Leseprobe – Sigurd – Herrscherin ohne Gnade


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EINS

Hoch ragten die Türme und Zinnen von Burg Aarburg auf. Die Banner mit dem Wappen des Grafen wehten heftig im Wind, als erwarteten sie voller Ungeduld die Rückkehr der Gruppe, die den felsigen Hügel hinaufritt.

Als die Wachleute den Trupp erspäht hatten, schallten Rufe von den Mauern. Die Zugbrücke war längst herabgelassen worden, als sich Sigurd, Bodo und Cassim der Burg näherten.

Einige Wochen waren vergangen, seitdem sie den Schurken Iwein bezwungen und den Schatz König Ringangs zurückerobert hatten. Die Reise war lang und anstrengend gewesen, und jeder von ihnen war erleichtert, nun endlich wohlbehalten auf der Burg einzutreffen.

Bedienstete nahmen ihnen die Pferde ab, während ein Hauptmann mit gestrengem Blick seinen Männern befahl, die eisenbeschlagenen Kisten und Truhen zu bewachen.

Er selbst geleitete die drei Freunde durch den Burgfried in den Thronsaal. Auf dem ganzen Weg dorthin wurden sie mit neugierigen Blicken bedacht, manch Stimme begrüßte die Ankömmlinge freudig.

Auch Graf Wulf von Aarburg machte aus seiner Unruhe keinen Hehl. Sobald die Freunde den Saal betraten, erhob er sich von seinem Thron und kam Sigurd entgegen. Er umschloss dessen Hand mit beiden Händen und bedachte ihn mit einem Blick, in dem sich neben der Anspannung auch Erleichterung zeigte.

»Habt Dank, Sigurd!«, begrüßte er den Junker. »Doch nun kommt erst einmal ins Haus und stärkt Euch bei einem kräftigen Mahl. Selbstverständlich gilt dies auch für Eure Begleiter.« Er machte eine einladende Geste und lächelte Bodo und Cassim zu.

»Ihr müsst uns alles berichten!«, platzte es aus Gerhild, der Tochter des Grafen von Aarburg, heraus, die entgegen aller höfischer Sitte ihren Vater unterbrochen hatte. Er blickte zu ihr herüber und lächelte ihr zu, dann nickte er.

»Ihr werdet sicherlich viel zu erzählen haben«, schloss er sich den Worten seiner Tochter an. »Wir haben inzwischen hohen Besuch bekommen«, fügte er an, »es erwartet uns also ein Abend voller angeregter Gespräche.«

*

Sigurd und seinen Freunden wurde eine Zimmerflucht in der Burg zugewiesen. Sie nutzten die Zeit bis zum Mahl, um sich nach den langen Strapazen der Reise bei einem entspannenden heißen Bad auszuruhen und die Kleidung zu wechseln.

Ein Diener brachte sie am frühen Abend in den Thronsaal, in dem nun mehrere schwere Tische aus Eichenholz aufgestellt worden waren, die sich unter der Last der aufgetragenen Speisen schier bogen.

Die Musik von Spielmännern erfüllte den Raum, ebenso wie die Stimmen der geladenen Gäste. Graf von Aarburg begrüßte Sigurd abermals und machte ihn denjenigen Anwesenden, die ihn noch nicht kannten, mit eindrucksvollen Worten bekannt.

Sigurd sah, wie ihn besonders ein Mann, der vom Alter her sein Vater hätte sein können, mit wachen Augen musterte. Dieser war in teure Stoffe gekleidet, die seinen Stand deutlich machten. Um den Hals trug er eine schwere Kette aus goldenen Medaillons. Das wellige Haar war bereits von grauen Strähnen durchzogen. Der Mann strich sich über seinen gepflegten Schnurrbart, während er Sigurd nicht aus den Augen ließ.

Graf von Aarburg bat den Junker, ihm zu folgen und stellte ihn vor.

»Dies ist Fürst Norfried, der meine Burg mit seiner Anwesenheit beehrt. Wie auch Ihr hat er eine weite Reise hinter sich.«

»Und eine weitere vor mir«, ergänzte der Fürst und deutete eine Verneigung an. Graf von Aarburg bat die beiden Männer, am Tisch Platz zu nehmen und führte seinerseits seine Tochter zu ihrem Stuhl. Mit einem Klatschen in die Hände eröffnete der Graf das Mahl und bat alle Anwesenden, es sich munden zu lassen.

»Es freut mich, einen so tapferen Junker kennenzulernen«, richtete sich Fürst Norfried an Sigurd, nachdem alle ihr Mahl beendet hatten. »Auch bei mir zu Hause sind Eure Taten in aller Munde.«

Sigurd wurde bei den lobenden Worten sichtlich unwohl, da er es nicht auf Ruhm anlegte. Er wollte etwas dazu einwenden, doch der Fürst winkte ab. »Hört mir zu, Sigurd! Ich bin auf dem Wege zur Hochzeit meines Sohnes und führe wertvolle Geschenke mit mir.« Er hielt inne und legte die Handflächen aneinander. »Hättet Ihr Lust, mich zu begleiten?« Bei diesen Worten ließ er den jungen Mann nicht aus dem Blick.

»Der Weg des Fürsten führt durch eine wilde, unbekannte Gegend, die der ›Irrgarten des Todes‹ genannt wird«, erklärte Graf von Aarburg. »Dort lauern viele Gefahren, deshalb wird sie von jedem gemieden. Niemand kann wirklich sagen, was den Fürsten dort erwartet, deshalb gebe ich ihm zum Schutz einen Zug Bewaffneter mit …«, er wandte sich an Sigurd, »… für die es keinen besseren Führer gibt als Euch!«

»Ihr wisst nun, worum es sich handelt. Wollt Ihr mit mir kommen, dann entscheidet Euch!« Fürst Norfried sah den Junker abwartend an.

Cassim, der neben Sigurd saß, konnte sich nicht zurückhalten und stieß den Atem hörbar aus. Ihm behagte der Gedanke augenscheinlich nicht, sich so schnell schon wieder in ein neues Abenteuer zu stürzen.

Sigurd warf ihm einen nachdenklichen Blick zu, bevor er sich an die beiden adligen Männer wandte. »Ich werde Euch begleiten, Fürst Norfried!«, erklärte er mit entschlossener Stimme.

Der Fürst wirkte bei den Worten sichtlich erleichtert und setzte ein Lächeln auf. Er hob seinen Pokal an und prostete Sigurd zu. Die Männer genossen den restlichen Abend, um sich bei Musik und Geplauder zu entspannen. Die Gefahren der bevorstehenden Reise lagen noch weit vor ihnen.

 

ZWEI

Nach einigen Tagen verabschiedeten sich Sigurd, Bodo und Cassim von Graf Aarburg und schlossen sich dem Zug bewaffneter Reiter an, die am Burgtor dem Aufbruch entgegenfieberten. Fürst Norfrieds Pferd tänzelte aufgeregt auf der Stelle.

Als er die drei Freunde sah, begrüßte er sie und hob dann mit einem Blick zum Grafen die Hand zum Abschied. Dieser erwiderte die Geste und wünschte den Männern alles Gute.

Der Trupp brach zu seiner Reise auf. Diese führte über das Gebirge und durch endlos scheinende Weiten, immer weiter nach Süden. War es zu Beginn noch fruchtbares Land, das von sprudelnden Bächen durchzogen wurde, wuchs das Gras nun nur noch spärlich, bis es einem kargen, ausgetrockneten Boden wich, der den Pferden keine Nahrung mehr bot.

Die Umgebung wirkte sich auch auf die Stimmung der Männer aus. Es wurden nur die nötigsten Worte gewechselt, und selbst der Besuch in einem ärmlich aussehenden Dorf brachte keine große Abwechslung.

Der Trupp nutzte die Gelegenheit, die Vorräte aufzufrischen und sich auszuruhen, doch der Wirt der einzigen Herberge setzte bei der Erklärung Fürst Norfrieds, wohin diesen die Reise führte, einen düsteren Blick auf und wiegte den Kopf.

»Wenn Ihr mir erlaubt, rate ich Euch davon ab, den ›Irrgarten des Todes‹ zu durchqueren, Herr.« Er rieb sich die Hände nervös an seiner fleckigen Schürze ab. »Viele sind dort hineingeritten, keiner ist bisher von dort zurückgekehrt.«

»Das sind ja schöne Aussichten«, flüsterte Cassim Sigurd zu.

»Einen Weg durch den ›Irrgarten des Todes‹ sucht Ihr?«, unterbrach ihn eine raue Stimme. »Den kann ich Euch zeigen. Wenn der Preis stimmt, edler Herr!«

Norfried und Sigurd blickten den Mann an, der sich bisher in einer schattigen Ecke der Herberge verborgen gehalten hatte und nun von seinem Krug aufsah. Er hatte ein hageres Gesicht, das von einem Spitzbart geziert wurde. Sein Haar war von einem kunstvoll geschlungenen Tuch bedeckt.

»Der Wirt hat wohl recht. Viele reiten hinein, kaum einer kehrt zurück. Nur wenige kennen den Weg hindurch.«

»Und Ihr kennt ihn?«, fragte Fürst Norfried.

»Das will ich wohl meinen! Aber …«, der Fremde breitete die Arme aus, »… Ihr seht, wie wir hier leben müssen. Die Gegend gibt nicht viel her. Es ist schwer, hier ein Auskommen zu haben.«

»Macht Euch um Eure Entlohnung keine Sorgen«, erwiderte der Fürst. »Führt mich und meine Männer durch den Irrgarten, und es soll Euer Schaden nicht sein. Wie nennt man Euch?«

»Das höre ich gerne, edler Herr! Dann lasst uns besser keine Zeit verlieren, denn der Weg ist weit und beschwerlich. Tuisko ist mein Name. Tuisko der Ehrbare.«

Der Wirt brummte bei diesen Worten, zog sich aber in seinen Küchenverschlag zurück, ohne auf die Bemerkungen einzugehen. Weder Sigurd noch Norfried sahen, wie Tuisko dem Wirt einen funkelnden Blick hinterherschickte und seine schmalen Lippen zusammenpresste.

Er leerte seinen Krug und wischte sich über den Mund.

»Ich erwarte Euch draußen, edle Herren. Bereit, aufzubrechen, wann immer Ihr wollt.«

Sigurd wartete ab, bis Tuisko den Schankraum verlassen hatte.

»Ein zwielichtiger Gesell, Fürst Norfried. Ich weiß nicht, ob wir ihm trauen können.«

Dieser deutete ein Nicken an. »Ich stimme Euch zu. Doch welche Wahl bleibt uns? Ein Umweg würde Wochen dauern. Und selbst dann bräuchten wir einen Führer, der uns durchs Gebirge führt.« Er seufzte. »So oder so – uns bleibt keine andere Wahl …«

*

In den nächsten Tagen führte sie Tuisko durch das unwegsame Gelände. Sigurds Misstrauen schien sich als unbegründet zu erweisen. Nach wie vor traute er dem Mann nicht, doch er führte sie über verschlungene Pfade, die tatsächlich der einzige Weg durch dieses steinerne Labyrinth zu sein schienen.

Und endlich erreichten sie den ›Irrgarten des Todes‹. Vor ihnen türmten sich die schroffen Felswände der engen Schluchten so hoch auf, dass das Sonnenlicht kaum mehr war als ein blasser Streifen inmitten der düsteren Schatten. Felsnadeln säumten den Weg aus feinem Geröll, auf dem die Pferde immer wieder ins Rutschen kamen.

Dieser Ort ist wie geschaffen für eine Falle, konnte Sigurd den Gedanken nicht unterdrücken. Immer wieder ging sein Blick zur Kante der Klippe und achtete darauf, ob er eine verdächtige Bewegung ausmachen konnte.

Bodo schloss zu ihm auf und fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln an seinem Kinn.

»Es gibt hier kein Wasser«, sagte er zu seinem Freund. »Und unsere Vorräte sind alles andere als gut gefüllt. Wer sich hier verirrt, der ist verloren.«

Sigurd konnte ihm nur recht geben. Wie es Fürst Norfried bereits gesagt hatte, blieb ihnen keine andere Wahl, als sich Tuisko anzuvertrauen und darauf zu hoffen, dass dieser sie durch dieses Felsengewirr führte.

Die Felswände warfen so dunkle Schatten, sodass dem Trupp nichts anderes übrig blieb, als schon früh am Abend sein Lager aufzuschlagen. Selbst das Licht des vollen Mondes drang kaum bis zu ihnen durch.

Fürst Norfried befahl, das Lager durch Fackeln ausreichend zu erhellen, um gegen böse Überraschungen in der Dunkelheit gewappnet zu sein. Doch gleichzeitig konnte man den Männern ansehen, wie sehr sie der Weg durch diesen Irrgarten zeichnete. Sie alle nahmen ihr Mahl schweigend zu sich und begehrten auch nicht auf, als der Fürst ihnen befahl, sich früh schlafen zu legen.

*

Die Nacht verlief ruhig – doch am anderen Morgen erwartete sie eine böse Überraschung.

Bodo stürmte in das Zelt, in dem Sigurd und Fürst Norfried das weitere Vorgehen beratschlagten.

»Tuisko ist verschwunden!«, brach es aus ihm hervor. »Und bevor er sich davongestohlen hat, hat er alle Wasservorräte zerstört! Wir sind verloren!«

Vor dem Zelt herrschte helle Aufregung. Fürst Norfried hatte alle Mühe, die Männer zu beruhigen. Zusammen mit Sigurd inspizierte er die Wasserfässer, doch bereits auf den ersten Blick ließ sich erkennen, dass Tuisko ganze Arbeit geleistet hatte. Das meiste Wasser war aus den aufgeschlagenen Fässern längst im Boden versickert, und der verbliebene Rest würde nicht einmal für diesen Tag reichen.

Sigurd begleitete Norfried zurück in dessen Zelt.

»Es hat keinen Sinn, Tuisko jetzt zu verfolgen«, stellte er fest. »Wir können ihn in diesem Irrgarten doch nicht finden. Vor allem brauchen wir Wasser, Fürst!«

»Die Männer sind so entkräftet, dass kaum einer von ihnen diese Strapazen durchstehen wird. Wir wissen ja nicht einmal, wo wir suchen sollen!«, erwiderte Norfried.

»Lasst Bodo und mich gehen!«, schlug Sigurd vor. »Die Männer sollen solange ausruhen und ihre Kräfte schonen.«

»Mir bleibt keine andere Wahl, als Eurem Vorschlag zuzustimmen. Aber wohl ist mir dabei nicht«, antwortete Norfried.

Die beiden Männer verabschiedeten sich vom Fürst. Sigurd hatte alle Mühe, Cassim davon abzuhalten, Bodo und ihn zu begleiten. Dabei waren dem Jungen die Strapazen noch mehr anzusehen als den erwachsenen Männern.

Aufs Geratewohl beschloss Sigurd, den Weg in die Richtung fortzusetzen, die sich ihm durch die breiteste Schlucht eröffnete. Stundenlang suchte er zusammen mit Bodo die Umgebung ab. Früh am Morgen war es noch verhältnismäßig frisch gewesen, doch nun, zur Mittagszeit, brannte die Sonne unbarmherzig auf sie herab.

Jeder Schluck schmerzte in Sigurds trockener Kehle. Die Glieder wurden ihm schwer. Auch Bodo hielt sich nur noch durch schiere Willenskraft auf den Beinen. Sie machten im Schatten eines Felsüberhangs Rast, als sich Sigurd plötzlich aufrichtete.

»Horch!« Er hob warnend die Hand. »Was ist das für ein Geräusch?«

Sein Freund kniff die Augen zusammen und sah sich um. Doch in diesem Augenblick hatte Sigurd die nahende Gefahr schon ausgemacht. Gedrungene Umrisse lösten sich aus dem Schatten der Felsen und kamen mit einem leisen Knurren näher. Sie formten einen Halbkreis, in dessen Mittelpunkt die beiden Männer standen.

»Wölfe!«, stieß Sigurd aus. »Ein Rudel Wölfe!«

»Das ist das Ende«, entfuhr es Bodo mit brüchiger Stimme.

»Das werden wir sehen. Wir werden unser Leben so teuer wie möglich verkaufen!« Sigurd zog sein Schwert und stieß es dem ersten vorpreschenden Raubtier tief in die Schulter. Der Wolf winselte kläglich und knickte ein.

Der Junker verlor keinen Augenblick und schlug nach dem nächsten vorwitzigen Tier, das sich nach einem schnellen Hieb geschlagen zurückzog.

»Sie lassen sich nicht vertreiben!«, rief Bodo, während sich seine Klinge in einen Wolf bohrte und ihn mitten im Sprung zu Fall brachte. »Und es werden immer mehr. Es ist besser, wenn wir fliehen!«

Sigurd sah kurz auf und musste seinem Freund recht geben. Wären es nur die vier Wölfe gewesen, so hätten sie es mit ihnen aufnehmen können. Doch aus den Felsen lösten sich weitere Tiere, die sich ihnen mit raschen Sätzen näherten.

Er unterdrückte einen Fluch. »Zu spät, Bodo! Die Wölfe sind schneller als wir. Sie würden uns sofort von hinten anfallen!«

Immer wieder stieß sein Schwert vor, und seine Faust blockte einen schweren Körper nach dem anderen ab. Doch die Wölfe trieben die beiden Männer immer mehr in die Enge, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich der Übermacht nicht mehr erwehren konnten. Schon jetzt fühlte Sigurd, wie das Schwert in seiner Hand immer schwerer wurde.

Er spürte die kalte Felswand in seinem Rücken und wartete auf das unweigerlich bevorstehende Ende, als die Wölfe wie durch ein Wunder mit einem Mal innehielten. Ohne ihrer Beute noch weitere Beachtung zu schenken, hetzten sie davon und flohen heulend in eine schmale Schlucht.

Bodo stieß den Atem aus. »Aber … sie weichen zurück?«

Sigurd holte tief Luft, um wieder zu Kräften zu gelangen. »Wir können es nicht gewesen sein, die die Tiere in die Flucht jagten«, stieß er zwischen zwei Atemzügen aus. »Nein, ihr Verschwinden muss eine andere Ursache gehabt haben.«

Er schloss die Augen und achtete auf jedes verdächtige Geräusch. »Horch einmal, Bodo!«, forderte er seinen Freund auf.

Bevor dieser der Aufforderung nachkommen konnte, ließ ein dumpfes Dröhnen die Erde erzittern. Es verschwand kurz und war dann von Neuem zu hören, wurde mit jedem verstreichenden Augenblick lauter.

»Ein Erdbeben!«, entfuhr es Bodo. »Wir müssen sofort weg von hier!«

Sigurd hielt ihn zurück. »Warte! Das ist kein Erdbeben, sondern …« Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er den Schatten erblickte, der sich durch die Schlucht schob. Er türmte sich meterhoch auf, und dann erschallte ein donnerndes Brüllen.

»Um Himmels willen!«, brach es aus Sigurd hervor. »Ein Drache!«

Bodo stöhnte unterdrückt auf.

Sigurd drückte sich eng gegen die Felswand und forderte seinen Freund mit einer Geste auf, es ihm gleichzutun. »Bleib stehen«, raunte er ihm zu. »Vielleicht bemerkt er uns nicht.«

Wie gebannt starrten die beiden Männer auf das riesenhafte Tier, das sich auf seinen säulenartigen Hinterbeinen fortbewegte. Die geschuppte Haut schimmerte in einem dunklen Grün im Sonnenlicht. Jeder der schweren Tritte wurde von einem schleifenden Geräusch begleitet, mit dem der Drache seinen langen Schwanz über den Boden zog und dabei mannsgroße Felsblöcke mühelos zur Seite fegte.

Auf dem kurzen Hals saß ein Schädel, der aus kaum mehr zu bestehen schien als einem gewaltigen Maul. Armlange Reißzähne funkelten jedes Mal bedrohlich auf, wenn der Drache ein Grollen ausstieß.

Er war inzwischen kaum mehr als fünfzig Meter entfernt. Sigurd und Bodo kauerten nun flach liegend am Felsboden und hofften, dass die Steine sie vor den umhersuchenden, rot glühenden Augen verbargen.

Doch ihre Hoffnung war vergebens. Das Maul des Drachen ruckte vor, als hätte er die Witterung von Beute aufgenommen, und er richtete seinen Blick auf die beiden Männer.

Sigurd sprang auf. Es hatte nun keinen Sinn mehr, sich länger versteckt zu halten. »Er hat uns entdeckt! Hoffentlich finden wir eine Felsspalte!«

Bodo taumelte hoch, und Sigurd zog ihn mit sich. »Lauf, wenn dir dein Leben lieb ist!«, rief er seinem Freund zu. Obwohl all seine Glieder schmerzten und ihm der Durst beinahe die Sinne raubte, forderte Sigurd alles von sich ab und rannte vor dem Drachen davon.

Das Untier drehte sich schwerfällig auf der Stelle und stieß ein wütendes Fauchen aus. Der Boden erzitterte bei jedem schweren Tritt, mit denen sich der Drache an die Verfolgung seiner Beute machte.

Sigurd glaubte, den heißen Odem der Bestie bereits in seinem Nacken zu spüren. Der Atem brannte in seinen Lungen, als er endlich eine schmale Nische vor sich im Fels ausmachen konnte.

»Da, die Felsspalte, Bodo!«, stieß er heiser aus. »Dort kann er uns nichts anhaben!«

Sein Freund schwieg und hastete wie er nur einfach weiter auf die Stelle zu. In letzter Sekunde erreichten die Flüchtenden die rettende Höhle.

Steine stürzten herab, als der Drache mit der Wucht seines Körpers gegen die Wand prallte und mit seinen krallenbewehrten Armen nach seiner Beute stieß. Sigurd zog sich in die Höhle zurück und sah, wie Bodo entkräftet auf einen Felsbrocken sank.

»Gott sei Dank«, meinte der blondhaarige Junker. »Hier sind wir vorerst in Sicherheit.«

Der Drache ließ in seiner Gier nach Beute nicht nach. Zornig wühlte das gereizte Ungeheuer den Boden auf, immer wieder zuckten seine Klauen vor. Vergebens versuchte er, seine Opfer zu erreichen.

Sigurd und Bodo zogen sich so weit sie konnten in die Höhle zurück. Ein ums andere Mal entgingen sie nur knapp den gebogenen Krallen, gegen die ihre Rüstung keinen Schutz geboten hätte.

Entschlossen sah der Junker seinen Freund an. »Sobald sich eine Gelegenheit bietet, müssen wir flüchten. Vorhin konnte ich erkennen, wie nicht weit von hier eine schmale Schlucht in den Talkessel mündet. Diese müssen wir erreichen!«

Bodo nickte ihm nur stumm zu. Ihm war der Schrecken über das Geschehene ins Gesicht geschrieben. Zusammen standen sie im Schutz des Höhleneingangs und sahen zu, wie sich das Untier nach einiger Zeit endlich abwandte. Offenbar hatte es kein Interesse mehr an seiner störrischen Beute.

Bodo verlor vor Ungeduld die Beherrschung. Er preschte an Sigurd vorbei ins Freie. »Jetzt ist es so weit!«

»Nein, warte! Der Drache ist uns noch zu nahe!« Sigurd streckte den Arm aus, um seinen Freund aufzuhalten, doch dieser war nicht gewillt, auf ihn zu hören.

»Ach was!«, stieß Bodo aus. »Ich halte es hier nicht mehr aus.« Er rannte gebückt weiter und hielt seinen Blick stets auf den Drachen gerichtet.

Sigurd sah ihm nur entsetzt hinterher.

Der Narr!, schoss es ihm durch den Kopf. Er kann nie die Zeit abwarten … Hoffentlich geht das gut!

Bodo war es tatsächlich gelungen, den Drachen hinter sich zu lassen. Plötzlich aber stolperte er über einen kleinen Felsen und konnte seinen Sturz nur mit größter Mühe abfangen. Dabei lösten sich weitere Steine, die über den Untergrund polterten.

Der Drache wandte sich um und wurde auf den am Boden liegenden Mann aufmerksam. Bodo schrie auf und versuchte dem herannahenden Ungeheuer zu entkommen. Er rollte sich über den Boden und entging damit den Reißzähnen, die knapp an ihm vorbei ins Leere schnappten.

Sigurd zog sein Schwert. Er konnte seinen Freund nicht schutzlos der Gewalt dieser Bestie überlassen – und sollte es sein eigenes Leben kosten! Mit gezückter Klinge eilte er aus der Höhle und musste hilflos mit ansehen, wie es Bodo nur im allerletzten Moment gelang, einem weiteren Angriff zu entgehen.

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