Leseprobe – Tibor – Expedition in die Urzeit


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EINS

Hinter den toten Sümpfen zeichneten sich die sanft geschwungenen Hänge einer Hügelkette ab. Zwei Bergkegel erhoben sich darüber, aus denen Rauchfahnen in den wolkenlosen blauen Himmel stiegen. Tibors Blick glitt über die brackige Oberfläche des trügerischen Sumpfgeländes. Ein dreitägiger Marsch lag hinter dem Sohn des Dschungels und seinen Begleitern. Tibor und Kerak hatten den Paläontologen Professor Dobbs und seine Assistentin Miss Hudson an den Rand der toten Sümpfe geführt. Auf Tibors Schultern hockten die Äffchen Pip und Pop, Kerak trug das Gepäck der beiden Forscher. Nun ging es jedoch zu Fuß nicht weiter.

»Ich hoffe, Sie sind sich darüber im Klaren, dass das vor uns liegende Unternehmen nicht ungefährlich wird«, warnte Tibor die beiden Forscher. »Bis auf wenige Ausnahmen gehorchen die Tiere des Dschungels mir aufs Wort. Hinter den Sümpfen sieht das anders aus. Über die Saurier habe ich keine Macht.«

Dobbs winkte ab. »So gefährlich wird es schon nicht sein. Bangemachen gilt jedenfalls nicht. Wir sind nicht bis hierher vorgedrungen, um vor dem entscheidenden Schritt umzukehren. Ich bezweifle sowieso, dass dazu Anlass besteht. Die Urweltforschung hat ergeben, dass der Schädelraum von Sauriern ausgesprochen klein ist. Das Gehirn dieser Tiere muss daher im Vergleich zu anderen Spezies stark unterentwickelt sein. Die Reaktionsfähigkeit mancher Arten ist so langsam, dass sie, bildlich gesprochen, schon halb aufgefressen sind, bevor sie überhaupt merken, was geschieht.«

»Das mag für einige Pflanzenfresser zutreffen«, räumte Tibor ein. »Aber die Raubarten unter den Sauriern reagieren verteufelt schnell. Ich habe es bei verschiedenen Begegnungen mit dem Tyrannosaurus rex zu meinem Schrecken selbst erfahren.«

»Sogar diese Tiere existieren noch? Das ist fantastisch! Ich kann es kaum erwarten, sie zu sehen.«

Ein Lächeln grub sich in Dobbs’ Mundwinkel. Es schien nichts zu geben, was den Forscher in seinem Enthusiasmus bremsen konnte. Seine Beharrlichkeit beeindruckte Tibor. Allerdings schien der schwarzhaarige Mann mit dem Vollbart, dem Oberlippenbart und der schmalen Brille – das Aussehen eines typischen Gelehrten – ein wenig blauäugig zu sein. Er ließ sich mehr von seinem Herzen als von seinem Verstand leiten. Und Miss Hudson stand ihrem Chef an Begeisterungsfähigkeit kaum nach.

»Wie durchqueren wir den Sumpf?«, fragte die junge Frau, die das lange blonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden trug.

»Wir durchqueren ihn nicht, wir überqueren ihn«, verbesserte Tibor. »Einen Weg durch den Sumpf zu suchen wäre viel zu gefährlich. Wir gelangen durch die Luft ans andere Ufer.«

»Und wie?«, fragte der Professor. »Wollen Sie etwa über den Sumpf hinwegfliegen?«

»Das Fliegen überlassen wir anderen«, eröffnete der Sohn des Dschungels. »Wir lassen uns auf die andere Seite tragen.«

Er ließ seinen weithin zu vernehmenden Urwaldschrei erklingen. Danach zückte er sein Messer und schnitt mehrere Bündel Lianen ab, die er zu reißfesten Seilen zusammenknüpfte. Es dauerte nicht lange, bis sich ein Schwarm Adler näherte. Der Flügelschlag ihrer mächtigen Schwingen versetzte das Blattwerk der Bäume in Aufruhr. Sie landeten unweit des morastigen Sumpfufers. Tibor begrüßte seine Freunde in der Sprache der Tiere. Sofort gingen sie auf seine Bitte ein, ihn und seine Begleiter sicher über den Sumpf zu tragen.

Menschen und Affen banden sich die Seile um den Leib. Auch das Gepäck wurde befestigt und die Adler ergriffen die Lianen mit ihren Klauen. Pip und Pop schnatterten aufgeregt, als die Könige der Lüfte sich vom Boden erhoben. Professor Dobbs und Miss Hudson gaben keinen Kommentar ab. Tibor merkte den Forschern aber an, dass ihnen nicht ganz wohl in ihrer Haut war.

Bald waren alle in der Luft. Unter den Expeditionsteilnehmern flogen die toten Sümpfe dahin. Von oben sahen sie besonders bedrohlich aus. An manchen Stellen brodelte die düstere Brühe, Blasen stiegen an die Oberfläche und zerplatzten schmatzend. Der Sumpf schien ein unheimliches Eigenleben zu besitzen. Die Adler beeindruckte das nicht. Majestätisch glitten sie mit ihrer menschlichen Last dahin.

Sicher erreichten die Gefährten das andere Ufer, wo sie von den Adlern abgesetzt wurden. Tibor bedankte sich bei den Tieren, die sich daraufhin auf den Rückweg in bekanntes Gebiet machten. Vor der Expedition lag hingegen unerforschtes Land. Dobbs störte das nicht. Er konnte es kaum erwarten, endlich aufzubrechen, um die ersten Saurier zu Gesicht zu bekommen.

Tibor setzte sich an die Spitze der Gruppe, Kerak bildete den Abschluss. Beim Eindringen in den unbekannten Landstrich machten es die kleinen Äffchen sich wieder auf Tibors Schultern bequem.

Andere Tiere begegneten ihnen nicht. Die von Dobbs so sehnsüchtig herbeigesehnten Saurier ließen sich nicht blicken. Der Rest des Tages verging ohne besondere Vorkommnisse.

Stunden später kam die Zeit für eine Rast, denn allmählich neigte sich der Tag dem Ende entgegen. Tibor hielt Ausschau nach einem geeigneten Lagerplatz für die Nacht. Ein aus dem Dschungeldickicht aufragender Felsenhügel kam ihm wie gerufen.

»Wir klettern hinauf«, entschied er. »Oben schlagen wir unser Lager auf. Da sind wir vor unangenehmen Überraschungen sicher.«

Sie machten sich an die Kletterpartie. Die Affen turnten vorneweg und Tibor half den Forschern beim Aufstieg. Von oben hatten sie einen hervorragenden Ausblick. Dobbs’ Augen weiteten sich.

»Sehen Sie nur, Miss Hudson, äsende Dinosaurier! Geben Sie mir bitte das Fernglas aus dem Gepäck!«

»Helfen Sie mir lieber, die Zelte aufzuschlagen, Professor«, schritt der Sohn des Dschungels ein. »Ich verstehe Ihre Freude, aber Sie haben in den kommenden Wochen noch Zeit genug, die Tiere zu studieren. Es wird gleich dunkel. Wenn die Zelte bis dahin nicht stehen, müssen Sie und Miss Hudson unter freiem Himmel übernachten.«

Dobbs zügelte seinen Forscherdrang und ging Tibor zur Hand. Der Sohn des Dschungels hatte nicht von ungefähr zur Eile gedrängt. Die Zelte standen kaum, als sich die Nacht über das Lager legte. Alle begaben sich zur Ruhe. Tibor legte die Arme unter den Kopf und schlief augenblicklich ein.

*

»Wacht auf, ihr Schlafmützen!«

Eine laute Stimme weckte den Sohn des Dschungels. Als er sich aufrichtete und aus dem Zelt blickte, war Dobbs bereits auf den Beinen. Der Forscher gestikulierte mit den Armen.

»Guten Morgen, Professor. Sie sind schon wach?«, wunderte sich Tibor. »Die Sonne ist kaum aufgegangen.«

»Ich habe vor Aufregung kaum geschlafen, also konnte ich auch aufstehen. Die Saurier warten auf uns.«

Tibor stieg auf die Füße. »Vor allem wartet ein erfrischendes Bad auf uns und anschließend ein kräftiges Frühstück. Danach können wir uns Ihren Lieblingen widmen.«

»Ja, Sie haben recht. Ich hole etwas von unseren Vorräten.« Dobbs stapfte zwischen den Zelten hindurch. Gleich darauf drehte er sich ungläubig um. »Das gibt es doch nicht – unsere Lebensmittel sind verschwunden!«

Sofort war Tibor bei ihm, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen. »Tatsächlich! Jemand hat sie gestohlen, während wir schliefen. Kerak, wart ihr das?«

»Wir sind ganz unschuldig!«, riefen die drei Affen wie aus einem Mund.

Inzwischen war auch Miss Hudson aus ihrem Zelt gekommen. »Wie ich höre, wird es nichts mit dem Frühstück?«

»Keine Angst, wir werden schon nicht verhungern. Ich schicke Kerak los.« Tibor wandte sich an den Gorilla. »Kümmere dich um etwas Essbares.«

»Gerne. Aber ich frage mich, wer uns bestohlen hat. Wer konnte sich so leise anschleichen, dass wir nicht aufgewacht sind?«

Das hätte Tibor auch gerne gewusst. »Ich versuche es herauszufinden, während du uns Früchte holst.«

»Gut, ich beeile mich.«

»Aber wir bleiben hier!« Pip und Pop sprangen von Keraks Schultern. »Wir helfen dir bei der Suche nach Spuren.«

»Einverstanden. Bleiben Sie bitte hier oben, bis ich zurückkehre«, bat Tibor die beiden Forscher. »Sobald wir wissen, wer uns den ungebetenen Besuch abgestattet hat, kümmern wir uns um Ihre Saurier. Es gefällt mir nicht, dass sich jemand heimlich in unserer Nähe herumtreibt.«

Dobbs wühlte in seinem Bart. »Wer oder was immer es gewesen sein mag, gefährlich scheint der Besucher nicht zu sein. Sonst wäre er nicht so heimlich vorgegangen.«

»Man kann nie wissen«, blieb Tibor vorsichtig. »Immerhin ist es dem Unbekannten gelungen, uns im Schlaf zu überraschen. Ich will mir Gewissheit verschaffen, dass uns keine Gefahr droht.«

*

Der Sohn des Dschungels machte sich an den Abstieg. Die Äffchen kletterten neben ihm und hielten vergeblich nach Spuren Ausschau.

»Wir waren wohl etwas voreilig«, stellte Pip zerknirscht fest. »Auf den Felsen findet man keine Fußabdrücke.«

»Nicht so ungeduldig«, antwortete Tibor. »Auf den meisten Vorsprüngen hat sich Sand abgelagert. Ich bin sicher, da entdecken wir etwas. Irgendwo muss sich unser unbekannter Besucher ja festgehalten haben.«

»Vielleicht war es ein Vogel«, überlegte Pop laut.

»Unsinn! Die Lebensmittel waren nicht leicht, es hätte also ein sehr großer Vogel sein müssen. Das Rauschen der Schwingen hätte uns geweckt.«

»Du hast aber auch für alles eine Erklärung«, zeterte Pop.

Pip war dem Verlauf eines Felssimses gefolgt. Er machte mit lautem Geschrei auf sich aufmerksam. »Kommt hierher! Ich habe etwas gefunden!«

Tibor lief über den Sims und ging in die Hocke. Etwas lag zwischen den Steinen. »Sieh an, das ist der Faden, der den Rollschinken zusammengehalten hat. Gut aufgepasst, Pip! Ohne deine guten Augen wären wir daran vorbeigeklettert. Unser Besucher muss gewaltigen Hunger gehabt haben, sonst hätte er sich zunächst in Sicherheit gebracht, statt sich so nah am Lager über seine Beute herzumachen.« Tibor erhob sich wieder und sah sich um. »Dort drüben ist der leichteste Abstieg. Der Unbekannte wird diesen Weg gewählt haben, um hinunterzugelangen.«

Die Freunde stiegen bis zum Grund hinab. Der Felsenhügel war umgeben von weichem Erdreich. Es dauerte nicht lange, bis Tibor fand, wonach er Ausschau hielt. Jemand war hier gewesen.

»Was habe ich euch gesagt? Spuren nackter Füße.«

»Sehr kleiner Füße«, sagte Pip.

»Ja, das ist seltsam. Entweder leben in dieser Gegend kleinwüchsige Menschen, die ich noch nicht kenne, oder die Abdrücke stammen von einem Kind.«

»Du meinst, von einem Ogk-Kind?«

»Ja.«

»Wie sollte ein Ogk-Kind hierherkommen?«

Tibor hatte keine Antwort auf Pops Frage. »Vielleicht hat es sich verirrt. Ich hoffe, wir erfahren es bald. Folgen wir den Spuren! Sie scheinen dort drüben entlangzugehen.«

Die Abdrücke ließen sich leicht verfolgen. Sie führten auf einen weiteren Hügel zu. Der Dieb verwischte seine Spuren nicht. Er rechnete offensichtlich nicht damit, verfolgt zu werden. Plötzlich hielten die Äffchen inne und lauschten.

»Leise«, zischte Pip. »Jemand verbirgt sich im Gebüsch.«

»Er schmatzt unüberhörbar«, wisperte Pop. »Unser Besucher verschlingt den Rest der Lebensmittel. Eine gute Gelegenheit, um ihn zu erwischen.«

»Wartet!«, mahnte Tibor die Äffchen.

Sie hörten nicht auf ihn. In ihrer typischen vorwitzigen Art rannten sie los und sprangen zwischen die Büsche. Im nächsten Moment kreischten sie um Hilfe. Tibor konnte es ihnen nicht verdenken. Sie waren geradewegs auf einen fleischfressenden Raubsaurier gestoßen. Er schnappte gierig nach ihnen. Da er sie verfehlte, sprang er brüllend aus dem Buschwerk hervor. Tibor brachte sich mit einem geistesgegenwärtigen Sprung in Sicherheit. Der wütende Raubsaurier stapfte mit aufgerissenem Maul an ihm vorbei. Der Boden zitterte unter den mächtigen Pranken des grünen Giganten.

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