Leseprobe – Tibor – Im Tal der Ungeheuer


Zum Roman

 

EINS

Nachdem das letzte Abenteuer glücklich ausgegangen war, hatte Tibor endlich Zeit, an seiner Hütte zu bauen. Der Gorilla Kerak war ständig an seiner Seite und unterstützte den Sohn des Dschungels, wo er nur konnte. Die Freunde arbeiteten emsig, und Tibors aus Bambus gebautes Haus nahm in einer Baumkrone rasch Gestalt an. Es stand auf einer stabilen Plattform aus Bambus und war beinahe fertig.

»Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass Bulgor uns nicht mehr auflauert«, sagte Kerak.

»Es war ein hartes Stück Arbeit, ihn davon zu überzeugen, dass ich nicht sein Feind bin«, antwortete Tibor in der Sprache der Tiere, die er längst perfekt beherrschte. »Aber es hat sich gelohnt.«

Die gefährlichen Auseinandersetzungen mit dem Elefanten lagen einige Tage zurück. Bulgor hatte seinen Fehler eingesehen und würde künftig immer für sie da sein. Dieses Wissen vermittelte Tibor ein gutes Gefühl. Er trug einen Stapel Bambusstäbe, als ihn etwas Hartes am Hinterkopf traf. Er fuhr herum, doch niemand war zu sehen. Dafür entdeckte er eine vor seinen Füßen liegende Frucht. Offenbar war sie es gewesen, die ihn getroffen hatte.

»Aua!«, stieß Kerak aus.

Ein Hagel aus Obst prasselte auf die Freunde herab. Tibor hielt vergeblich Ausschau. Er konnte nicht erkennen, woher sie kamen.

»Wer bewirft uns denn da mit Früchten?«, fragte er verwundert.

»Bestimmt kleine Affen.« Kerak schirmte seinen Schädel mit seinen gewaltigen Pranken ab. »Ihnen traue ich so etwas zu, denn sie haben immer nur Unsinn im Kopf.«

Den würde Tibor ihnen gleich austreiben. »Na, wartet!«, murmelte er lächelnd. »Lenke du ihre Aufmerksamkeit auf dich!«

Während Tibor einige Bananen auf die Plattform legte, arbeitete Kerak weiter, als sei nichts geschehen. Er ignorierte die Früchte, die jetzt nur noch vereinzelt geflogen kamen. Tibor huschte in die Hütte und legte sich hinter der Bambuswand auf die Lauer. Von dort hatte er die ganze Plattform im Auge. Es dauerte nicht lange, bis zwei kleine Äffchen hinter Keraks Rücken herbeigesprungen kamen. Sie lachten und feixten, da sie sich unbemerkt wähnten.

»Stibitzte Bananen schmecken immer am besten.«

»Nehmen wir sie und verschwinden wieder!«

»Oder auch nicht.« Als sie zugriffen, sprang Tibor aus seinem Versteck. Bevor die Äffchen entwischen konnten, hatte er sie bereits an den Schwänzen gepackt und hob sie in die Höhe.

Sie keiften, weil sie nicht entkommen konnten. Tibor ließ sie eine Weile zappeln. Sie strampelten verzweifelt und stießen keckernde Laute aus. Als sie begriffen, dass ihnen das nichts nützte, beruhigten sie sich und verlegten sich aufs Jammern.

»Bitte, lass uns los!«

»Wir werden euch auch nicht wieder stören.«

»Nur unter der Bedingung, dass ihr uns helft«, sagte der Sohn des Dschungels.

»Ja, wir versprechen es. Wir werden alles tun, was du verlangst.«

»Hm«, machte Kerak, der sich dazugesellt hatte. »Glaub ihnen nicht! Den kleinen Burschen kann man nicht trauen. Sobald sie frei sind, springen sie davon und lachen uns aus.«

Tibor setzte die Äffchen auf dem Boden ab. Er grinste amüsiert in sich hinein. »Dann ist es auch nicht schlimm. Ich kann den komischen Kleinen ja doch nichts antun. Sollen sie Reißaus nehmen, wenn sie wollen.«

Die Äffchen dachten nicht daran. »Wir laufen nicht fort. Wir haben versprochen, euch zu helfen. Das halten wir ein. Also, was sollen wir tun?«

Kerak kratzte sich am Schädel. »Ist das denn möglich? Sie meinen es wirklich ernst.«

Tibor war nicht weniger überrascht als der Gorilla. »Hier, nehmt diesen Krug und holt Wasser aus dem Fluss! Dafür bekommt ihr die Bananen.«

»Wird gemacht.«

Die kleinen Affen ergriffen das Gefäß und hangelten sich durch die Baumkrone. Gleich darauf verlor Tibor sie aus den Augen. Wenn sie nicht zurückkamen, war der Krug kein großer Verlust. Aber die Äffchen hielten Wort. Wenig später schleppten sie den mit Wasser gefüllten Krug herbei. Tibor gab ihnen die Bananen, über die sie mit Heißhunger herfielen.

»Wenn du uns immer so schöne Bananen gibst, helfen wir dir öfter.«

»Übrigens, ich heiße Pip, und das ist mein Bruder Pop.«

Tibor musste lachen. »Sehr erfreut. Ich heiße Tibor, und das ist mein Freund Kerak.«

Pip und Pop zeigten keine Scheu vor dem großen Affen. Wie selbstverständlich kletterten sie auf seine breiten Schultern. Kerak brummte ein wenig, ließ sie aber gewähren. Nach der Arbeit gingen die Freunde zum Fluss hinunter, um sich zu erfrischen. Die heiße Sonne hatte Tibor erschöpft. Er freute sich auf ein Bad in den kühlen Fluten. Die Äffchen klammerten sich immer noch an Kerak fest.

»Hüpft mit hinein!«, forderte Tibor die neuen Freunde auf. »Das kühle Wasser ist eine Wohltat. Ihr glaubt nicht, wie gut es tut.«

Pip quiekte entsetzt. »Nasses Wasser! Igitt, nein!«

»Wir haben Angst, dass sich unsere Flöhe erkälten«, ze-terte Pop.

Die beiden waren witzige Bürschchen. Lachend sprang Tibor ins Wasser. Es erfrischte ihn augenblicklich. Mit kräftigen Zügen schwamm er bis zur Flussmitte. Dort drehte er sich auf den Rücken und ließ sich von der Strömung treiben. Es gab nichts Schöneres, als sich ein solches Bad zu gönnen, das Körper und Geist gleichermaßen reinigte. Er sah, dass Kerak ihm das Ufer entlang folgte. Auch der Gorilla traute sich nicht ins Wasser. Tibor blinzelte in die hoch am Himmel stehende Sonne. Für einen Moment schloss er die Augen und genoss die Fluten, die ihn mit sich trugen. Als er sie wieder öffnete, fühlte er sich wie ein neuer Mensch. -Er schwamm zurück und stieg ans Ufer. Bevor die Affen ihn einholten, gewahrte er eine Bewegung im Unterholz. Plötzlich bohrte sich ein Speer neben ihm in einen Baumstamm.

Tibor fuhr herum. Hinter einem Busch hockte ein Eingeborener und starrte ihn aus großen Augen an. Ehe Tibor zum Gegenangriff übergehen konnte, war Kerak heran. Er packte den Schwarzen und zog ihn ins Freie. Grollend schüttelte er ihn wie eine Puppe, die nichts wog.

»Hilfe!«, schallte es weithin.

»Halt, Kerak!«, hielt Tibor den Gorilla zurück. »Du bringst ihn ja um!«

»Er hat dich aus dem Hinterhalt angegriffen. Er muss sterben.«

Daran war Tibor nicht gelegen. Der Angriff war heimtückisch erfolgt, dennoch lag es ihm fern, sich auf diese Weise zu rächen. Niemand hatte den Tod verdient, auch wenn Kerak das anders sah.

»Nein, bitte nicht! Lass nicht zu, dass der große Affe mich tötet, Fremdling mit der hellen Haut!«, flehte der Schwarze.

»Es reicht, Kerak. Setz ihn auf dem Boden ab!«

»Wie du willst.« Der Gorilla gehorchte. Er stellte den Angreifer auf die Füße, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

»Nun erzähl!«, verlangte Tibor. »Warum hast du mich angegriffen?«

»Ich bin auf der Flucht. Als ich es im Gebüsch rascheln hörte, dachte ich, es wären meine Verfolger, die mich eingeholt haben.«

»Ich gehöre nicht zu ihnen. Weshalb hast du deinen Speer trotzdem nach mir geworfen?«

»Er war mir bereits aus der Hand geflogen, als ich erkannte, dass du keiner von ihnen bist. Ich wollte nicht auf dich werfen. Es tut mir leid. Bitte, verzeih mir!«

Tibor wusste nicht recht, was er von der Erklärung halten sollte. »Wie lautet dein Name?«

»Om-El.« Der Schwarze warf Kerak misstrauische Blicke zu.

Tibor nannte seinen und die Namen seiner Freunde. »Du sprichst die Sprache der großen Affen, Om-El. Woher kommst du, und wer verfolgt dich? Hier in diesem Gebiet gibt es keine Eingeborenenstämme.«

»Ich komme aus dem Land jenseits der toten Sümpfe.«

»Wie? Du behauptest, von dort hierher geflohen zu sein?«

»So ist es.«

»Er lügt.« Kerak packte den Gefangenen an der Kehle. »Es gibt keinen Weg durch die Sümpfe.«

»Doch, es gibt einen Weg.« Om-El sackte in sich zusammen wie ein Häufchen Elend. Er zitterte am ganzen Körper.

»Lass ihn endlich in Ruhe, Kerak! Du siehst doch, dass er keine Gefahr darstellt. Und du, Om-El, erzähl weiter!«

»Dazu bleibt keine Zeit. Lass mich gehen! Es wird nicht lange dauern, bis meine Feinde den Weg ebenfalls gefunden haben. Sie werden nicht aufgeben, bis sie mich wieder in ihre Gewalt bekommen haben. Wenn das geschieht, bin ich verloren.«

»Verrate mir, weshalb sie dich verfolgen.«

Om-El riss die Augen auf und deutete aufs Wasser hinaus. »Zu spät. Da – sie kommen. Ich bin des Todes.«

Tibors Blick folgte dem ausgestreckten Arm. »Bei allen Dschungelgeistern, das gibt es nicht.«

Mehrere Krieger kamen aus dem Fluss gewatet. Sie waren nicht herangeschwommen. Dann hätte der Sohn des Dschungels sie schon zuvor gesehen. Der Anblick war unheimlich. Sie kamen geradewegs aus dem Wasser, als würden sie an seinem Grund leben. Tibor begriff nicht, wie das möglich war. Etwas anderes sah er jedoch auf Anhieb. Sie trugen Speere und machten keinen freundlichen Eindruck.

»Was sollen wir tun?«, fragte Kerak.

»Wenn sie kommen, um Unfrieden zu stiften, verbiete ich ihnen, meinen Dschungel zu betreten.«

»Nein, geh nicht zu ihnen!«, hielt Om-El ihn zurück. »Sie besitzen nicht nur ihre Speere, sondern haben Blasrohre bei sich, mit denen sie vergiftete Pfeile abschießen können.«

Tibor hielt inne. Dieses Risiko durfte er nicht eingehen. Er zog den Speer aus dem Baum und behielt ihn. »Sie haben uns noch nicht gesehen. Schnell, Kerak, nimm Om-El unter den Arm! Dann nichts wie weg von hier! Wir verbergen uns vorerst in den Baumkronen.«

Der Gorilla tat wie ihm geheißen. Pip und Pop folgten ihm. Sie verhielten sich still, weil sie begriffen, dass dies nicht der richtige Moment für Schabernack war. Auch Tibor griff nach einer Liane und schwang sich in eine Baumkrone. Er ließ sich zwischen den dicken Ästen nieder und beobachtete die Krieger, die eben an Land kamen. Es war ihm schleierhaft, wie sie sich im Fluss hatten nähern können, ohne dass er sie gesehen hatte. Er beging nicht den Fehler, sie als Feinde zu betrachten. Vielleicht war Om-El derjenige, dem er nicht helfen durfte.

»Ich weiß nicht, ob du meine Hilfe verdienst. Was ist geschehen, dass deine Stammesbrüder dich verfolgen?«

»Ich habe nichts Böses getan«, versicherte Om-El.

»Aber sie müssen einen Grund haben, warum sie hinter dir her sind. Verrate mir endlich, was hier vorgeht!«

»Ich bin der Sohn eines Häuptlings vom Stamme der Ma-Angas. Du musst wissen, dass es in meinem Stamm zwei Häuptlingsgeschlechter gibt. Wenn beide Familien einen Sohn haben, entscheidet ein Zweikampf darüber, wer die Häuptlingswürde erhält.«

»Es gibt neben dir also einen weiteren Anwärter«, folgerte Tibor.

»So ist es. Sein Name lautet Om-Tul. Gestern mussten wir beide gegeneinander antreten. Ich verlor den Zweikampf, weil meine Streitaxt vor dem Kampf beschädigt worden ist. Damit wollte ich mich nicht abfinden, denn ich glaube nicht an einen Zufall. Ich besitze eine gute Axt. Sie wurde nie zuvor beschädigt, schon gar nicht wie durch die Hand der Geister.«

Tibor begann zu verstehen. »Du glaubst, dass Om-Tul dahintersteckt.«

»Er war es, da bin ich sicher. Doch niemand glaubte mir, als ich ihn beschuldigte. Ich konnte meinen Vorwurf nicht beweisen, daher wurde ich in die Grube der heiligen Spinne geworfen.«

Die Bezeichnung klang beunruhigend. Tibor hatte keine Ahnung, was er sich darunter vorstellen sollte. Offenbar handelte es sich um ein Ritual der Ma-Angas.

»Die Spinne war zum Glück satt und griff mich nicht sofort an«, fuhr Om-El fort. »Daher blieb mir ein wenig Zeit, um den Bereich hinter der Grube zu untersuchen. In den Höhlen dort fand ich einen Gang. Ich zögerte nicht lange, seinem Verlauf zu folgen, denn er war meine einzige Chance, der heiligen Spinne zu entkommen, bevor sie wieder Hunger bekam. Ich rannte um mein Leben, um mich vor ihr in Sicherheit zu bringen. Der Gang führt durch weitere Höhlen unter dem Sumpf hindurch. Bisher kannte unser Volk ihn nicht. Jedenfalls gibt es keine Berichte darüber. Eine kurze Strecke ist er mit Wasser gefüllt. Da ich nichts zu verlieren hatte, tauchte ich und war wenig später am Flussufer. Du kannst dir meine Überraschung vorstellen, als ich mich hier wiederfand. Aber die Krieger des Stammes sind mir gefolgt.«

»Ich verstehe.«

Deshalb also hatte Om-El Tibor für einen seiner Verfolger gehalten. Nun begriff Tibor auch, wieso die Krieger wie Geister aus dem Fluss gestiegen waren. An seinem Grund musste es einen Durchgang geben, der durch die Höhlen in das Land hinter den Sümpfen führte. Es war nicht verwunderlich, dass weder Kerak noch sonst jemand davon wusste, wenn ein Teil davon unter Wasser lag. Ohne seine panische Flucht vor der heiligen Spinne hätte Om-El den Gang nicht entdeckt. Als Om-El wieder die Stimme erheben wollte, bedeutete Tibor ihm zu schweigen.

»Still!«, zischte er. »Ich höre Stimmen.«

»Habt ihr Om-Els Spur gefunden?«

»Ja, aber sie vermischt sich hier mit anderen Spuren.«

Tibor balancierte ein Stück auf einem starken Ast, wobei er darauf achtete, weiterhin vom Blattwerk des Baumes verborgen zu bleiben. Unten entdeckte er die Krieger. Es waren etwa fünfzehn Bewaffnete. Gegen diese Übermacht hatte er auch mit Keraks Hilfe keine Chance, schon gar nicht, da sie giftige Pfeile besaßen, wie Om-El ihn gewarnt hatte. Die Krieger standen ratlos herum. Sie ahnten nicht, dass ihre vermeintliche Beute in den Baumkronen über ihnen steckte.

»Das ist seltsam«, sagte einer von ihnen und suchte den Boden ab. »Anscheinend ist Om-El mit jemandem zusammengetroffen. Aber es ist nicht zu erkennen, wohin sie sich gewandt haben. Sie sind einfach verschwunden. Die Spuren lügen nicht.«

»Wir finden ihn schon noch«, antwortete ein anderer.

»Es gibt hier viel Wild und keine großen Drachen. Dieser Dschungel gefällt mir sehr gut.«

»Mir auch. Er scheint keine Gefahren zu beherbergen wie bei uns.«

»Wir sollten Om-Tul vorschlagen, der heiligen Spinne eine andere Grube zu geben. Danach können wir den Gang erweitern und einfacher hierhergelangen.«

»Eine gute Idee. Dann könnten wir diesen Dschungel zu unserem Jagdrevier machen. Er ist voll von Tieren, die eine leichte Beute abgeben.«

Tibor erschrak. Er wusste nicht, was es mit der heiligen Spinne und den großen Drachen auf sich hatte, von denen die Ma-Angas redeten. Doch er würde nicht zulassen, dass die Männer des Stammes herkamen und die Jagd auf seine Freunde eröffneten. Er fühlte sich für die Tiere im Dschungel verantwortlich.

»Kommt, wir erkunden die Umgebung!«, drang eine Stimme zu ihm herauf. »Om-El muss irgendwo in der Nähe sein. Er hatte nur einen kleinen Vorsprung vor uns. Er kann noch nicht weit gekommen sein. Vergesst nicht, Om-Tul erwartet von uns, dass wir ihn wieder einfangen.«

Die Krieger machten sich auf den Weg, und ihre Stimmen verklangen im Dschungel. Bald sah Tibor sie nicht mehr. Er wandte sich an Om-El.

»Sie sind fort, zumindest fürs Erste. Wir können ungestört weiterreden. Du hast gehört, was sie ihrem Häuptling vorschlagen wollen.«

»Ja.«

»Ich lebe in diesem Dschungel in Frieden mit den Tieren. Sie sind meine Freunde. Ich dulde nicht, dass dein Stamm ihn zu seinem Jagdgebiet macht. Ich werde das mit allen Mitteln verhindern.«

Der Häuptlingsanwärter setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Ich verstehe dich. Ich würde ebenfalls für meine Freunde kämpfen, egal ob es Menschen oder Tiere sind.«

Tibor lauschte auf den Klang der Worte. Er hatte nicht das Gefühl, dass Om-El ihm das sagte, was er hören wollte. Er meinte es ehrlich. »Ich will dir helfen, dein Recht zu erkämpfen.«

»Wirklich?«

»Ja, aber unter einer Bedingung. Du versprichst mir, deine Männer niemals zur Jagd in meinen Dschungel zu führen, wenn du Häuptling werden solltest.«

»Das verspreche ich dir gerne und aufrichtig.« Om-El senkte den Blick. »Doch ich fürchte, das wird uns niemals gelingen. Du hast es ja gesehen. Viele Krieger folgen Om-Tuls Befehlen. Gegen diese Übermacht können wir nicht bestehen. Und Om-Tul hat mich schon einmal betrogen. Er wird nicht zulassen, dass ich eine gerechte Chance bekomme, um die Häuptlingswürde zu kämpfen.«

»Ich bin bereit, es trotzdem zu versuchen.«

»Du darfst nicht allein gehen«, sagte Kerak. »Wir begleiten dich.«

Pip und Pop, die immer noch auf den Schultern des Gorillas saßen, keiften zustimmend. Tibor dachte kurz nach. Keraks Hilfe war unbezahlbar, doch er wollte ihn und die beiden Äffchen nicht in Gefahr bringen. Außerdem hatte er eine wichtigere Aufgabe für sie.

»Nein, Freunde, baut an meiner Hütte weiter! Ich kehre bald zurück. Und warnt alle Tiere vor den Zweibeinern mit den Blasrohren. Sie sind gefährlich. Die Tiere sollen ihnen nicht zu nahe kommen. Sobald die Zweibeiner in ihre Nähe kommen, sollen sie sich im Wald vor ihnen verstecken. Das gilt auch für euch. Gegen die Blasrohre nützen deine Kräfte nichts, Kerak.«

»Ich habe verstanden. Du kannst dich auf mich verlassen, Tibor.«

»Das weiß ich. Komm, Om-El, wir begeben uns zum Fluss-ufer. Deine Verfolger sind im Moment nicht gefährlich für uns. Sie sind tief in den Dschungel eingedrungen und haben keine Ahnung, dass wir in ihrem Rücken sind.«

Sie machten sich auf den Weg. Tibor ergriff eine Liane und schwang sich voraus. Om-El, der mit dieser Art der Fortbewegung nicht vertraut war, kletterte hinter ihm her. Am Ufer hielten sie inne, und der Häuptlingsanwärter streckte einen Arm aus. Er deutete aufs Wasser hinaus.

»Dort vorn befindet sich die Mündung des Kanals.«

Tibor hielt vergeblich danach Ausschau. An der Oberfläche deutete nichts darauf hin, was sich angeblich im Flussbett befand. Er erinnerte sich aber, dass die Krieger tatsächlich an dieser Stelle aus dem Fluss gekommen waren.

»Geh voran!«

Om-El stakste ohne zu zögern ins Wasser und ging weiter hinaus. Als es ihm bis zur Hüfte reichte, hechtete er in die Fluten und versank darin. Tibor atmete tief ein und folgte ihm. Mit kraftvollen Stößen tauchte er unter. Zuerst gewahrte er nur schlammigen Grund und Wasserpflanzen, die sich in der Strömung wiegten, doch plötzlich entdeckte er ein düsteres Loch zwischen einigen Felsen. Om-El schwamm direkt darauf zu. Augenblicke später hatte ihn die Dunkelheit verschluckt. Tibor beeilte sich, ihm zu folgen, ohne dabei den Speer zu verlieren. Als er zwischen den Felsen hindurchtauchte, spürte er einen Sog, der zuvor nicht da gewesen war. Während es hinter ihm dunkel wurde, entstand vor ihm ein fahler Lichtschein, der rasch heller wurde. Zwei Dinge geschahen gleichzeitig. Er bekam wieder Luft und vernahm einen Schrei.

Über Tibor spannten sich die Felswände einer unterirdischen Grotte. Zur einen Seite des Wasserlochs, aus dem er aufgetaucht war, verlief ein Pfad aus Gestein und Sand. Eine Fackel war in den Boden gerammt und beleuchtete die Höhle. Zwei Krieger hatten Om-El überwältigt und hielten ihn fest. Die Ma-Angas waren klug gewesen und hatten zwei Wachen zurückgelassen.

»Wir haben dich, Om-El. Deine Gegenwehr ist vergeblich.« Der Krieger wandte den Kopf und zuckte zusammen. »He, wer ist das? Ein Fremder ist Om-El gefolgt.«

Tibor war entdeckt. Er zögerte keine Sekunde. Der Überraschungseffekt war auf seiner Seite. Mit aller Kraft stieß er sich ab und schnellte wie ein Pfeil aus dem Wasser. Bevor die Krieger begriffen, was geschah, fiel er schon über sie her. Den einen streckte er mit einem Kinnhaken nieder, dem anderen schlug er die Waffe aus der Hand. Der folgende Handkantenschlag ins Genick setzte auch ihn außer Gefecht. Der Kampf hatte nur ein paar Sekunden gedauert. Ungläubig betrachtete Om-El seine bewusstlosen Stammesbrüder.

»Du hast sie besiegt, Tibor. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, würde ich es nicht glauben. Du bist stärker und gewandter als unsere besten Krieger. Jetzt schöpfe ich neuen Mut. Mit dir an meiner Seite kann ich um mein Recht kämpfen.«

Tibor untersuchte die regungslosen Krieger. Sie würden noch eine Weile schlafen. »Wir müssen sie mitnehmen. Wenn die anderen zurückkommen, dürfen sie die beiden nicht finden. Sonst wissen sie, dass du wieder hier bist. Wenn es uns gelingt, ungesehen in Om-Tuls Hütte zu gelangen, steigen unsere Chancen gewaltig. Dazu müssen wir unentdeckt bleiben.«

»Du hast einen Plan?«, fragte Om-El voller Hoffnung.

Der Sohn des Dschungels spähte in die finstere Gangmündung, die vor ihnen lag. »Ja, ich will …« Geräusche brachten Tibor zum Verstummen.

»Das Wasser am Kanalende plätschert. Anscheinend haben die Krieger die Suche nach mir aufgegeben und kehren zurück. Was machen wir nun?«

Tibor hatte nicht erwartet, dass die Ma-Angas ihre Jagd auf den Entflohenen so schnell einstellen würden. Er hob die beiden Bewusstlosen auf und klemmte sie sich unter den Arm. Bei einem offenen Kampf gegen die Übermacht der Krieger standen Om-El und er auf verlorenem Posten.

»Gibt es Nebengänge in dieser Höhle?«

»Weiter vorn habe ich eine schmale Spalte in der Wand gesehen, aber nur im Vorbeigehen. Ich habe sie nicht untersucht. Dazu blieb mir bei meiner Flucht keine Zeit. Ob sie tief genug ist, um uns zu verbergen, weiß ich nicht.«

»Wir versuchen unser Glück.«

Om-El eilte voran. Weitere Fackeln beleuchteten die Höhlen notdürftig. Vor einem schmalen Kamin in der Felswand blieb der Häuptlingsanwärter stehen.

»Hier ist die Spalte.«

»Schnell, hinein!«

Om-El huschte in die Spalte, Tibor folgte ihm. Sie war so eng, dass er mit den Bewusstlosen gerade genug Platz zum Durchschlüpfen fand. Sie drückten sich gegen die Felswand und lauschten auf die Geräusche der Verfolger.

*

Inzwischen waren die Krieger in der Höhle angelangt. Sie trugen ihre Speere und die Blasrohre mit sich. Sie kletterten aus dem Wasserloch und schüttelten das Wasser von ihrer Haut. Ihre Lendenschurze würden schnell trocknen, doch darauf achtete keiner von ihnen. Sie hielten nach den beiden Wachen Ausschau, die in der Grotte zurückgeblieben waren. Sie waren nirgendwo zu sehen.

»Die Wachen sind fort«, stellte Kam-To fest.

»Das ist unerhört!«, schimpfte Lo-Tan. »Ich hatte Befehl gegeben, dass sie hier bis zu unserer Rückkehr warten.«

Die Krieger sahen sich suchend um, bis einer von ihnen eine Entdeckung machte. »Merkwürdig, hier liegt ein Blasrohr.«

»Anscheinend hat es einer von ihnen vergessen.«

»Das ist unmöglich«, widersprach Kam-To. »Kein Krieger vergisst seine Waffe.«

»Seht euch das an! Wenn mich nicht alles täuscht, sind das Spuren eines Kampfes.«

»Tatsächlich.«

»Aber gegen wen können unsere Leute gekämpft haben?«

»Das kann nur Om-El gewesen sein«, überlegte Lo-Tan. »Er muss sich am Flussufer verborgen gehalten haben, bis wir an ihm vorbeigelaufen sind. Als wir in den Dschungel eindrangen, hat er die Gelegenheit genutzt und ist zurück in die Höhle geschwommen.«

»Es sieht so aus. Eine solche Tollkühnheit hätte ich Om-El nicht zugetraut.«

Die Ma-Angas lauschten. Außer von ihnen selbst waren keine Geräusche zu hören. Sie überlegten, was sie unternehmen sollten. Schließlich traf Kam-To eine Entscheidung.

»Zwei Krieger kommen mit mir. Die anderen bleiben hier und bewachen den Kanalausgang. Haltet die Augen nach Om-El offen! Vielleicht will er uns täuschen.«

»Du glaubst nicht, dass er wieder ins Dorf gelaufen ist?«

»Dazu müsste er in die Grube mit der heiligen Spinne. Unbemerkt kann er dort nicht hinausklettern. Vermutlich verbirgt er sich irgendwo in den Höhlen und wartet die Nacht ab, um in der Dunkelheit aus der Grube zu fliehen. Folgt mir! Vielleicht gelingt es uns, ihn in der Höhle zu stellen.«

»Das ist sehr gefährlich«, warnte Lo-Tan.

»Bist du plötzlich feige geworden?«, herrschte Kam-To ihn an. »Vorwärts!«

Sie hielten ihre Waffen umklammert und liefen los.

Zum Roman