Leseprobe – Tibor – Im Tal der Nandi-Bären


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EINS

Ein sanfter Wind strich über das ockerfarbene Gras der Savanne und fuhr durch die Äste der Akazienbäume, die sich aus der weitläufigen Ebene erhoben. Das Rascheln ihrer Blätter erfüllte die Luft.

Tibor schloss für einen Moment die Augen und genoss den kühlenden Windhauch auf seiner Haut. Er blieb im Schatten der knorrigen Bäume stehen, die den Übergang zum Dschungel bildeten. Hinter sich hörte er leise Schritte im Gras. Er wandte den Kopf und sah Hilda Newman, die aus dem Unterholz trat, dicht gefolgt von Kerak, dem Gorilla, der die Äffchen Pip und Pop auf seinen Schultern trug.

Die Strapazen der vergangenen zwei Wochen waren der jungen Frau deutlich anzusehen. Sie war es nicht gewohnt, sich zu Fuß durch einen unwegsamen Dschungel zu kämpfen, selbst unter Tibors Führung. Dabei hatte sie sich tapfer gehalten, die Zähne zusammengebissen und sich nie darüber beklagt, wenn sie die Nächte auf Matten aus geflochtenen Lianen oder in Baumkronen verbringen mussten.

Dennoch war ihr die Erleichterung anzumerken, als sie nun den Dschungel hinter sich ließ und die Umgebung mit wachem Blick betrachtete.

Eine Elefantenherde zog vorbei, die Jungtiere stets im Schutz ihrer Mütter. Der Leitbulle entdeckte Tibor, hob den Rüssel an und stieß ein freundliches Trompeten aus. Der Sohn des Dschungels hob die Hand und erwiderte den Gruß mit einem lang gestreckten Ruf, der über die Savanne hallte.

Hilda Newman schrak bei dem Schrei, der eher wie der eines Tieres als der eines Menschen klang, für einen Augenblick zusammen und schüttelte über sich selbst den Kopf. Sie hatte den Mann vor sich in den vergangenen Wochen erlebt, wie er von einer Sekunde auf die andere mitten in einem lockeren Plaudern, als säßen sie bei einem geselligen Abend zusammen, in äußerste Konzentration verfiel, die Gegend um sich herum mit Sinnen wahrnahm, die sie eher bei einem Raubtier erwartet hätte als einem Menschen, der wie sie aus der modernen Zivilisation stammte.

Tibor sah sie fragend an. Sie lächelte und winkte ab.

Er wies über die Savanne.

»Hinter der Baumgruppe dort ist einer der über das ganze Gebiet verstreuten Polizeiposten. Sie sind ständig mit zwei Beamten besetzt, die das Wildern unterbinden sollen«, erklärte er.

Sie nickte, ohne darauf zu antworten. In den zurückliegenden Tagen hatte sie viel Zeit gehabt, sich über ihre Zukunft Gedanken zu machen. Selbst wenn Tibor den Beamten nichts von dem erzählen wollte, was bei den O’gogos vorgefallen war, so war sie doch selbst immer wieder hart mit sich ins Gericht gegangen. Sie hatte ihm versprochen, ihre Fehler wiedergutzumachen – und an dieses Versprechen fühlte sie sich umso mehr gebunden, je näher sie der Zivilisation wieder kamen.

Tibor löste sich aus dem Schatten der Dschungelriesen und hielt auf die vereinzelt stehenden Bäume zu. Hilda sowie Kerak, Pipi und Pop schlossen sich ihm an. »Die Beamten werden alle vierzehn Tage mit einem Hubschrauber abgelöst, der auch die Verpflegung bringt. Er wird Sie nach Nairobi mitnehmen«, erklärte er.

Es dauerte nicht lange, bis sie die einfache und doch stabil konstruierte Hütte erreicht hatten. Der Bau war aus Baumstämmen und einem Dach aus getrockneten Gräsern errichtet worden. Er bot gerade einmal den nötigsten Komfort. Nur ein Dieselgenerator sorgte für den Strom, um die wenigen elektrisch betriebenen Einrichtungen zu versorgen.

Eigentlich hätte das beständige Rattern des Generators zu hören sein müssen. Doch rings um die Hütte herrschte Stille.

Tibor blieb stehen. »Hallooo?«, rief er und winkte, um auf sich aufmerksam zu machen. Er wartete, doch keiner der Polizisten trat ins Freie, um die kleine Gruppe zu begrüßen.

Er zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich sind die Beamten auf einem Streifengang. Das kann Stunden dauern. Kommen Sie«, richtete er sich an Hilda, »wir warten in der Hütte auf ihre Rückkehr.«

Tibor ging auf die Tür zu, die von einem Vorhang aus geflochtenen Lianen verdeckt wurde und teilte die Schnüre mit seinen Händen. Er warf einen schnellen Blick ins Innere – und zog die Augenbrauen zusammen.

»Was ist denn hier passiert?«, murmelte er.

»Was ist?«, fragte Hilda Newman in seinem Rücken. Er antwortete ihr nicht direkt, sondern trat ein, wobei er sich misstrauisch nach allen Seiten umsah. Die junge Frau folgte ihm.

»Das Funkgerät«, sagte er und wies auf das kastenförmige Gerät, das auf einem wuchtigen Schreibtisch stand. »Es ist zerstört!«

Hilda öffnete überrascht den Mund. Die Abdeckung des Geräts war eingeschlagen worden. Kabel hingen ins Freie. »Was hat das zu bedeuten?«

»Bestimmt nichts Gutes«, erwiderte Tibor mit verschlossener Miene. Er sah sie eindringlich an. »Bleiben Sie in der Hütte. Ich suche nach den beiden Polizisten.«

Sie antwortete nicht darauf und umfasste die Schultern mit den Händen. Ihr fröstelte, als streiche ein kalter Wind um ihren Körper.

Tibor trat ins Freie.

»Ich habe gehört, du suchst die Zweibeiner«, brummte Kerak und wies ihm mit einer Geste an, ihm zu folgen.

»Hast du ihre Spuren schon gefunden?«, fragte der Sohn des Dschungels und untersuchte den Boden rings um die Hütte.

»Ja, aber auch noch eine andere …«, erwiderte der Gorilla und strich mit seiner Pranke über das Gras. Tibor beugte sich hinab und stützte sich an der Schulter seines Freundes ab. Pip und Pop tanzten wenige Meter vor ihnen aufgeregt über den Boden und suchten nach weiteren Abdrücken.

»Der Mann, der diese Spur hinterlassen hat, ist nach den Beamten in der Hütte gewesen«, stellte Tibor fest. Es war ein anderes Sohlenprofil als das, das von zwei Paar Schuhen überall um die Hütte herum auf dem lehmigen Boden zu erkennen war.

»Wahrscheinlich war er es, der das Funkgerät zerstörte«, sprach Tibor seine Überlegungen aus.

»Welchen Spuren wollen wir folgen?«, fragte Kerak.

»Wir suchen erst die Posten« erklärte Tibor und wies in die Richtung, in die sich die Spuren von der Hütte entfernten.

*

Als Tibor, Kerak, Pip und Pop der Fährte folgend an einer von dichtem Unterholz umgebenden Baumgruppe vorbeigingen, waren sie so sehr in ihre Suche vertieft, dass sie überhaupt nicht mitbekamen, wie sie von hasserfüllten, blutunterlaufenen Augen beobachtet wurden.

Ein verhaltenes Schnauben löste sich aus den Nüstern. Unruhig scharrte der Büffel mit einem Huf, als sei er für einen Augenblick lang noch unschlüssig. Doch dann spannte er seine Muskeln an und stob mit gesenktem Kopf auf die Gruppe zu.

Es war nur ein leichtes Zittern im Boden, das Tibor wahrnahm. Dennoch hob er den Kopf, um sich umzusehen – und entdeckte den Büffel, der direkt auf sie zupreschte.

»Er greift uns an!«, rief Kerak. Pip und Pop hüpften auf die Schulter des Gorillas, der mit einem Satz zur Seite sprang.

Tibor hob beide Arme, um den Büffel aufzufordern, stehenzubleiben.

»Halt!«, schallte sein Ruf über die Savanne. »Ich bin Tibor, der Herr des Dschungels und Freund aller Tiere!«

Doch zu seinem Erstaunen musste er feststellen, dass das wuchtige Tier gar nicht daran dachte, auf ihn zu hören. Es beschleunigte stattdessen seinen Schritt und hielt auf ihn zu. Gerade noch im letzten Augenblick konnte Tibor dem mörderischen Gehörn entgehen und rettete sich mit einem Sprung ins dichte Gras.

Der Büffel brüllte wütend, doch anstatt in seinem Lauf innezuhalten, stürzte er sich nun auf Kerak, der auf seinen langen Armen durchs Gras hastete. Auf der offenen Ebene war der Büffel jedoch deutlich schneller als er und verkürzte den Abstand mit jedem verstreichenden Moment.

Tibor hetzte dem wütenden Tier hinterher. Nur noch wenige Meter trennten es von Kerak, als er den Schwanz des Büffels zu packen bekam und gleichzeitig an ihm riss und ihn verdrehte. Der Bulle brüllte vor Schmerz auf rammte seine Hufe in den Boden. Erdbrocken spritzen empor und Staub wolkte auf. Er ließ von Kerak ab und wirbelte herum, um sich seinem Peiniger zuzuwenden.

Doch da war Tibor bereits auf seinen Rücken gesprungen. Mit der Linken packte er den Büffel beim Nacken, während er mit der Rechten das Messer aus seinem Gürtel riss und an die offen liegende Stelle zwischen Hals und Brust legte.

»Fühlst du die scharfe Spitze auf deiner Haut?«, presste er hervor. »Gib auf, sonst stoße ich dir mein Messer ins Herz!«

Mehrere Sekunden lang warf der Büffel den Kopf von einer Seite zur anderen und tänzelte auf der Stelle, als spiele er mit dem Gedanken, seinen Gegner abzuwerfen. Tibor jedoch verstärkte seinen Griff und drückte die Klinge in die Haut des Tieres. Er hatte nicht vor, zuzustoßen, doch er würde keinen Augenblick zögern, das Leben seiner Freunde zu retten!

»Ich … ich gebe auf«, schnaubte der Büffel schließlich und senkte den Kopf. Sein Atem ging schwer, und die Flanken zitterten.

Die Anspannung ließ von Tibor ab. Er klopfte dem Tier beruhigend auf die Seite und richtete sich auf. Da entdeckte er die dunkel gefärbte Stelle am Rücken des Büffels, die feucht schimmerte.

»Du bist ja verwundet!«, stieß Tibor aus. Er untersuchte die Wunde so vorsichtig er konnte. Dennoch zuckte der Büffel mehrmals zusammen und stieß gequälte Laute aus. »Eine Schussverletzung«, stellte Tibor fest. »Sie ist entzündet. Die Kugel steckt noch unter deiner Haut. Deshalb also … der Schmerz muss dich wahnsinnig gemacht haben!«

Er stieg von der Schulter des Büffels, der sich als Bako vorstellte.

»Ein weißer Zweibeiner war es«, berichtete das Tier, aus dessen Augen nun alle Wut gewichen war. »Verzeih, dass ich dich und deinen Freund angegriffen war … ich war blind vor Hass auf alle Zweibeiner.«

Tibor presste die Lippen aufeinander und musste nicht lange überlegen.

»Wenn du möchtest, helfe ich dir. Es wird einen Augenblick sehr schmerzen, aber dann habe ich die Kugel aus deinem Körper geholt und die Wunde kann heilen.«

Die dunklen Augen des Büffels musterten Tibor eindringlich. »Ich vertraue dir«, antwortete Bako schließlich.

»Lauf in die Hütte zurück«, wandte sich Tibor an Kerak, »und hole den Kasten, auf den ein rotes Kreuz gemalt ist.«

Der Gorilla bestätigte und preschte mit schnellen Sätzen davon. Es vergingen nur wenige Minuten, bis er mit dem Verbandskasten in seiner Pranke zurückkehrte. Tibor nahm ihn entgegen und untersuchte den Inhalt. Wie erwartet, enthielt er alles, was er benötigte, um die Wunde zu versorgen.

Er trat an Bako heran und sprach noch einmal beruhigend auf ihn ein, um ihm zu erklären, was er nun machen werde. Das schmerzerfüllte Brüllen des Büffels hallte über die Savanne, als Tibor gezwungen war, die robuste Haut aufzuschneiden, um die Kugel zu bergen. Dennoch ließ Bako die Prozedur über sich ergehen, ohne davonzustieben oder sich auf Tibor zu stürzen.

Tibor atmete erleichtert auf, als er das längliche Metallstück endlich zwischen seinen Fingern hielt. Er zeigte es dem Büffel. »Du warst tapfer«, sprach er mit ruhiger Stimme auf ihn ein. »Das hier ist die Kugel.«

Bako stieß ein verhaltenes Schnauben aus.

»Nun desinfiziere ich die Wunde noch«, erklärte Tibor. »Das wird etwas brennen, aber dann kann sie heilen.« Auch dieses Mal hielt der Büffel still, auch wenn ihm deutlich anzumerken war, wie viel Überwindung es ihn kostete, den Eingriff über sich ergehen zu lassen.

»Vermeide bitte die nächsten Tage, dich im Staub zu wälzen«, erklärte Tibor zum Abschluss und verstaute das Fläschchen mit dem Jod wieder im Verbandskasten.

»Danke, Tibor«, antwortete Bako. »Vielleicht kann ich auch dir helfen«, fügte er nach einem Augenblick an. »Wenn du die beiden Zweibeiner suchst, die in der Hütte gewohnt haben … ich kann dich zu ihnen führen.«

Tibor kniff die Augen zusammen. »›Gewohnt haben‹?«, echote er. »Wie soll ich das verstehen?«

Der Büffel hob den schweren Kopf und wies auf das Unterholz.

»Sie liegen auf der anderen Seite des Busches. Sie sind tot.«

Tibors Blut gefror bei diesen Worten zu Eis. »Großer Himmel!«, stieß er aus. »Hast du sie …?«

»Nein!«, erwiderte Bako vehement und schnaubte. »Sie wollten den weißen Zweibeiner fangen, der mich angeschossen hatte. Sie sind von ihm umgebracht worden.«

Tibor konnte nicht glauben, was er soeben gehört hatte. Bisher war er davon ausgegangen, die beiden Polizisten auf einem Patrouillengang irgendwo in der Savanne zu finden. Auch wenn das Funkgerät zerstört worden war, hatte es für ihn bisher keinen Anlass gegeben, vom Schlimmsten auszugehen.

Er folgte dem Büffel, der mit sicheren Schritten auf eine bestimmte Stelle im Unterholz zutrabte.

»Dort hinter dem Busch«, erklärte Bako. »Da liegen sie.«

Tibor zögerte einen Augenblick, bevor er die Zweige beiseiteschob. Als er die beiden leblosen Männer in ihrer Uniform erblickte, schloss er für einen Moment die Augen. Er kniete neben den Dschungelpolizisten und untersuchte sie. Die Wunden in ihrem Rücken ließen keinen Zweifel zu.

»Ich hatte gehofft …«, setzte er an und stockte. Sein Mund war trocken. »Du hattest leider recht, Bako. Sie sind beide tot. Hinterrücks erschossen.«

»Der weiße Zweibeiner, der das getan hat, ist mit zwei dunkelhäutigen Gefährten danach zum Fluss gegangen«, erklärte der Büffel. Er senkte den Kopf, als sei ihm selbst unwohl dabei, Tibor diese Nachricht überbracht zu haben. »Ich bin ihnen nach, wütend vor Schmerz. Dort habe ich ihre Spur verloren. Ich war entkräftet und konnte sie nicht länger verfolgen.«

Tibor nickte nur. Seine Augen brannten beim Anblick der beiden Getöteten.

»Leb wohl«, fügte Bako zögernd an. »Ich möchte nun meiner Herde folgen. Dir danke ich für das, was du für mich getan hast!«

Tibor wandte den Kopf. »Leb wohl«, verabschiedete er sich von dem Büffel, der zuerst langsam, dann mit immer schnelleren Schritten über die Savanne preschte.

Tibor sah ihm nach und richtete sich dann an Kerak. »Komm«, bat er seinen Freund, »wir tragen die beiden Unglücklichen in die Hütte.«

 

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