Leseprobe – Tibor – Verrat im Dschungel


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EINS

 

Tibor verfolgte, wie Professor Lambertin über die Savanne auf die Polizeistation zuschritt. Wie versprochen wachte er über die beiden Käfige, die vom Unterholz geschützt im Schatten der Bäume standen. Hinter den hölzernen Gitterstäben konnte er die beiden jungen Nandi-Bären beobachten, die die ungewohnte Umgebung aufmerksam betrachteten und immer wieder leise Laute ausstießen.

Nach den entbehrungsreichen Wochen auf der Suche nach den legendären Tieren war er froh, wieder in seinen Dschungel zurückzukehren. Er atmete befreit auf und nahm die vertrauten Geräusche und Eindrücke in sich auf.

Neben ihm hielt Kerak Wache und achtete darauf, dass sich kein vorwitziges Raubtier den Bärenjungen näherte. Am Keckern und Rascheln über ihm konnte er hören, wie Pip und Pop rastlos in den Ästen umherturnten.

Es verging eine gute halbe Stunde, bevor sich das Tor der Station öffnete und ein Lastwagen direkt auf seinen Standort zuhielt. Auf dem offenen Aufbau konnte er über ein halbes Dutzend bewaffneter Polizisten ausmachen. Tibor lächelte. Offenbar hatte der Professor mit gewohnter Vehemenz den Einsatz von ausreichend Männern gefordert.

Eine Staubwolke hinter sich herziehend, erreichte der Lastwagen die äußersten Ausläufer des Dschungels und kam mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Sofort sprangen die Männer vom Heck.

Tibor konnte den Professor nicht unter ihnen ausmachen. Vielleicht hatte Major Bradstone ihn gebeten, sich nach den Strapazen der letzten Wochen in der Station auszuruhen. Dafür verfolgte er, wie der Major selbst aus dem Fahrerhaus stieg und die Männer mit knappen und präzisen Befehlen anleitete.

Es vergingen nur Minuten, bis die beiden Käfige im Heck des Lastwagens verstaut waren. Tibor nickte zufrieden und erhob sich. Als hätten sie nur auf dieses Zeichen gewartet, huschten Pip und Pop über die Äste und hüpften auf Keraks Schultern.

»Das wäre überstanden«, meinte Tibor zu seinen Freunden. »Lasst uns gehen. In ein paar Tagen sind wir wieder zu Hause!« Er griff nach einer Liane, als ihn ein Ruf in der Bewegung verharren ließ.

»Tibor! Tibooor! Sind Sie noch hier? Warten Sie!«

Das war unverkennbar Major Bradstones Stimme. Er runzelte die Stirn. Was wollte der Kommandant der Polizeistation von ihm? Kerak warf ihm einen Blick zu und grunzte unwillig.

»Tibor, hören Sie mich? Ich muss Sie sprechen. Es ist sehr wichtig!«, rief der Major ein weiteres Mal.

Tibor kannte den altgedienten Offizier schon seit Jahren und wusste, dass sich dieser nur dann mit solch einer Dringlichkeit an ihn wandte, wenn es wirklich wichtig war.

»Wartet hier«, sagte er zu seinen Freunden und griff nach einer weiteren Liane, mit der er sich zurückschwingen konnte.

»Oh je«, stieß Pop aus. »Ich fürchte, es wird noch eine Weile dauern, bis wir wieder in unserem Dschungel sind …«

Tibor lächelte. »Ich lasse mich nicht aufhalten, Freunde!«

Mit diesen Worten schwang er sich durch die Luft und erreichte die offene Lichtung, an der Major Bradstone auf ihn wartete. Der Offizier wirkte sichtlich erleichtert, als er ihn erblickte.

»Gottseidank! Ich fürchtete schon …«

»Ich wollte nicht unhöflich sein«, antwortete Tibor, noch bevor er auf dem Boden aufkam. »Sie wissen ja, dass ich mich in zivilisierter Umgebung nicht mehr sehr wohl fühle. Was gibt es, Major?«

Er ging auf den älteren Mann zu und reichte ihm die Hand.

»Sie glauben nicht, wie sehr ich mich freue, Sie erwischt zu haben!«, erwiderte Bradstone und schlug ein. »Seit Wochen versuche ich, mich über die Außenposten mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Nur Sie können mir helfen!«

Tibor sah ihn erstaunt an.

Der Major legte ihm die Hand auf den Rücken und wies mit der anderen auf das Unterholz. »Kommen Sie. Wir gehen noch etwas tiefer in den Busch. Niemand darf etwas von diesem Gespräch erfahren.«

Tibor bedachte ihn mit einem nachdenklichen Blick. »Das hört sich ja sehr geheimnisvoll an.«

Bradstone sah sich um. »Wo sind Ihre Affen? Ich möchte, dass sie aufpassen.« Sein Blick ging suchend umher. »Damit wir nicht belauscht werden«, fügte er an.

Tibor konnte sich auf das Verhalten des Offiziers keinen Reim machen. Dennoch legte er eine Hand an den Mund.

»Kerak, Pip und Pop, kommt her!«

Nur wenige Augenblicke darauf landete der Gorilla mit den beiden Äffchen auf seinen Schultern auf der Lichtung. Tibor bat sie, sich zu verbergen und die Umgebung im Auge zu behalten, dann nahm er zusammen mit dem Major im Schutz von mehreren dicht beieinander stehenden Bäumen auf einer Wurzel Platz.

»Jetzt dürfen Sie unbesorgt sprechen«, richtete er sich an den Offizier. »Niemand kann sich unbemerkt nähern.«

Bradstone warf einen schnellen Blick über seine Schulter, bevor er nickte. »Gut«, antwortete er und atmete tief durch.

 

*

 

Kerak streifte durchs Gebüsch. Seine Augen sahen sich aufmerksam um, und seine Nase witterte nach jedem unbekannten Geruch. Pip und Pop turnten über ihm durch die Bäume und konnten auf diese Weise einen größeren Bereich im Blick behalten. Sollten sie etwas Verdächtiges wahrnehmen, würden sie ihn umgehend warnen.

Kerak schob den Unterkiefer vor. Immer, wenn dieser alte Zweibeiner etwas von Tibor wollte, dann lag Gefahr in der Luft. Wären sie doch nur schneller verschwunden …

Er hing dem Gedanken noch nach, als er nur wenige Meter vor sich eine Bewegung im hohen Gras gewahrte. Es war keine Raubkatze, dessen war er sich sofort bewusst. Wer immer dort durchs Gras schlich, verursachte durch seine Bewegungen viel zu viel Aufmerksamkeit. Und nur einen Augenblick später sah er einen Zweibeiner, der ganz ähnlich gekleidet war wie der, mit dem Tibor sprach.

Er schnaubte.

Na warte, Freundchen …

Der Zweibeiner kroch auf allen Vieren durch das Unterholz. Dabei achtete er darauf, so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Kerak musste selbst aufpassen, dass er keinen Zweig unter seinen Pfoten zertrat, um sich nicht zu verraten. Schritt für Schritt kam er im Rücken des Zweibeiners näher.

Der Gorilla verfolgte, wie der Zweibeiner auf die Stimmen von Tibor und dem anderen Zweibeiner zuhielt, die verhalten zu ihm durchdrangen.

Er beschloss zu handeln. Mit einem Satz sprang er durch die Luft, stieß ein dumpfes Grollen aus und riss eine Pranke hoch. Er packte den Kopf des Zweibeiners und drückte ihn fest in das Erdreich.

Der Zweibeiner schrie unterdrückt auf. Kerak packte ihn am Kragen seines Hemdes und hob ihm mühelos an. Kreischend zappelte der Zweibeiner in der Umklammerung. Aus seinen Fingern löste sich ein Revolver, der mit einem dumpfen Geräusch auf dem Erdboden landete.

 

*

 

Tibor erkannte das Grollen auf Anhieb. Dann hörte er den Schrei. Auch der Major fuhr herum.

»Kerak hat jemanden erwischt!«, stieß der Sohn des Dschungels aus und sprang auf. »Schnell!«, rief er Bradstone zu. »Am Wagen hat man die Hilferufe sicher auch gehört. Ich möchte nicht …«

Er ließ den Satz unvollendet und hastete durch das Dickicht. Und seine Befürchtungen bewahrheiteten sich. In dem Augenblick, in dem er die Stelle erreichte, an der Kerak einen Mann in Polizeiuniform fest in seiner Umklammerung hielt, brachen auf der anderen Seite der Lichtung zwei Männer durch das Unterholz.

»Schießt, schießt!«, kreischte der Mann in Keraks Griff. »Das Untier bringt mich um!«

Die beiden Männer, die unverkennbar auch der Dschungelpolizei angehörten, zögerten keine Sekunden und nahmen ihre Repetiergewehre in Anschlag. Sie zielten direkt auf den Gorilla.

»Halt!«, rief Tibor ihnen zu und winkte mit einer Hand.

Die Polizisten zögerten einen Augenblick, und Tibor hatte nicht vor, die Zeit ungenutzt verstreichen zu lassen. »Hierher, Kerak!«, forderte er seinen Freund mit eindringlicher Stimme auf. »Und lass den Zweibeiner los!«

Major Bradstone erreichte die Lichtung und stellte sich zwischen den Gorilla und die beiden Polizisten. Er musste nach dem anstrengenden Spurt nach Atem ringen.

»Sie können mit den übrigen Männern in die Station zurückkehren«, erklärte er zwischen zwei Atemzügen. »Es ist alles in Ordnung!«

Die Blicke der Polizisten gingen zwischen ihrem Vorgesetzten und dem Gorilla, der den Mann losließ, hin und her.

»Aber …«, setzte einer von ihnen zu einer Erwiderung an.

Bradstone winkte ab. »Gehen Sie«, ordnete er an. »Ich komme später nach.«

Die beiden Männer waren sichtlich verblüfft, doch sie folgten der Anordnung und gingen zum Lastwagen zurück. Der Mann, den Kerak ertappt hatte, hob seinen Revolver vom Boden auf und wollte sich ihnen anschließen.

»Halt! Sie nicht, Sergeant Byrne!«, rief der Major.

»Ich … ich verstehe nicht …«, stammelte der Angesprochene und fuchtelte mit den Armen herum. »Ich muss ins Lazarett. Der Schock …«

Bradstone stemmte die Hände in die Hüften. »Halten Sie die Luft an, Mann!«, fuhr er ihn an. »Warum spionieren Sie hinter mir her?«

Sergeant Byrne nahm unwillkürlich Haltung an und schluckte. »Ich hatte nicht spioniert, Sir. Ich protestiere! Ich bin Ihnen gefolgt, weil ich in Sorge um Sie war! Plötzlich sprang mich dieses Untier an …« Er wies anklagend auf Kerak.

Der Major musterte ihn mit einem strengen Blick.

»Gehen Sie, Sergeant!«, forderte er ihn schließlich auf und sah dem Unteroffizier nach, bis er zwischen den Farnbüscheln verschwunden war.

»Ich würde viel darum geben, wenn ich erfahren könnte, ob Sergeant Byrne die Wahrheit gesagt hat«, richtete er sich an Tibor und seufzte.

»Das lässt sich leicht feststellen, Sir«, antwortete dieser. Er wandte sich zu Kerak um, auf dessen Schultern inzwischen wieder Pip und Pop saßen. »Wie hat sich der Zweibeiner verhalten, bevor du ihn angesprungen hast? Ging er wie jemand durchs Unterholz, der einen Gefährten sucht?«

»Nein, Tibor«, erwiderte der Gorilla. »Jemand, der nach einem Gefährten Ausschau hält, geht aufrecht und macht sich bemerkbar. Der Zweibeiner aber schlich fast lautlos am Boden entlang und wollte sich anpirschen.«

Tibor dankte ihm und sah Major Bradstone mit ernster Miene an.

»Kerak ist davon überzeugt, dass Byrne sich an uns heranschleichen wollte, Sir.«

Dieser nickte. »Also doch! Nur schade, dass die ›Aussage‹ eines Affen keine Beweiskraft hat, sonst würde ich Byrne so einheizen, dass er mit der Wahrheit herausrückt! Na, jedenfalls weiß ich jetzt, woran ich mit diesem Mann bin. Ich werde ihn im Auge behalten!«

»Bitte, wollen Sie mir endlich sagen, warum Sie mich gerufen haben?«, drängte Tibor.

Der Major sah ihn an und bedeutete ihm, in den Schatten eines Baumes zu kommen.

»Selbstverständlich. Und nun dürften wir ja tatsächlich unter uns sein.« Er strich sich übers Kinn. »Ich weiß nicht, ob Sie es schon wissen, da Sie schließlich tief im Dschungel leben … dieses Land ist vor einigen Monaten unabhängig und ein souveräner Staat geworden, der jedoch im Commonwealth verbleibt.«

Tibor war von dieser Mitteilung tatsächlich überrascht und hörte aufmerksam zu.

»Unsere Polizeitruppe untersteht für den Augenblick der neu gebildeten Regierung, die ich voll unterstütze«, erklärte Bradstone und hielt dann inne. »Leider sind einige Stammeshäuptlinge im Landesinneren nicht mit der gemäßigten Politik in Nairobi einverstanden. Sie stellen sich bewaffnet gegen die Regierung …«

»Ich verstehe«, warf Tibor ein. »Es sind also bürgerkriegsähnliche Zustände ausgebrochen, wie leider in vielen dieser jungen afrikanischen Staaten. Das ist bedauerlich, aber was habe ich damit zu tun? Wie könnte ich als Einzelner Ihnen in dieser Situation helfen?«

Bradstone schüttelte den Kopf. »Damit zu tun haben Sie nichts, das ist richtig. Aber helfen können Sie mir …« Er sah ihn eindringlich an. »Nur Sie können es!«

»Wie soll ich das verstehen?«, hakte Tibor nach.

Der Major suchte für einen Moment nach Worten. »Also … ein Flugzeug, das zur Hauptstadt unterwegs war, wurde über dem Gebiet der Aufständischen abgeschossen. Es hatte wichtiges Beweismaterial gegen einige Regierungsmitglieder an Bord, die in Verdacht stehen, die Aufständischen zu unterstützen. Dieses Beweismaterial kann nicht ein zweites Mal gesammelt werden, weil wir aus zuverlässiger Quelle wissen, dass die Verdächtigen in der Zwischenzeit gewarnt wurden.«

Er hielt inne und stieß den Atem aus. »Wenn es jemandem gelingen kann, das Material zu bergen und durch das Aufstandsgebiet zu bringen, dann sind Sie es, Tibor!«

Dieser machte eine abwehrende Geste. »Du lieber Himmel! Wahrscheinlich existiert das Material gar nicht mehr, Sir. Entweder wurde es beim Absturz der Maschine vernichtet oder es ist längst in den Händen der Anführer des Aufstandes.«

Bradstone schüttelte vehement den Kopf. »Irrtum. Der Pilot der Maschine sprang mit dem Fallschirm ab. Er sah, wie sie mitten im dicht bewaldeten Urwald in einen See stürzte, der seiner Schätzung nach ziemlich tief ist. Da sich die Dokumente in einer feuerfesten und wasserdichten Kassette befinden, müssen sie noch im Wrack auf dem Grund des Sees liegen. Ohne entsprechende Ausrüstung kann man sie nicht so einfach bergen.«

»Woher wissen Sie eigentlich, wo die Maschine abgestürzt ist?«, fragte Tibor nach.

»Der Pilot konnte sich durchschlagen«, erklärte Bradstone. »Wir halten ihn an einem sicheren Ort verborgen, da er der Einzige ist, der den See wiederfinden kann. Er wird Sie führen … das heißt, wenn Sie meine Bitte um Ihre Mithilfe nicht abschlagen.«

Tibor überlegte, bevor er bedächtig nickte. »Gut, ich bin dabei.«

Der Major atmete auf und reichte ihm die Hand. »Gottseidank!«, stieß er aus. »Mit dem Material in Händen kann die Regierung gegen die Hintermänner der Aufständischen vorgehen. Dann wird das sinnlose Gemetzel bald aufhören!«

Er wirkte jetzt sichtlich gelöster. »Passen Sie auf, in zwei Tagen holt Sie ein Hubschrauber an Polizeiposten Vier ab. Sie wissen ja, wo sich dieser befindet. Leutnant Parker, das ist der Pilot der abgestürzten Maschine, wird an Bord sein.«

»Bleibt er während des ›Unternehmens‹ bei mir oder zeigt er mir den See nur aus der Luft?«, wollten Tibor wissen.

»Er bleibt bei Ihnen«, gab der Major zur Antwort. »Es könnte sein, dass das Wrack tiefer liegt als Sie mit der Aqualunge tauchen können. Wenn Sie mit dem schweren Gerät hinab müssen, brauchen Sie Hilfe an der Pumpe.«

»Ich verstehe«, entgegnete Tibor.

Die beiden Männer gaben sich zum Abschied die Hand. Nachdenklich sah Tibor dem Major nach, wie dieser zum Polizeiposten zurückging.

 

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