Leseprobe – Sigurd – Labans Rache


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EINS

Hart brandeten die Wogen an die felsige Küste einer kleinen Insel hoch im Norden. Möwen flatterten kreischend im kräftigen Wind und versuchten, geschützte Spalten in den Felswänden zu finden. Das Festland lag nicht allzu weit entfernt, und die letzten Strahlen der Sonne waren schon hinter dem Horizont verschwunden. Schwere Gewitterwolken zogen von Ferne heran und verdrängten allmählich den Blick auf den dunkelroten Himmel. Im Schein des Wetterleuchtens war eine unheimliche, vorchristliche Kultstätte zu erkennen, die sich am höchsten Punkt der Insel gegen die graue Wolkenwand abzeichnete.

Da schoben sich drei kleine Ruderboote in die schmale Bucht unterhalb des alten Steintores, das von über zwei Meter großen, roh behauenen Steinen kreisförmig umringt war. Vermummte Gestalten, die schwarze Kapuzen über ihre Köpfe gezogen hatten, zogen die Boote auf den engen Sandstrand. Nachdem sie die kleinen Wasserfahrzeuge gegen Abdrift gesichert hatten, stiegen sie einen schroffen Pfad hinauf.

Einer der Männer schien ein Priester zu sein, da er im Gegensatz zu den anderen Gesellen mit einem mantelartigen, blauen Umhang bekleidet war.

Als die Männer die Plattform erreicht hatten, trat die Größe des Steintores erst richtig in Erscheinung. Auf zwei mächtigen, quadratischen Säulen, die ungefähr zehn Meter in die Höhe ragten und nach innen etwas schräg aufeinander zuliefen, ruhte ein noch mächtigerer Quader, der an den Seiten über die Säulen hinausführte.

Die Nacht hatte sich jetzt über das Eiland gelegt. In einer großen Metallschale war ein Feuer entzündet worden. Der lodernde Schein der Flammen warf groteske Schatten der Gestalten gegen das Tor.

»Sind alle versammelt?«, wollte sich der Priester vergewissern, nachdem er sich vor den Männern etwas erhöht postiert hatte.

»Ja, Herr!«, antwortete ihm einer der Vermummten.

Zufrieden hob der sogenannte ›Geweihte‹ beide Arme in die Höhe. »Gut!«, erschallte seine laute Stimme. »Dann lasst uns andächtig der Zeiten gedenken, als unsere Vorväter noch nicht vom Christengott versklavt waren und als kühne Seeräuber, von den alten, starken Göttern beschützt, die Meere befuhren!«

»Ja!«, rief jemand zustimmend, enthusiastisch. »Das waren noch Zeiten, als Odin auf seinem Schlachtross Sleipnir durch die Nacht ritt und von den beiden Raben Hugin und Munin begleitet wurde!«

»Hört ihr den Donner?«, fuhr der Priester fort.

»Früher war das Thor, der seinen Hammer Mjölnir warf!«, kam wieder eine Antwort von einem der umstehenden Männer zurück.

»Ja, früher!«, bestätigte ihr Anführer. »Doch nun müssen wir uns wie Diebe in der Nacht treffen, um an die alten Götter zu denken! Vorbei ist alle Herrlichkeit. Aus kühnen Seeräubern sind brave Fischer geworden, und die alten Götter sind tot!«

»Solange man an sie denkt, leben sie!«, dröhnte eine kraftvolle Stimme vom Steintor her.

»Wer … wer hat gesprochen?«, fragte einer der Heiden erschrocken.

»ICH!«, donnerte die Stimme über das Plateau. Wie aus dem Nichts erhob sich vor ihnen die mächtige Gestalt eines muskulösen Mannes, der einige Männer um mindestens zwei, die anderen bis zu drei Köpfe überragte. Er trug nur einen roten Lendenschurz und ebenfalls eine schwarze Kapuze, die sein Gesicht vollständig verbarg. In seiner rechten Hand hielt er einen riesigen, goldfarbenen Hammer in die Höhe.

Entsetzt wichen die maskierten Heiden zurück.

»Ihr Götter!«, rief der Priester, auf die wundersame Erscheinung starrend. »›Thor‹ ist wiedergekehrt!«

»Ja!«, tönte der Unheimliche und umfasste nun mit beiden Händen den Stiel des Werkzeuges. »›Thors‹ Geist ist in mich gefahren, als ich durch die Berge wanderte! Er führte mich in eine Höhle, in der ich seinen Hammer Mjölnir fand!«

Voller Begeisterung brachen augenblicklich Jubelschreie aus.

»Führe uns, mächtiger ›Thor‹!«, rief der Priester und streckte der Göttererscheinung seinen linken Arm entgegen. »Wir folgen dir, wohin du willst!«

Da hob der Fremde seine rechte Hand und spreizte drei Finger. »Wir werden wieder segeln, Männer, und reiche Beute machen! Schluss mit dem wehmütigen Gefasel von den alten Zeiten! Ich bringe sie euch zurück!«, schwor er den versammelten Heiden.

Wieder ertönten begeisterte Rufe. »Führe uns, ›Thor‹! Wir folgen dir!«

»Ich nehme eure Gefolgschaft an!«, antwortete ›Thor‹. »Aber ihr müsst mir versprechen, mir zu helfen. Ich habe ein Gelübde zu erfüllen! Sigurd, mein Erzfeind, muss fallen und mit ihm sein Freund Bodo!«

»Dein Schwur soll auch unser Schwur sein, mächtiger ›Thor‹!«, gelobte der Priester für seine Anhänger des heidnischen Kultes.

»Gut!«, nickte der Hüne befriedigt. »Knechte herbei!«, rief er laut.

Zwei ebenfalls vermummte Helfer traten aus dem Schatten des Steintores in den durch das Feuer in der Schale erhellten Lichtkreis. Mit kräftigen Händen trugen sie eine schwere Holztruhe zu ihrem Anführer.

»Schüttet den Inhalt auf dem Boden aus!«, befahl er.

Wie ein Wasserfall ergoss sich klirrend der Inhalt der Truhe auf dem steinigen Boden.

»Ah! Gold und Edelsteine!«, entfuhr es dem Priester, dessen strahlendes Gesicht durch die Kapuze verborgen blieb.

»Ja«, ließ sich ›Thor‹ vernehmen. »Dieses Gold und die Edelsteine werden sich in ein schnelles Drachenschiff und Waffen verwandeln. Reist morgen weiter nach Norden, wo man es noch versteht, diese Schiffe zu bauen!«

»Ja, Herr!«, nickte der heidnische Anführer eifrig. »Aber wir brechen lieber noch heute Nacht auf!«

»So soll es sein!«, war ›Thor‹ einverstanden. »Achtet darauf, dass strengstes Stillschweigen bewahrt bleibt. Ihr habt genügend Mittel, um schwatzhafte Mäuler zu stopfen!« Er hob seinen linken Arm und deutete mit dem Zeigefinger auf die Männer. »Kauft das beste Schiff und segelt hierher. Aber nur nachts!«, sagte er eindringlich. »Ankert dann in der kleinen Bucht, wo eure Ruderboote liegen!« Wieder hob er den güldenen Hammer in die Höhe.

Die schweren Wolken hatten jetzt eine dunkelrote Färbung angenommen. Auch der Wind hatte merklich nachgelassen.

»In zwei Monaten treffen wir uns hier wieder und stechen unter meiner Führung in See! Feuer und Schwert sollen unsere wilden Begleiter sein!«

»Ihr könnt Euch auf uns verlassen, Herr!«, rief einer der Heiden. »Wir brennen darauf, mit Euch von Sieg zu Sieg zu stürmen!«

»Gut!«, war ›Thors‹ Antwort. »Aber … wagt es nicht, mich zu hintergehen … sonst zerschmettere ich euch mit Mjölnir, wie diesen Felsblock!« Zur Bestätigung seiner Warnung ließ er den Hammer niederfahren, der krachend gegen einen großen Stein prallte. Kleine Felsbrocken und Gesteinssplitter wirbelten auf, als der massive Stein in sich zerbarst.

»Ah!«, wich der Priester erschrocken zurück, da er ›Thor‹ am nächsten stand. Doch der ging langsam und rückwärts gewandt zurück, während seine beiden Gehilfen bereits vorausliefen.

»Folgt mir und meinen Knechten nicht! Geht in eure Boote!«, befahl er unmissverständlich. »Vergesst es nicht! In zwei Monden erwarte ich euch hier!«

*

Während die heidnische Versammlung noch immer wie gebannt zusammen stand, waren die drei Männer hinter dem Steintor verschwunden.

»Kommt!«, sagte ›Thor‹ zu seinen Männern. »Wir haben noch einiges zu erledigen. Viele Eisen im Feuer sind besser als eines!«

»Herr, es lässt sich alles viel besser an, als wir zu hoffen wagten!«, ließ sich einer der beiden vernehmen. »Bald besitzt Ihr wieder ein Schiff, und wir werden reiche Beute machen!« Er legte eine kurze Pause ein. Der Hüne drehte sich zu ihm um.

»Und?«, fragte er lauernd.

»Verderbt nicht alles mit Eurem unseligen Hass auf Sigurd! Vielleicht bietet sich später einmal Gelegenheit …?«

»Schweig, Kerl!«, schnitt ihm ›Thor‹ das Wort ab. »Sigurd und Bodo haben mir zu viel angetan! Ich finde keine Ruhe, solange meine Rache nicht gestillt ist! Wir verteilen den Rest des geretteten Schatzes, um meine Rache vorzubereiten!«

 

ZWEI

Vier Wochen waren seit der unheimlichen Zusammenkunft der vermummten Männer in der vorchristlichen Kultstätte vergangen.

Sigurd, Bodo und Cassim ritten gerade, von einem Jagdausflug kommend, mit Graf von Heimfels zur Burg des Grafen zurück. Sie wurden von einer Anzahl ebenfalls berittener Männer begleitet. Stolz erhob sich die trutzige Feste auf dem Burghügel. Scharf zeichnete sich das Bauwerk gegen den strahlend blauen Himmel ab. Sigurd, sein Freund Bodo und der Graf führten die Reiterschar an. Ihr Weg lenkte sie bereits den breiten Weg des Burghügels hinauf.

»Das war wieder ein herrlicher Tag.«, sagte Sigurd dankbar in Richtung des Grafen. »Aber …«, schränkte er ein wenig ein, »langsam müssen wir an unsere Heimkehr denken.«

»Ja!«, nickte Bodo, der zwischen den beiden ritt. »Meine Verwundung kann ich als Hinderungsgrund für die Reise nicht mehr länger vorschützen, Graf. Sonst ist Euer Arzt beleidigt.« Er lachte laut auf.

»Ich lasse Euch nur ungerne ziehen!«, antwortete Graf von Heimfels aufrichtig. »Leider habe ich nicht oft das Vergnügen, so nette Gäste bei mir zu haben.«

*

In diesem Moment passierte die Jagdgesellschaft dichtes Buschwerk und hoch gewachsene Bäume mit mächtigen Stämmen zu beiden Seiten des Weges. Ein Mann, der sich Rollo nannte und ganz in Rot gekleidet war, sowie sein blonder, dicker Kumpan Bert, dessen Nase ein heller spitzer Schnurrbart zierte, verbargen sich hinter einem der Baumstämme.

»Du hast recht!«, bestätigte Rollo, der durch seine rote Kopfbedeckung auffiel. Es sah aus wie eine Kapuze, die sein Gesicht allerdings völlig unbedeckt ließ. »Es sind die beiden Ritter, die mein Herr sucht!«, zischte er leise. Hastig angelte er einige Goldstücke und ein kleines, goldfarbenes Kästchen aus seiner Jackentasche. »Hier sind fünf Goldstücke!«, flüsterte er und reichte sie seinem Begleiter. »Du bekommst noch fünf, wenn du ihnen dieses Kästchen unterschiebst!«

»Hm … was ist in dem Kästchen?«, fragte der Dicke neugierig und zugleich etwas misstrauisch.

»Das geht dich nichts an!«, meinte Rollo lapidar.

Doch Bert machte eine ablehnende Handbewegung. »Das ist mir zu gefährlich. Wenn … Gift darin ist …«, sagte er gedehnt. »Mit Mord will ich nichts zu tun haben!«

»Unsinn!«, beruhigte ihn Rollo. »Ich gebe dir mein Wort, dass der Inhalt dieses Kästchens keine Gefahr für Leib und Leben der Ritter bedeutet!«

»Na gut!«, meinte Bert. »Ich glaube dir. Gib mir die fünf Goldstücke!«

Gierig hielt er seine feiste Hand auf. Im Nu war das edle Metall in seiner Joppe verschwunden. Dann ergriff er das hingehaltene Kästchen und wandte sich ab. Vorsichtig, jedes Geräusch vermeidend, drang er durch die Büsche zu seinem Pferd.

»Lass dich nicht erwischen!«, mahnte Rollo leise.

»Keine Sorge!«, tat Bert den Ratschlag ab. »Mich verdächtigt niemand!«

Bald darauf trabte sein Pferd über die Zugbrücke von Burg Heimfels.

»Na, Koch?«, rief ihm einer der drei Torwachen zu. »Wie geht es deiner kranken Schwester im Dorf?«

»Danke!«, erwiderte Bert scheinbar gelassen. »Sie ist schon fast wieder gesund.«

*

Inzwischen galoppierte Rollo zufrieden durch den Wald. Nach einer Weile hatte er sein Ziel erreicht. Vor einer verfallenen Hütte sprang er aus dem Sattel. Er ließ sein Pferd, ohne es anzubinden, einfach stehen und trat an die Tür. Zwei schnelle Klopfzeichen und nach einer kleinen Pause ein weiteres Anklopfen zeigten den vier Männern in der Hütte, dass einer der ihren angekommen war. Noch während Rollo durch die von ihm geöffnete Tür in die Hütte trat, begann er schon zu berichten.

»Die Gäste von Graf von Heimfels sind tatsächlich die beiden Ritter, die unser geheimnisvoller Auftraggeber sucht!«, sprudelte es aus ihm heraus. Dann wandte er sich an seinen Kumpan Beppo. »Das Kästchen wird ihnen zugespielt.«

»Gut!«, nickte der kräftige Blonde und erhob sich. Er zeigte auf die Gesellen, die mit ihm am Tisch saßen. »Dann können diese drei Männer das Spielchen fortsetzen.«

»Schön!«, antwortete einer von ihnen und drehte sich zu Beppo um. »Wir wissen, was wir tun sollen, aber noch ist es nicht sicher, dass Graf von Heimfels uns als Söldner aufnimmt!«

»Warum sollte er nicht?«, entgegnete Beppo überzeugt. »Ich weiß, dass er noch Männer sucht. Morgen früh bewerbt ihr euch!«

»Am besten noch heute Abend!«, warf Rollo ein. »Ich habe gehört, dass die beiden Ritter Burg Heimfels bald verlassen werden!«

»Oh!«, war Beppo überrascht.

»Ja!«, fuhr Rollo fort. »Sie wollen zurück auf ihre Burg!«

»Das muss unser Auftraggeber erfahren!«, grübelte Beppo kurz. »Los, geht jetzt!«, drängte er zur Eile.

Wortlos standen die Männer auf und verließen die Hütte. Da sie unberitten waren, mussten sie kräftig ausschreiten, um Burg Heimfels zu erreichen.

»Was soll ich tun?«, fragte Rollo, nachdem die Schritte der Handlanger draußen verklungen waren.

»Nichts weiter, deine Aufgabe ist erfüllt!«, war die Antwort. »Hier ist dein Lohn.« Beppo griff in seine Hosentasche und förderte einen gut gefüllten Beutel mit Goldstücken zu Tage.

»Danke!«, grinste Rollo und hielt das Säckchen mit beiden Händen fest. Doch dann zogen Falten durch seine Stirn. »Trotzdem verstehe ich das alles nicht! Warum dieses Katz-und-Maus-Spiel? Warum lässt unser Auftraggeber die beiden Ritter nicht einfach mit zwei gut gezielten Pfeilschüssen ins Jenseits befördern?«

»Tja!«, schüttelte Beppo bedächtig seinen Kopf. »Ich weiß es auch nicht. Ich kann nur vermuten, dass sein Hass auf die beiden Ritter so groß ist, dass er sie eine Weile quälen will, bevor er ihnen den Todesstreich versetzt.«

»Hm!«, erwiderte Rollo. »Das ist ja ein sympathischer Zeitgenosse, alles, was recht ist! Hast du eine Ahnung, wer der Mann ist?«

»Nein!«, gab Beppo zurück. »Nicht einmal den Schatten einer Ahnung. Aber was kümmert uns das? Wir haben noch nie im Leben so viel Gold bekommen!«

 

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