Leseprobe – Sigurd – Im Land der Fremden


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EINS

Dunkelheit hatte das Tageslicht verdrängt. Eine kühle Brise wehte gegen die felsige Insel im Nordmeer. Der Vollmond beleuchtete eine einsame Gestalt, die auf einer Klippe stand und über das Meer blickte. Es war Ritter Sigurd von Eckbertstein, der vergeblich versuchte, von diesem geheimnisvollen Schiff noch einen Blick zu erhaschen, dessen Besatzung den Raubritter Laban und seine Seeräuberbande, aber leider auch Sigurds Freunde Ritter Bodo von Brauneck, Junker Cassim und die ihm von Fürst Friedrich anvertrauten Männer gefangen genommen hatte. Doch die kaum noch zu erkennen gewesene Silhouette des Seglers war bereits hinter dem Horizont verschwunden.

Zunächst hatten die Freunde gehofft, von den Fremden aus Labans Klauen befreit zu werden. Aber als der Anführer, der wie seine Männer in römischen Uniformen aus längst vergangenen Tagen gekleidet war, erfuhr, dass Laban einen für ihn äußerst wertvollen Tiger getötet hatte, kannte er keine Gnade mehr. Mit List war es Sigurd gelungen, sich der Gefangennahme zu entziehen. Er versuchte, seine Freunde, die inzwischen auf die Galeere verbracht worden waren, ebenfalls zu befreien. Als er zum Schiff hinüberschwamm, wurde jedoch plötzlich das große Segel gesetzt, und mit immer schneller werdender Fahrt der Galeere musste Sigurd seinen Plan aufgeben.

Nun stand er allein und völlig durchnässt auf diesem menschenleeren Eiland und ballte sein linke Faust. Das Schiff ist fort! Verschwunden wie ein Spuk, hämmerten die Gedanken in seinem Kopf. Er warf einen letzten verzweifelten Blick über das dunkle Wasser. Dann wendete er sich ab und begann über die groben Felsen zu klettern, die auf dieser Seite der Insel bis an das Meer reichten.

Aber leider war es kein Spuk, grübelte er weiter. Wer weiß, wohin es segelt? Wo mag die Heimat dieser seltsamen Fremden sein? Wie weit mag sie entfernt sein? Sigurds Gesicht hatte einen sehr ernsten Gesichtsausdruck angenommen. Er drehte sich noch einmal kurz um und hob beschwörend seine Arme. Ich gebe nicht auf, formten sich seine Gedanken zu einem stummen Schrei. Auch wenn ich bis zum Ende meiner Tage nach dem Land der Fremden suchen muss.

Die Überwindung der Felsbrocken gestaltete sich in der Dunkelheit zu einer nicht ungefährlichen Angelegenheit. Mehr als ein Mal drohte er abzurutschen. Aber endlich hatte er es geschafft. Vor ihm führte ein ebener Pfad in das Innere der Insel.

Sigurd machte sich auf den Weg. Er lief durch die Schlucht, die zum Schlupfwinkel der Seeräuber führte.

Als er den kleinen Bach erreicht hatte, der die sandige Fläche des Lagers teilte, bemerkte er, dass die geheimnisvollen Fremden sämtliche Hütten der Piraten zerstört hatten. Er überquerte den Holzsteg über den Wasserlauf und stand kurz darauf vor den zerschlagenen Brettern und Balken. Damit konnte er sich ein Floß bauen, schöpfte er neue Hoffnung und legte sich einen Bauplan zurecht.

Doch dann blickte er plötzlich auf und ließ den Balken, den er gerade aufgehoben hatte, wieder fallen. Polternd fiel das Holz zu Boden. Mit schnellen Schritten ging er zu der dunklen Felsenöffnung hinüber, in der Labans Männer ihre Vorräte gelagert hatten. Voller Spannung betrat Sigurd die geräumige Höhle.

Im fahlen Licht des hereinstrahlenden Mondes erblickte er Fässer und Säcke.

»Gott sei Dank«, entfuhr es ihm erleichtert. »Die Lebensmittel sind noch hier!« Dennoch stieg eine leichte Verbitterung in ihm hoch. »Wahrscheinlich war der Barbarenfraß den überheblichen Fremden nicht gut genug«, presste er heraus.

Sigurd öffnete eine Kiste mit seinem Dolch und entnahm ihr ein Stück des darin aufbewahrten Dörrfleisches. Verdrossen kaute er an der zähen Seemannsnahrung. Dann ging er noch einmal zu dem kleinen Wasserfall, der den Bach speiste, und löschte seinen Durst.

Als er wieder in die Höhle zurückgekehrt war, sah er sich um und fand hinter zwei Fässern mehrere Decken und zusammengerollte Taue. Er zog sich die nassen Kleider vom Leibe, breitete sie auf den Kisten aus und wickelte sich in eine der Decken ein. Dann legte er sich auf den kargen Boden und benutzte einen der Säcke mit Vorräten als Kopfstütze. Nach kurzer Zeit übermannte ihn schließlich die Müdigkeit, die ihn in einen unruhigen Schlaf fallen ließ.

*

Die ersten Sonnenstrahlen fanden am nächsten Morgen auch ihren Weg in Sigurds Schlafstätte. Draußen flatterten bereits kreischend die Möwen auf der Suche nach frischem Fisch umher.

Blinzelnd öffnete er die Augen. Nach einem kurzen Moment stand er auf und ließ die wärmende Decke zu Boden fallen. Seine Kleidung war zwar nicht mehr triefend nass, aber immer noch unangenehm feucht. Etwas widerstrebend kleidete er sich an und zog den Gürtel fest, an dem sein Schwert und sein Dolch befestigt waren. Dann trat er hinaus und empfing dankbar die schon wärmenden Sonnenstrahlen.

Nachdem er am Bach frisches Quellwasser getrunken hatte, suchte er aus den umherliegenden Resten der Holzhütten nach brauchbaren Brettern und stabilen Balken. Nach und nach brachte er die für gut befundenen Hölzer an den kleinen Sandstrand auf der gegenüberliegenden Seite des Eilands.

Als er genug Material zusammengetragen hatte, ging er noch einmal in die Vorratshöhle und holte einige der dort zusammengerollten Taue. Er überdachte seine Situation und begann schließlich mit dem Bau des Floßes.

Nachdem er einige Balken bereits fest zusammengebunden hatte, ließ er plötzlich das Seil aus seinen Händen fallen. Er kam sich plötzlich vor wie ein Narr. Mit einem Floß würde er mindestens eine Woche bis zur Küste brauchen. Wenn es ihm überhaupt gelänge, sie zu erreichen.

Sein Blick wanderte über die zu dieser Stunde etwas unruhige Wasseroberfläche. Er erinnerte sich an Labans Befehl an fünf seiner Männer, die sich vor dem Eintreffen der Fremden mit einem kleinen Boot auf den Weg gemacht hatten, um mit einem neuen Piratenschiff zurückzukehren. Sigurd wog seine Chancen ab. Ihm war klar, dass die Männer mit dem Schiff noch ungefähr drei Wochen brauchen würden, bis sie hier eintreffen könnten. Eine lange Zeit. Aber er war sich auch sicher, dass es nicht schneller gehen würde, bis er bei Fürst Friedrich wäre, um ein neues Schiff auszurüsten. Außerdem würde er sehr ungern dem Fürsten so unter die Augen treten. Nicht als Besiegter und nach dem Verlust zweier weiterer Schiffe und deren Besatzungen, obwohl er dies nicht selbst verschuldet hatte. Fest entschlossen erhob er sich.

Mit Labans Männern werde ich schon fertig, fasste er in Gedanken einen neuen Plan. Unsere Interessen sind ja jetzt die gleichen. Ich will Bodo, Cassim und meine Schiffsbesatzung befreien … und sie Laban und seine Gefährten.

 

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