Leseprobe – Sigurd – Laban der Schreckliche


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EINS

Eine lange, beschwerliche Woche lag hinter Sigurd von Eckbertstein und seinen beiden Weggefährten Bodo von Brauneck und Junker Cassim. An der Spitze einer etwas seltsam anmutenden Gruppe ritten Sigurd und Bodo. Ihnen folgten zu Fuß zwanzig gefesselte Schergen, mit Kapuzen über den Köpfen und an einer langen Leine angebunden. Der Schurke, Ritter Baldowin von Eichenkamp, bildete den Anfang dieser ungewöhnlichen Menschenkette. Cassim ritt zur Sicherung ein Stück weiter hinten. Sie brachten die Gefangenen an den Fürstenhof, um sie dort für ihr verbrecherisches Treiben im sogenannten Zauberwald vom fürstlichen Gericht aburteilen zu lassen.

Die Woche war für die Gefangenen kein Vergnügen gewesen. Auch für Sigurd, Bodo und Cassim nicht. Ständige Wachablösungen seitens der Freunde, während der schon kühl gewordenen Nächte, aufwändige Verpflegungsmöglichkeiten und die Sorge vor Befreiungsversuchen durch die Verbrecher selbst.

Aber nun war es geschafft. Die Küste lag vor ihnen. Nur noch zwei bis drei Stunden und sie wären am Ziel. Vor Sigurd und Bodo fiel ein Steilhang zum Meer hinunter. Die leichte Brandung schob sich mit kräuselnden Wellen den schmalen, steinigen Strand hinauf. In tiefem Blau lag das Nordmeer vor ihnen. Möwen kreisten im Wind, ständig auf der Suche nach Futter, denn gerade zu dieser Jahreszeit waren die Fischbestände äußerst reichhaltig.

Sigurd deutete erleichtert nach vorne. »Dort, jenseits der Bucht, liegt die Fürstenburg!« Im hellen Schein der Sonne spiegelte sich das Bauwerk verzerrt im bewegten Wasser.

Da meldete sich von Eichenkamp. »Ich hoffe, wir rasten vorher noch einmal! Ich spüre meine Füße kaum noch!« Keiner der Freunde verspürte den Drang, ihm zu antworten.

»He«, rief Cassim plötzlich nach vorne. »Seht dort drüben! In der Felsenschlucht liegt ein Schiff. Es ist vom Kiel bis zu den Mastspitzen schwarz angestrichen. Auch die Segel sind schwarz!« Ganz ruhig lag der Zweimaster vor Anker, als wartete er auf etwas Besonderes.

Sigurd wollte Cassim antworten, aber da machte er selbst eine merkwürdige Entdeckung. »Da unten«, drehte er sich Bodo zu. »Das sieht ja so aus, als ob die Männer dort hinter den Felsen am Uferweg auf der Lauer lägen.«

Bodo ritt neben Sigurd und blickte nun ebenfalls überrascht nach unten. »Tatsächlich! Was hat das zu bedeuten?«, rätselte er.

In diesem Moment ertönte ein lärmendes Geräusch. Die Freunde blickten sich fragend an. Da ratterte ein von zwei Pferden gezogener Planwagen heran. Vier Reiter sicherten mit angelegten Rüstungen das Fuhrwerk. Zwei ritten vor dem Gespann, zwei sicherten nach hinten. Jeder trug eine mit einem Wimpel bestückte Fahnenstange.

»Ob die Männer da unten es auf diese Reisenden abgesehen haben?«, überlegte Bodo.

»Hm«, meinte Sigurd kurz. »Es scheint so!«

Cassim trieb sein Pferd mit einem leichten Schenkeldruck nach vorne, um zu schauen, was die Freunde aufhielt.

»Wie dem auch sei«, entschloss sich Sigurd gerade. »Wir müssen die Reisenden warnen!«

»Ich weiß nicht«, zweifelte Bodo. »Wenn die Bewaffneten da unten einen Befehl des Fürsten ausführen?«

Doch Sigurd ließ sich nicht von seinem Entschluss abbringen. »Das glaube ich nicht! Männer des Fürsten würden wohl kaum wie Strauchdiebe auf der Lauer liegen. Außerdem ist auf den Standarten der Reiter das Wappen des Fürsten zu sehen!«

Bodo schüttelte ungläubig den Kopf. »Du musst Adleraugen haben, Sigurd. Ich kann die Wappen noch nicht erkennen!« Angestrengt blickte er nach dem sich rasch nähernden Wagen. »Doch! Jetzt«, bestätigte Bodo. »Du hast recht, Sigurd. Jetzt kann ich die fürstlichen Wappen erkennen.« Die Reiter hatten noch nichts von der bevorstehenden Gefahr bemerkt.

Während die Freunde noch etwas unschlüssig über ihr weiteres Vorgehen waren, wendete sich von Eichenkamp unbemerkt seinen Männern zu. »Passt auf«, raunte er den ihm nahe stehenden Schergen zu. »Das ist unsere Chance!«

Derweil formte Sigurd seine Hände zu einem Trichter und legte sie an seinen Mund. »Hallo«, rief er aus Leibeskräften in die Richtung des bewachten Transportgespanns. »Achtung, Ihr fahrt in einen Hinterhalt.« Der rechte vordere Reiter fuhr erschrocken hoch.

Doch da reagierte von Eichenkamp völlig unverhofft für die Freunde. »Los, Männer!«, gab er den Befehl.

Die ersten Schergen stürmten mit ihm nach vorne und drückten mit ihren Schultern gegen die Hinterteile von Sigurds und Bodos Pferden. Die Tiere sprangen instinktiv nach vorne und stürzten mit den beiden über den Felsenrand. Ein Hilferuf entfuhr Bodo. Doch schon riss es beide im Fallen aus den Sätteln.

Cassim, der im ersten Moment nicht begreifen konnte, was da geschah, zog sein Schwert aus der Scheide. »Das soll euch teuer zu stehen kommen«, flog er förmlich auf die Gefangenen zu.

Doch von Eichenkamp ließ sich davon nicht beeindrucken. »Mit dir werden wir auch noch fertig, junger Mann! Los, das Ganze noch einmal«, rief er seinen Leuten zu.

Nun drängten alle Schergen vor und kreisten den Junker ein. »Hinunter mit dir«, schrie einer wutentbrannt.

Cassim versuchte verzweifelt, sein Pferd herumzureißen. Doch es war zu spät. Mit einem Aufschrei stürzte auch er mit seinem Braunen kopfüber in die Tiefe.

Die verdutzten Reiter in ihren Rüstungen hatten die auf der Lauer liegenden Wegelagerer immer noch nicht bemerkt. Als Sigurd, Bodo und Cassim mit ihren Pferden den Abhang herunterstürzten, konnten sie sich überhaupt keinen Reim darauf machen, was da vor ihnen geschah. Im gleichen Moment rollten und rutschen die Freunde fast vor die Füße der Wegelagerer.

»Was zum Teufel, hat das alles zu bedeuten?«, rief einer verwirrt.

Während von Eichenkamp und seine Schergen inzwischen an einer nicht so steilen Stelle den Abhang hinunterkletterten, gab der Anführer der Wegelagerer den Angriffsbefehl, um überhaupt noch eine überraschende Wirkung erzielen zu können. »Vorwärts!«, brüllte er. »Die drei hier sind außer Gefecht, und die anderen scheinen Gefangene zu sein. Sie sind gefesselt. Von denen haben wir nichts zu befürchten.«

Mit gezogenen Schwertern stürmten sie auf die Reitereskorte zu. Doch die Bewaffneten, die den Planwagen begleiteten, überwanden ihre Überraschung schnell. Sie warfen ihre Wimpelstangen in den Staub und zückten ebenfalls ihre Schwerter. Ein heftiger Kampf entbrannte. Langsam gewannen die Wegelagerer die Oberhand und drängten die Reiter in Richtung des Strandes.

Sigurd und Bodo hatten den Sturz dank ihrer Erfahrung aus vielen gefährlichen Situationen und ihrer erworbenen Geschicklichkeit glücklich überstanden. Es blieb im Moment keine Zeit, nach Cassim zu schauen, der bewusstlos am Boden lag. Die Freunde griffen nun ebenfalls ihre Schwerter und stürmten auf den Kampfplatz. Wie ein Wirbelsturm flogen ihre Waffen durch die Reihen der Wegelagerer.

Schnell merkten die Schurken, dass sie dieser geballten Kampfkraft nicht mehr lange standhalten konnten. »Wir schaffen es nicht. Zurück!«, befahl ihr Anführer.

Da war von Eichenkamp mit seinen Leuten heran. »Nehmt uns die Fesseln ab, wir helfen euch«, rief er den schon fast unterlegenen Männern zu.

Sigurd drehte sich um und bemerkte, was hinter ihm vor sich ging. »Himmel, sie befreien von Eichenkamp und seine Schergen! Das sieht böse aus!« Doch sofort griff er wieder in den Kampf ein. »Brecht mit dem Wagen durch!«, rief er den fremden Rittern zu. »Wir halten die Räuber zurück.«

»Daraus wird nichts«, brüllte der Anführer wütend zurück, und mit einem Schwerthieb durchtrennte er die Zuggurte der Lastpferde, die in wildem Galopp auseinanderstoben.

Da geschah es. Einer der fremden Reiter wurde von einem Schwertstreich getroffen und fiel leblos vom Pferd. Der Kutscher lag bereits tot auf der Erde. Panik überfiel nun einen der anderen Ritter.

»Die Übermacht ist zu groß! Rette sich, wer kann!« Schon wendeten die drei Reiter ihre Pferde und preschten davon.

Sigurd konnte es kaum glauben. »Sie fliehen!«

»Dann sehe ich nicht ein, warum wir für sie unsere Haut zu Markte tragen sollen. Weg von hier, Sigurd!«, rief Bodo durch das Waffengeklirr, während er weiterhin die Räuber abwehrte.

»Aber Cassim …«, wandte Sigurd lautstark ein und schlug einem Feind das Schwert aus der Hand.

Auch Bodo schickte gerade einen Wegelagerer mit der Faust zu Boden. »Dort drüben liegt er. Decke mich ab, Sigurd, ich hole ihn.«

Wie durch ein Wunder waren die Pferde der Freunde ebenfalls unverletzt geblieben und standen schnaubend zusammen. Als Sigurd sah, dass Bodo kurz darauf ihren jungen Kameraden bereits vor sich auf den Sattel seines Braunen gelegt hatte, drängte er die weiterhin auf ihn einstürmende Meute mit einer letzten Kraftanstrengung von sich und rannte, so schnell er konnte, zu seinem Pferd. Mit einem wahren Hechtsprung war er im Sattel, und sofort trieben sie ihre Pferde zu einem schnellen Galopp an.

»Lasst sie laufen!«, stoppte der Anführer seine Kumpane etwas atemlos. »Was wir wollten, haben wir.«

Doch von Eichenkamp war wie besessen. »Nein, nein! Ich muss noch eine persönliche Rechnung mit dem blonden Ritter begleichen.«

Der Anführer legte seine rechte Hand auf von Eichenkamps Schulter. »Dazu ist später noch Zeit. Ihr habt gut gekämpft. Ohne Eure Hilfe wäre der Überfall misslungen. Wer seid Ihr?«

»Ein Mann, der alle Brücken hinter sich abgebrochen hat. Meine Männer und ich sollten vor das fürstliche Gericht gebracht werden. Uns alle erwartet die Todesstrafe«, erklärte sich von Eichenkamp.

»Oh«, bemerkte der Anführer. Ein überraschtes Grinsen überzog sein Gesicht. »Ihr passt zu uns! Ich hoffe, dass unser Kapitän meine Meinung teilt.«

»Ach«, staunte Baldowin von Eichenkamp. »Ihr seid Piraten, und das dort ist euer Schiff?«

»So ist es«, gab der Anführer zurück. »Wenn Ihr wollt … mit uns könnt Ihr reiche Beute machen!«

Von Eichenkamp strahlte mit ihm um die Wette. »Ich schlage ein!«

»Dann kommt! Wir wollen auf hoher See sein, bevor der Fürst Kunde von dem Überfall erhält.«

»Was habt ihr erbeutet?«, fragte Eichenkamp beiläufig.

»Zügelt Eure Neugierde. Wenn der Kapitän es für richtig hält, weiht er Euch bestimmt ein«, bekam er zur Antwort. Der Anführer drehte sich um. »Los, beeilt euch!« Kurz darauf bugsierten vier Männer aus dem Planwagen eine schwere Truhe herunter und trugen sie voran.

Es dauerte eine Weile, bis sie den Ankerplatz erreicht hatten.

»Da ist unser Schiff«, verkündete der Anführer stolz.

»Es sieht unheimlich aus«, antwortete von Eichenkamp etwas bedrückt.

»Das soll es auch! Außerdem ist der Anstrich für nächtliche Überfälle einfach ideal.«

 

ZWEI

Sorgenvoll versuchten Sigurd und Bodo, ihren jungen Freund aus der Bewusstlosigkeit wieder in die Realität zurückzuholen. Endlich schlug der Junker seine Augen auf.

»Gott sei Dank«, war Sigurd erleichtert. »Er ist zu sich gekommen!«

Cassim wirkte mit gesenktem Kopf noch sehr benommen. »Was … was ist geschehen?«, stammelte er.

Noch ehe Sigurd antworten konnte, wies Bodo auf das Meer hinaus. »Da, das schwarze Schiff segelt aus der Felsenschlucht!«

Sigurd stand auf, während Cassim sich an die Schläfe fasste und versuchte, ebenfalls wieder auf die Beine zu kommen. Sie blickten zu dem Schiff, das sich auf das offene Meer zu bewegte. Der ablandige Wind fuhr in die Segel und trieb es nun schneller voran.

Sigurd ballte die Fäuste. »Ich möchte wetten, dass von Eichenkamp und seine Schergen mit an Bord gegangen sind!« Die Enttäuschung war Sigurd förmlich anzumerken.

»Bestimmt«, meinte auch Bodo. »Etwas Besseres als dieser Überfall konnte ihm und seiner Bande auch nicht widerfahren. Sie haben ihren Hals gerettet und werden wahrscheinlich eine neue Laufbahn als Seeräuber beginnen!«

»Was nun?«, warf Cassim ein, dessen Lebensgeister langsam wieder zurückkehrten.

»Eigentlich erübrigt sich mit der Flucht von Eichenkamps und seiner Leute unser Besuch beim Fürsten«, überlegte Bodo laut.

»Nein«, antwortete ihm Sigurd bestimmt. »Der Gedanke, dass dieser Schurke jetzt dort an der Reling lehnt und sich über uns schieflacht, bringt mich noch mehr in Wut. Außerdem hat er genug Unheil über die Waldbauern gebracht. Sollen wir tatenlos zusehen, wenn er nun auch noch Schrecken und Tod auf See verbreitet?«

Bodo wusste sich keinen Rat. »Es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, Sigurd«, gab er resigniert zurück.

Sigurd löste sich vom Strand und ging auf ihre Pferde zu. »Darüber bin ich anderer Meinung, Bodo! Lasst uns zurückreiten. Wir bergen den toten Ritter und bringen ihn mit dem Wagen zur Burg.«

Sie tasteten noch einmal vorsorglich die Beine ihrer Pferde ab und schwangen sich in die Sättel.

 

*

 

Als sich die Freunde ein paar Stunden später der Fürstenburg näherten, kamen ihnen einige bewaffnete Reiter entgegen. Zu ihrer großen Überraschung war einer der geflohenen Ritter unter ihnen. »Das sind die zwei Männer und der Knabe, die Schuld daran sind, dass wir den Überfall der Seeräuber nicht vereiteln konnten, Hauptmann Gerolf«, rief er laut und zeigte auf die Freunde.

»Wie?«, entfuhr es Sigurd, der glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen.

»Oh, Hauptmann Gerolf, das sind ja die Ritter Sigurd und Bodo mit ihrem Knappen Cassim«, warf einer der Berittenen ein.

»In gewisser Weise hat der Ritter recht, Hauptmann«, sagte Sigurd, der seine Fassung wiedergewonnen hatte. »Leider sind unsere Gefangenen von den Seeräubern befreit worden, die sie natürlich dann unterstützt haben. Allerdings wäre unser Kampf erfolgreich gewesen, wenn dieser Mann und seine Kameraden nicht geflohen wären, als einer von ihnen fiel.« Hauptmann Gerolf war von Sigurds Aussage überrascht.

»Das ist eine Beleidigung«, warf der fremde Ritter dazwischen.

»Ich wünsche keinen Streit«, stoppte der Hauptmann den Heißsporn. »Von Gefangenen habt Ihr nichts berichtet, Ritter Hagard!«

»Es waren auch keine Gefangenen. Die Männer gehörten zu diesen Rittern!«

»Das ist eine schwere Anschuldigung, Hagard von Stolzenfeld«, ließ sich der Hauptmann nicht aus der Ruhe bringen. »Ritter Sigurd von Eckbertstein, Ritter Bodo von Brauneck und Junker Cassim haben landauf, landab einen tadellosen Ruf.«

Nun war es an Sigurd, der langsam die Geduld verlor. »Und es ist eine völlig haltlose und lächerliche Anschuldigung dazu! Der Ritter und seine beiden Kameraden haben sich dieses Märchen ausgedacht, um ihre Feigheit zu bemänteln!«

»Ah«, rief Hagard wutentbrannt aus. »Zieht blank! Ich will Euch beweisen, wer hier feige ist!«

Jetzt hatte Hauptmann Gerolf genug von diesem Streit und zwängte sich zwischen die beiden Pferde der Streithähne »Halt! Ich dulde keinen Zweikampf! Der Fürst soll entscheiden, was geschehen soll!«

»Vorwärts, zurück zur Burg!« Mit Ritter Hagard und Hauptmann Gerolf an der Spitze, setzte sich die Reiterschar in Bewegung. Sigurd, Bodo und Cassim ritten hinter ihnen, während die Zugtiere mit dem Planwagen folgsam hinter ihnen hertrotteten.

»Junge, Junge. Dieser Hagard ist ja ein schönes Früchtchen«, wandte sich Bodo seinem Freund zu.

»Mir tut er leid«, entgegnete Sigurd. »Er und seine Kameraden können nun nicht mehr zurück. Wenn sie die Wahrheit sagen würden, wären sie erledigt. Sie haben offensichtlich nicht damit gerechnet, dass sie uns jemals wieder begegnen würden.«

Bodo nickte zustimmend. »Wir müssen auf jeden Fall auf der Hut sein. Aus Ritter Hagards Augen leuchtet kalter Hass!«

Schweigend ritten sie weiter. Bodo gab Cassim einen Wink. Der Junker verstand sofort die Geste. Er ließ sich etwas zurückfallen, um das Gespann im Auge zu behalten.

 

*

 

Nach einer halben Stunde erreichten sie endlich das vom Meerwasser umgebene stolze Burgschloss des Fürsten.

»Lasst die Zugbrücke herab!«, ertönte die befehlsgewohnte Stimme von Hauptmann Gerolf.

In der Fensteröffnung des Turmwachtzimmers erschien das Gesicht des Wachthabenden. Er nickte, und kurz darauf senkte sich mit kettenklirrendem Geräusch die hölzerne Plattform und bildete nun eine Verbindung zum Land. Auf dem Platz davor streckte eine kleine Kirche ihren Turm in die Höhe. Daran reihten sich auf beiden Seiten die Häuser der dörflichen Gemeinde an. Ein paar Dorfbewohner schauten den Reitern nach, als sie mit dem führerlosen Planwagen über die Zugbrücke in das Innere der Burg ritten.

Kurz darauf befanden sich auch die Freunde im Burghof, auf dem ein reges Treiben herrschte.

»Hier wimmelt es ja von Bewaffneten«, staunte Cassim.

»Du hast wohl vergessen, dass Fürst Friedrich in Fehde mit Fürst Eberhardt liegt«, erinnerte Sigurd ihn.

Im selben Moment verhielt Hauptmann Gerolf und lenkte sein Pferd an ihre Seite. »Ich melde Eure Ankunft unserem Herrn, Ritter Sigurd. Wartet hier im Innenhof.«

Die Freunde stiegen von ihren Pferden und schauten sich das rege Treiben im Burghof an, während sie ihre Pferde zu den Stallungen brachten.

Nach einer Weile kam der Burghauptmann wieder zurück. Zunächst konnte er die Freunde nicht ausfindig machen. Als er aber den Durchgang zum großen und weiträumigen Schlossplatz erreichte, kamen ihm Sigurd, Bodo, und Cassim entgegen. Sigurd schaute ihn erwartungsvoll an.

»Mein Herr glaubt Euch, dass die Männer, die den Kampf für die Seeräuber entschieden haben, Eure Gefangenen waren, Ritter Sigurd!«

»Gut«, entgegnete Sigurd erleichtert. »Führt uns zu Eurem Herrn!«

Der Hauptmann blickte etwas betreten zu Boden. »Das kann ich leider nicht! Mein Herr lässt Euch mitteilen, dass Euer Besuch unerwünscht ist und bittet Euch, die Burg sofort zu verlassen.«

»Aber …«, reagierte Bodo fassungslos.

»Ihr müsst verstehen«, unterbrach ihn Hauptmann Gerolf. »Wenn auch unschuldig, so seid Ihr doch die Ursache für den geglückten Überfall der Seeräuber.«

»Das ist Unsinn«, widersprach Sigurd sofort.

Doch der Hauptmann ließ ihn nicht weiterreden. »Wie dem auch sei, der Fürst ist außer sich, dass der Transport verloren ist. Auf dem Wagen waren die Abgaben seiner Lehnsmänner für ein halbes Jahr. Ein Vermögen!« Er legte seine Hand beruhigend auf Sigurds Schulter. »Mit diesem Geld sollten seine Truppen entlohnt werden! Bitte reitet jetzt! Ich möchte nicht auch noch in Ungnade fallen.«

Sigurd nickte verstehend. »Schon gut, Hauptmann Gerolf!« Er erkannte, dass es sinnlos war, weiter auf ein Gespräch mit Fürst Friederich zu hoffen und zu drängen. Er reichte dem Hauptmann die Hand und wandte sich seinen Freunden zu. »Ihr habt es gehört, lasst uns von hier verschwinden.«

 

*

 

Enttäuscht über den Verweis aus der Burg, befanden sich die Freunde kurz darauf wieder in den Gaststallungen am anderen Ende des großen Burghofes. Ohne Worte hatten sie ihre Pferde gesattelt und führten sie aus den Stallungen hinaus. Sigurd drehte sich noch einmal kopfschüttelnd um. Dann gab er seinen Freunden mit einem Kopfnicken das Zeichen zum Aufsteigen. Die Tiere schnaubten und wieherten kurz, als die drei die Zügel locker ließen. Sigurd schnalzte mit der Zunge, und sie ritten über den Platz, erreichten den kleinen Innenhof und setzten im Galopp über die immer noch herabgelassene Zugbrücke.

Nachdem die Freunde die sich anschließende kleine Bogensteinbrücke passiert hatten, fanden sie sich auf dem Dorfplatz wieder. Sie ritten an der Kirche vorbei, als plötzlich ein lauter Ruf hinter ihnen ertönte.

»Nicht so eilig, Ihr Herren!« Es war Ritter Hagard von Stolzenfeld, der mit seinen beiden Begleitern herangeritten kam.

Die Freunde zügelten ihre Pferde. »Wenn Ihr mit uns Händel anfangen wollt, dann rate ich Euch, lieber gleich umzukehren«, stoppte Sigurd die ungestümen Ritter.

Doch Hagard unterbrach ihn sofort lautstark. »Der Fürst hat Euch geglaubt! Wir sind in Ungnade gefallen und mussten die Burg verlassen!«

»Ihr seid des Todes«, drohte nun auch noch einer seiner Begleiter.

Ritter Hagard war mit seiner wütenden Rede noch nicht am Ende und deutete mit seiner linken Hand nach vorne. »Dort hinter der Wegbiegung beginnt Eure Reise in die Ewigkeit!«

Doch damit konnte er Sigurd nicht aus der Ruhe bringen. »Was für große Worte«, sinnierte er.

»Der Ritter war wohl bei einem Schmierentheater, bevor er in die Dienste des Fürsten trat«, gab nun auch noch Cassim etwas vorlaut seinen Beitrag zum Besten. Hagard von Stolzenfeld reagierte nicht auf die Worte des für ihn nicht beachtenswerten Jünglings.

Schließlich ritt die so gegensätzliche Gruppe bis zur von Hagard bezeichneten Wegbiegung hinter dem Dorf. Sie bogen um die Wegkurve und waren somit außer Blickweite von Fürst Friedrichs Burg. Auch hier fiel der Felsen steil zum Meeresstrand hinunter. Nur ein schmaler Weg führte an der Steilwand die Küstenlinie entlang.

Da versperrten Hagard und seine Begleiter mit gezogenen Schwertern den Weg. »Wir sind angelangt. Zieht blank«, forderte Ritter Hagard von Stolzenfeld.

Sigurd zuckte nur mit der Schulter. »Ihr habt es nicht anders gewollt!«

Während Bodo auf dem schmalen Weg, der entlang der Steilküste verlief, ohne zu zögern Hagard angriff, drängten die zwei anderen Ritter mit ihren Pferden Sigurd an den Schluchtenrand. Um sich zu verteidigen, hob Sigurd abwehrend sein Schwert, weil er immer noch nicht einsah, hier und jetzt einen Kampf auf Leben und Tod führen zu müssen, der aus seiner Sicht völlig unnötig war.

Da surrte plötzlich vom oberen Felsenrand ein Pfeil heran, der sich mitten in Sigurds Brust bohrte. Die Waffe glitt aus seiner Hand, und mit einem Aufschrei fiel er rücklings vom Pferd. Ehe er sich‘s versah, stürzte er über den Steilhang hinab ins unruhig gewordene Meer.

Entsetzt und außer sich vor Wut drängte Bodo mit seinem Pferd heran und schlug mit seinem Schwert auf Ritter Hagard ein, der den Hieb jedoch parieren konnte. »Ihr elenden Feiglinge! Nicht einmal im Zweikampf könnt Ihr ehrlich bestehen. Jetzt habt Ihr auch noch einen Meuchelmörder gedungen!«

Auch Cassim wollte seinen Freund Bodo mit erhobenem Schwert unterstützen und ritt mutig hinzu. Wieder entging Ritter Hagard einem wuchtigen Streich von Bodo.

»Nein, nein«, rief Hagard lauthals und strauchelte fast vom Pferd.

»Vorsicht, Ritter Bodo«, rief plötzlich Hagards Mitstreiter, Ritter Udo von Hohenberg, in das Kampfgetümmel hinein.

Bodo schreckte auf, und in diesem Moment sauste ein weiterer Pfeil haarscharf von schräg oben an seiner Brust vorbei.

»Schnell fort von hier!«, beendete Ritter Hagard den Kampf.

Bodo, der für einen Moment starr vor Schreck im Sattel saß, fasste sich wieder und sprang von seinem Pferd. »Fliehe, Cassim! Ich muss wissen, was aus Sigurd geworden ist.«

Der Junker riss schweren Herzens seinen Braunen herum und sprengte auf dem schmalen Felsenweg davon. Die Ritter Hagard von Stolzenfeld, Udo von Hohenberg und Gernot von Giesenhain folgten ihm sofort. Sigurds und Bodos Pferde, sowie das unberittene Pferd des beim Überfall auf den Goldtransport getöteten Ritters aus Hagards Gruppe, galoppierten instinktiv hinterher.

Bodo sprang, ohne auf sich selbst Rücksicht zu nehmen, über den Klippenrand. Im letzten Moment konnte er seinen Fall auf einem kleinen Felsvorsprung abfangen und lehnte sich aufatmend gegen die steil abfallende Wand. Da entdeckte er, wie sich Sigurd bemühte, sich auf einen am Rand des Wassers liegenden Felsblock zu ziehen. »Gott sei Dank«, stieß er erleichtert aus. »Sigurd lebt.«

Doch in diesem Moment sah er, dass sein Freund wieder abrutschte und von seinem Kettenhemd unter die Wasseroberfläche gezogen wurde. »Himmel, er geht unter«, durchzuckte ihn ein eisiger Schreck. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, stieß er sich von der Felswand ab und sauste mit einem gewagten Kopfsprung dem kühlen Nass entgegen.

 

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