Rund der Zentrale angepasste Bildschirm. Der Anblick der Milchstraße aus der Unendlichkeit heraus war phantastisch und überwältigend zugleich.
»Die Expedition zu unserer Nachbarsonne Proxima Centauri hat uns in Bereiche entführt, an die wir nicht einmal zu denken wagten. Wir haben die eigene Galaxis verlassen. Aus den wenigen Lichtjahren, die es zu überwinden galt, sind Hunderttausende geworden.«
»Eine Ewigkeit!«, ächzte jemand.
Nick lächelte. »So können wir es nennen, ja. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass unser Sternenschiff diese ›Ewigkeit‹ innerhalb weniger Augenblicke überwinden konnte.«
»Demnach werden wir ebenso schnell zum Ausgangspunkt zurückkehren?«
»Wir könnten es, sobald die entsprechenden Berechnungen vorliegen. Nur: Wollen wir das? Ich schlage vor, dass wir unsere Forschungen nicht wie geplant auf Proxima Centauri konzentrieren. Der Zufall bietet ein weit größeres Betätigungsfeld.«
»Die Milchstraße erscheint uns wie eine Insel im Ozean der Ewigkeit«, bemerkte einer der Wissenschaftler. »Und außer ihr sehen wir eine Fülle weiterer Inseln. Wenn das nicht unser Fernweh weckt …«
Der Mann hatte einige Lacher auf seiner Seite. Aber auch Besorgnis drückte sich in dieser aufgesetzten Heiterkeit aus.
Nick reagierte mit einer moderat abwehrenden Geste. »Die fremden Galaxien sind Millionen Lichtjahre entfernt. Wir werden das Risiko nicht eingehen, irgendwo da draußen zu stranden. Das Randgebiet der Milchstraße bietet genügend Neuland für unsere Expedition – mit dem Vorteil, dass wir wohl immer zur Erde zurückfinden werden, egal wie ungenau die nächsten Sprünge durch den Hyperraum auch ausfallen sollten.«
»Das wollte ich ebenfalls vorschlagen«, wandte Xutl ein. »Nach meinen Berechnungen befinden wir uns rund 684.000 Lichtjahre von der Galaxis entfernt. Wenn das Sternenschiff beim Rückflug nur ein Prozent vom Kurs abweicht, bedeutet das schon mehrere Tausend Lichtjahre. Es ist gar nicht lange her, da hätte keiner von uns gewagt, solche Entfernungen überhaupt in Erwägung zu ziehen.«
»Sie haben recht, Xutl!«, bestätigte der Geologe James Simpson, der sich mit einigen Wissenschaftskollegen im Flüsterton ausgetauscht hatte. »Außerdem denke ich, dass jeder mit Nicks Vorschlag einverstanden ist.«
Niemand widersprach.
»Also pirschen wir uns langsam wieder an die Milchstraße heran.« Mit einem knappen Dank an alle löste Nick die Versammlung auf. »Vorher prüfen wir sämtliche Systeme!«, ordnete er an. »Die erste Etappe auf dem Weg zurück wird in acht bis zehn Stunden erfolgen.«

*

Bis zum übernächsten Tag war die halbe Strecke zur Milchstraße überwunden. Jeder in der Zentrale genoss den Anblick der stetig größer werdenden Galaxis.
Mit mehreren Sprüngen durch den Hyperraum hatte das Sternenschiff problemlos über dreihunderttausend Lichtjahre zurückgelegt. Der Blickwinkel auf die Milchstraße hatte sich währenddessen deutlich verändert. War sie anfangs aus einer Position hoch über der Ekliptik zu sehen gewesen, zeigte sie sich mittlerweile in einer schmal gewordenen Seitenansicht.
Nick hatte der Mannschaft des Sternenschiffs und sich selbst zuletzt eine ausgiebige Schlafpause gegönnt. Er war erst vor zehn Minuten in die Zentrale zurückgekehrt. Tom schlief wohl noch. Auch von Xutl, der wieder den Platz des Piloten einnehmen sollte, gab es keine Meldung.
Nick überflog die Aufzeichnungen der Instrumente, fand aber nichts, was von Belang gewesen wäre. Er sah auf, als sich Schritte seinem Platz näherten. »Wir setzen den Flug heute mit drei weiteren Etappen fort«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Ich nehme an, Xutl, du hast die nächsten Berechnungen …«
Die Schritte verstummten. Jemand räusperte sich vernehmlich. »Entschuldigen Sie die Störung, Kommandant!«
Das war nicht der Marsianer. Nick wandte sich im Sessel um. Sein Blick fiel auf einen untersetzten Mann, dessen Uniform wie eine zweite Haut über dem Körper spannte. Das galt ebenso für die Kappe, die das Gesicht einrahmte. So wie sie ins Fleisch drückte, verlieh sie Wangen und Kinn den Eindruck üppiger Fülle.
»Was wollen Sie in der Zentrale, Smutje?«, fragte Nick. »Haben Sie in der Kombüse nichts zu tun?«
»Ich muss erneut Meldung machen, Kommandant. Über weitere Diebstähle aus dem Vorratsraum.«
»Schon wieder? Ich bin sicher, dass niemand an Bord Lebensmittel klaut. Weshalb auch? Aber wenn Sie es ausdrücklich wünschen, Smutje: Ich nehme den Vorfall zur Kenntnis. Und nun gehen Sie zurück zu Ihren Töpfen.«
Der Koch dachte nicht daran. »Vor Tagen haben Sie mir Nachlässigkeit bei der Führung der Bücher vorgeworfen, Kommandant«, protestierte er. »Das kann ich keinesfalls auf mir sitzen lassen. Sie brauchen einen Beweis? Genau deshalb habe ich eine Infrarotkamera installiert.«
Mit beiden Händen tastete er über seine Kombination. Er fand nicht sofort, wonach er suchte, doch schließlich zog er aus einer Seitentasche ein bedrucktes Glanzpapier hervor.
»Sehen Sie sich das an, Kommandant!« Der Smutje reichte Nick die Fotografie und blieb abwartend stehen.
Nick betrachtete die Aufnahme. Sie war in der Düsternis der schwachen Notbeleuchtung gemacht worden, zeigte aber trotzdem deutlich, worauf es ankam: zwei mit unterschiedlichsten Behältnissen vollgestopfte Regalreihen und in dem engen Gang dazwischen einen Mann, der Vorräte entnahm.
»Wir haben wirklich einen Dieb unter uns?«, fragte Nick verblüfft. »Aber warum stiehlt er Lebensmittel? Die Verpflegung ist gut und reichlich, keiner an Bord muss hungern.«
»Schade, dass der Kerl nur von hinten zu sehen ist«, bemerkte der Smutje.
Nick musterte das Bild eingehender. »Er trägt eine Waffe an der Hüfte. Das ist merkwürdig. Niemand läuft bewaffnet im Schiff umher. Sämtliche Energiestrahler sind unter Verschluss.«
Der Weltraumfahrer drehte das Bild, doch es gab sein Geheimnis nicht preis.
»Ich behalte die Aufnahme und werde mit Tom und Xutl darüber sprechen«, entschied er. »Stellen Sie eine oder zwei weitere Kameras auf, Smutje. Es wäre gelacht, wenn wir dem Dieb nicht auf die Spur kämen!«

*

Im Laufe des Tages näherte sich das kugelförmige Sternenschiff weiter der Milchstraße. Am Abend stand es nahezu auf Höhe der galaktischen Ebene. Das Sternenmeer füllte den großen Bildschirm fast vollständig aus.
»Ein äußerst imposanter Anblick!« Die Tierfängerin Jane Lee war vor wenigen Minuten in die Zentrale gekommen und blickte seitdem sichtlich bewegt auf die optische Wiedergabe. »Ich weiß nicht, ob ich Furcht oder Ehrfurcht empfinden soll.«
»Beides, Miss Lee«, kommentierte Tom Brucks. »Vor allem die Überlegung ist angesagt, wie viel unterschiedliches Leben diese Sonnen hervorgebracht haben mögen.«
Mit einer fahrigen Handbewegung streifte die Tierfängerin ihr schulterlanges blondes Haar zurück. »Ich versuche mir vorzustellen, dass unsere Erde nur ein winziges Staubkorn ist. Trotzdem haben wir Menschen es geschafft …« Sie schwieg für einen Moment. »Dieser Schatten, Nick, der die Galaxis scheinbar in zwei Hälften teilt …?«
»Wir sehen die Milchstraße von der Seite. Gas- und Staubwolken bilden den düsteren Gürtel um die Äquatorebene. Vielleicht liegen außen besonders viele alte und schon erloschene Sonnen.«
»Der Anblick erinnert mich an den Saturn mit seinem Ringsystem. Nur steht hier kein riesiger Planet im Mittelpunkt …«
»… sondern eine Ballung aus Milliarden von Sonnen«, vollendete der Weltraumfahrer den Satz. »Der nächste Sprung durch den Hyperraum wird unser Schiff so nahe an die Galaxis heranbringen, dass wir nur noch einen kleinen Ausschnitt sehen.«
»Unsere Sonne …?«
Nick schüttelte den Kopf. »Es wird geraume Zeit dauern, bis wir sie als winzigen Punkt in dieser Fülle aufspüren.«

Zum Roman