Leseprobe – Sigurd – Werwölfe


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EINS

Seit beinahe drei Wochen waren zwei Reiter mit ihren Pferden auf unebenen Wegen, engen Pfaden und durch dichte Waldungen unterwegs. Über Anhöhen und Täler führte sie ihr Ritt. An diesem frühen Morgen war es gewiss, dass sie ihr Ziel noch heute erreichen würden.

Die beiden Ritter Sigurd von Eckbertstein und Bodo von Brauneck näherten sich der Küste. Da öffnete sich plötzlich die Landschaft und ein prachtvoller Anblick bot sich ihnen, sodass sie ihre Reittiere nur verhalten laufen ließen. Vor ihnen lag an einer tiefer gelegenen Meeresbucht die Wasserburg des Fürsten Friedrich.

Mit dem guten Gefühl in den Herzen, Raubritter Laban für seine Untaten bestraft zu haben, indem sie ihn seine begangenen Verbrechen mit dem Leben bezahlen ließen, hatten sie nun den Ausgangspunkt ihres letzten Abenteuers erreicht. Von allen Türmen der Burg wehten bunte Fahnen. Die Sonne strahlte vom leicht bewölkten Himmel und auf dem vorgelagerten Dorfplatz, der von der Burg nur durch eine Zugbrücke getrennt war, herrschte reges Treiben. Viele Zelte waren aufgestellt, auf denen ebenfalls farbenfrohe Fähnchen flatterten. Eine große Tribüne stand direkt vor der Dorfkirche. Anfeuernde Rufe hallten herauf, als gerade zwei Lanzenreiter aufeinander zuritten, um sich im ritterlichen Wettkampf zu messen.

»Oh«, war Sigurd überrascht. »Vor der Burg ist ein Turnierplatz aufgebaut worden!«

»Man feiert ein großes Fest«, bestätigte Bodo die Worte seines Freundes. »Sollte Fürst Friedrich die Fehde gegen Fürst Eberhard gewonnen haben?«

»So wird es sein«, antwortete Sigurd, während sie sich langsam den ersten Häusern des Dorfes näherten.

»Junge, Junge«, gab Bodo zu bedenken. »Dann kenne ich aber jemand, der sich gar nicht über diesen Ausgang des Kampfes freut!«

»Tja«, entgegnete Sigurd. »Fräulein Margarete, Fürst Friedrichs Nichte, hat alles daran gesetzt, damit ihr Oheim in dieser Fehde unterliegt. Wir wären dieser skrupellosen Person ja auch beinahe zum Opfer gefallen!«

Wenig später hatten Sigurd und Bodo den festlich hergerichteten Dorfplatz erreicht. Viele Söldner liefen umher. Knappen waren ihren Rittern bei den Vorbereitungen der Turnierkämpfe behilflich, während emsige Bedienstete die Gäste mit köstlichen Speisen und Getränken bewirteten.

Da machte Sigurd eine nicht erwartete Entdeckung. Auf der Mitte der Tribüne saß ein mit einer blauen, langen Jacke und blauen Hose bekleideter Mann, der lachend einen goldenen Trinkbecher in die Höhe hielt. Sein Kopf schmückte ebenfalls ein blaues Barett, dessen hintere Seite mit einem blauweißen Federbusch versehen war. Die goldenen Pailletten auf seinem Seidenhemd wiesen ihn als eine sehr hochgestellte Persönlichkeit aus.

An seiner Seite erfreute sich eine festlich gekleidete junge Dame mit einem spitzen, kegelförmigen Hennin als Kopfschmuck an der festlichen Stimmung. Außerdem war die Tribüne mit weiteren adligen Gästen besetzt, die dem gereichten Wein gerne zusprachen.

»Bei allen …«, entfuhr es Sigurd, der den Fluch vor Überraschung nicht vollendete. »Dort auf der Tribüne auf dem Ehrenplatz«, rief er Bodo zu, »das ist nicht Fürst Friedrich, sondern … Walter, Fürst Eberhards Sohn! Dann …«

»Ja, wisst Ihr denn nicht, was geschehen ist und was hier gefeiert wird, Ihr Herren?«, rief ihnen der Hauptmann der Bewaffneten zu, der Sigurds erstaunten Ausruf mitgehört hatte.

»Nein …«, verschlug es Bodo fast die Stimme. »Wir kommen von weit her, wir …«

Abermals unterbrach Hauptmann Jost die Freunde. »Fürst Eberhard hat die Fehde gewonnen, das heißt … eigentlich sein Sohn, Walter, weil der Fürst während der Eroberung der Burg gefallen ist.«

Sigurd und Bodo hörten entsetzt zu, während der Hauptmann weitersprach.

»Stellt Euch vor, Fräulein Margarete, die Nichte des Fürsten Friedrich, hat uns während der Nacht heimlich in die Burg eingelassen! Sie wollte zum Lohn für ihren Verrat Walters Gemahlin werden. Diese Närrin! Stattdessen hat sie mit einem Schwert Hochzeit gefeiert!«

»Wie?!«, fuhr Sigurd hoch. »Soll das heißen …?«

Hauptmann Jost lachte laut auf und zeigte mit dem Daumen in die Richtung der Ehrentribüne.

»Fürst Eberhards Sohn trug sich nie mit der Absicht, Margarete zu heiraten. Er hatte ihr nur den Kopf verdreht, um leichter an sein Ziel zu gelangen, sich Fürst Friedrichs Fürstentum einzuverleiben.« Sein Lachen verwandelte sich in Laute, die einer kichernden Hyäne gleichkamen.

»Großer Himmel!«, stieß Sigurd hervor. Er hätte fast mitlachen können, wenn es nicht so tragisch gewesen wäre. Da bestahl und schädigte dieses Mädchen ihren Onkel, damit die Fehde zu seinem Nachteil ausging, und das alles für diesen Walter, der sie nur als Mittel zum Zweck missbrauchte. All ihre Bemühungen und Intrigen hatten ihr statt der Erfüllung ihrer selbstsüchtigen Pläne den Tod gebracht. »Sagt mir«, wandte er sich wieder dem Hauptmann zu. »Was ist mit Fürst Friedrich geschehen? Ist er … auch gefallen?«

»Nein«, antwortete Jost, der immer noch bereitwillig Auskunft gab. »Fürst Friedrich wurde gefangen genommen! Aber, wenn Ihr mich fragt … für ihn wäre es besser gewesen, kämpfend zu sterben.«

»Das dachte ich gerade auch«, war Sigurd fassungslos über das Gehörte.

Mit welcher Zuversicht waren sie hierher zurückgekehrt und mussten nun diese unsägliche Wendung der Geschehnisse erfahren. Ernst sank sein Kopf nach vorn und die Gedanken wirbelten darin herum. Dann sprach er mit leiser Stimme weiter. »Die Wahrheit über seine Nichte muss niederschmetternd für ihn gewesen sein. Es ist ja auch kaum zu fassen, dass sie dem Feind das Burgtor geöffnet hat.«

Trauer schwang in seinen Worten mit. Hauptmann Jost lachte wieder laut auf. Die Freunde fühlten sich plötzlich von der Festivität der Menschen um sie herum abgestoßen, die einen Sieg feierten, der in den Augen von Sigurd und Bodo auf so unwürdige Weise zustande gekommen war.

»Es ist kaum zu fassen, dass Fürst Walter die Stirn hat, einen solchen jämmerlichen Sieg, der durch den Verrat eines verblendeten Mädchens zustande gekommen ist, auch noch zu feiern!« Sigurds Stimme hatte jetzt sehr an Schärfe zugenommen. Die Gesichtszüge des Hauptmanns wechselten vom Grinsen in eine missbilligende Mimik.

»Komm, wir wollen Cassim abholen und dann sofort davon reiten. Mich ekelt hier alles an«, entschloss sich Sigurd und machte eine wegwerfende Handbewegung.

»He!«, wurde sein Gegenüber wütend. »Wie sprecht Ihr denn?«

»Wer seid Ihr überhaupt?«, mischte sich ein anderer Söldner ein, der schon eine Weile dem Gespräch gefolgt war, das nun eine unangenehme Wendung nahm.

»Seid Ihr etwa Freunde Fürst Friedrichs?«, kam daraufhin die schon lange von Sigurd erwartete Frage des Hauptmanns.

»Ja«, gab Sigurd knapp zurück.

»Bei allen Teufeln!«, entfuhr es Jost. Da das Gespräch inzwischen mehr und mehr an Lautstärke zugenommen hatte, waren immer mehr Söldner hinzugetreten. Ein weiterer Scherge mischte sich mit ein. »Ihr wagt es, Euch zu ihm zu bekennen, obwohl Ihr mitten unter seinen Besiegern seid?«

»Warum nicht?«, entgegnete Sigurd selbstbewusst. »Wir sind mit Fürst Friedrich befreundet und waren es auch mit seinem Feind Fürst Eberhard!«

Er schaute den schwarzbärtigen Hauptmann unverwandt an und legte dabei seine rechte Hand auf Bodos Schulter, der an seiner Seite stand. »Ich bin Ritter Sigurd und dies ist mein Freund, Ritter Bodo!«

Dem Hauptmann entglitten vor Überraschung fast alle Gesichtszüge. Sein Nebenmann, ein blondbärtiger Söldner, reagierte schnell. »Verzeiht! Wir wussten nicht …« Doch Hauptmann Jost hatte sich schon wieder in der Gewalt. »Bitte folgt mir! Fürst Walter wird hocherfreut sein, Euch zu sehen!«

»Hm«, brummte Sigurd nicht sehr überzeugt. Doch als sich Jost umdrehte und loslief, folgten ihm die Freunde durch die Menschenmenge.

»Die Freude wird einseitig bleiben«, konnte sich Sigurd nicht verkneifen, seine Verärgerung zum Ausdruck zu bringen.

»Beherrsche dich, Sigurd«, versuchte Bodo, die Stimmung nicht weiter eskalieren zu lassen.

Sigurd senkte seine Stimme, als er Bodo antwortete.

»Das ist nicht leicht! Da fällt diesem Burschen der Sieg durch Verrat und Dummheit wie eine reife Frucht in den Schoß … und er feiert ihn, als ob er ehrlich errungen wäre. Wenn Walter schon das Gefühl für Ehre abgeht, dann sollte er doch so viel Anstand besitzen, auf den Tod seines Vaters Rücksicht zu nehmen!«

Bodo hörte seinem Freund geduldig zu. Er kannte ja die hehre Einstellung von Sigurd aus vielen Begegnungen gegenüber anders denkenden Menschen, die auch oft ihnen in der Vergangenheit ans Leben wollten. Waren sie außer Gefecht gesetzt, ließ Sigurd gegenüber den Besiegten meistens Milde walten, auch wenn er nicht immer der Einstellung seines Freundes folgen mochte.

Wenig später hatten sie die Ehrentribüne erreicht. Hauptmann Jost bat sie zu warten und zwängte sich durch die Sitzreihen zum Fürsten Walter vor.

»Was gibt es, Hauptmann?«, fragte der ihn entspannt. Jost deutete eine Verbeugung an und neigte sich seinem Herrn zu.

»Wir haben hohe Gäste, Herr«, sagte er bedeutungsvoll.

»Nun«, entgegnete Walter, »worauf wartest du? Führe sie zu mir.« Er lachte und setzte sein unterbrochenes Gespräch mit seiner Begleiterin, Gräfin Heidelinde von Tiefenthal, fort.

Kurz darauf hatte Hauptmann Jost die Freunde herangeführt und meldete sie an. Da sie in der Reihe hinter dem Fürsten standen, musste sich Fürst Walter ihnen zuwenden.

»Bei allen guten Geistern …«, unterbrach er sein Gespräch mit einem überraschten Ausruf. »Sigurd und Bodo! Wir haben uns ja seit einer Ewigkeit nicht gesehen!« Es war ihm anzumerken, dass er schon einige Becher des schmackhaften Traubensaftes geleert hatte. »Aber ihr konntet für einen Besuch keinen besseren Zeitpunkt wählen!« Der Fürst war bester Stimmung und stand auf. »Kommt an meine Seite und feiert mit!« Doch Sigurd sah ihn nur mit ernstem Gesicht an.

»Danke … uns ist nicht nach Feiern zumute, Walter.«

»Na, na! Auf meinen Sieg werdet ihr aber doch trinken«, überspielte der Fürst Sigurds Antwort. »Mundschenk! Noch zwei Becher«, befahl er dem gerade vorbeilaufenden Bediensteten.

In diesem Moment drangen vom Turnierplatz plötzlich laute Rufe und derbes Gelächter heran. Sigurd drehte sich um und schaute hinunter. »Was ist denn das für ein Gejohle?«, fragte er unwirsch. Walter, der gerade seinen Trinkbecher ansetzte, lachte laut los. »Ha, ha! Es leitet den Höhepunkt der Festveranstaltung ein!«

Was sich den Augen der Freunde bot, war an Geschmacklosigkeit nicht zu überbieten.

»Großer Gott!«, ballte Sigurd bei dem Anblick die Fäuste. »Das … das darf doch nicht wahr sein!«

Auch Bodo konnte nicht glauben was er sah. »Ein Narr … reitet auf Fürst Friedrich!«, rief er laut aus. Tatsächlich krabbelte der einstige Fürst der Burg auf dem sandigen Platz auf allen Vieren. Bekleidet war er mit einer braunen, mönchsartigen Büßerkutte. Auf seinem Rücken saß der Hofnarr von Fürst Walter und klingelte laut lachend mit einem kleinen Schellenbaum. Zu allem Überfluss liefen zwei Schergen mit Lanzen dicht hinter den beiden her, um zu verhindern, dass Fürst Friedrich den Narren eventuell abschüttelte.

»Ha, ha, ha!«, tönte Walter vor überschäumender Freude. »Der Einfall ist gut, nicht wahr?« Dabei erhob er seinen Trinkbecher, als ob er den Gästen auf der gegenüberliegenden Seite zuprosten wollte. Sigurd konnte aus seiner Abscheu keinen Hehl machen.

»Das finde ich … empörend!«, stieß er mit zusammengepressten Lippen hervor. »Veranlasst sofort …«

Da unterbrach ihn Bodo, der seinerseits entsetzt war. »So behandelt man keinen unterlegenen Gegner!«

»Ha, ha, Ihr seid köstlich!«, betrachtete Fürst Walter die Angelegenheit mit Humor. Doch dann drehte er sich plötzlich so heftig um, dass er fast sein goldverziertes Sitzmöbel umstieß. Dabei fiel ihm sein Trinkbecher aus der Hand und der Wein ergoss sich auf den Rücken der neben ihm sitzenden Gräfin. Doch darum scherte er sich nicht. Seine Gesichtszüge bekamen einen diabolischen Ausdruck.

»Ein Mann, der sich von einem Weiberrock zum Narren halten ließ, hat nichts anderes verdient!«, rief er voller Verachtung über den Turnierplatz. »Der Narr wird ihn hierher lenken. Dann soll Friedrich mir den Staub von den Füßen küssen!«

In diesem Moment stützte sich Sigurd auf die mit einem Wappentuch verzierte Kante der Balustrade und schwang sich hinüber. Noch während er den Sprung von ungefähr drei Metern Höhe zum sicheren Stand brachte, erkannte ihn Fürst Friedrich.

»Sigurd!«, rief der alte Fürst verzweifelt aus. »Oh … warum lebe ich noch? Dass Ihr meine Schande sehen müsst …«

Da wurde er von Sigurds Handlung unterbrochen. »Hinunter mit dir«, schrie er den Narren an und schlug mit der flachen Hand zu, sodass der Spaßmacher in hohem Bogen auf den Boden stürzte. Sein Schellenbaum wirbelte durch die Luft.

Doch Sigurd hatte noch nicht zu Ende gesprochen. »Treibe deine Späße mit deinem Herrn, aber nicht mit diesem in Ehren ergrauten Mann!« Die beiden Lanzenträger waren so verblüfft, dass sie reglos dastanden.

»Bei allen Teufeln!«, rief Fürst Walter nun laut von der Tribüne herunter, während sein rechter Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Sigurd und Fürst Friedrich zeigte. »Was fällt Euch ein, Ritter Sigurd? Wie könnt Ihr es wagen, mein Fest zu stören? Niemand hat Euch eingeladen! Ich bin kurz davor, böse zu werden!«

»Ich bin es schon!«, schrie Sigurd wutentbrannt zu ihm hinauf. Im selben Moment sprang Bodo seinem Freund hinterher. Sigurd war nun nicht mehr zu bremsen. »Ich will Euer Fest auch nicht weiter stören. Überlasst mir Fürst Friedrich, dann befreien wir Euch sofort von unserer Gegenwart!«

»Aber nicht doch«, grinste Walter teuflisch. »Das heißt … lasst mich einen Augenblick überlegen.« Alle Gäste und Schergen auf der Tribüne waren aufgesprungen und blickten nun mit finsteren Gesichtern erwartungsvoll auf ihren Fürsten. Die ausgelassene Stimmung war zumindest im näheren Umkreis wie weggeblasen.

»Ihr … ihr wollt doch nicht etwa Fürst Friedrich freilassen?!«, fragte besorgt Hauptmann Jost.

»Kein Gedanke«, kam die schnelle Antwort von Walter. »Hm … ich habe eine Lösung gefunden, um Sigurd lächerlich zu machen.«

Durch ein überraschtes Grinsen konnte man die Erleichterung des Hauptmanns erkennen. »Wenn Euch das gelänge … aber seid vorsichtig, mit Sigurd ist nicht gut Kirschen essen!«

»Keine Angst, Hauptmann«, beruhigte ihn der Fürst. »Kommt«, machte er eine entsprechende Geste.

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