Leseprobe – Babylon – Das Siegel des Hammurabi


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»Ich, Hammurabi, der Vollkommene, war für die Schwarzköpfe, die mir Enlil und Marduk wie einem Hirten übergeben und anvertraut, niemals säumig; nie ruhte ich, ihnen friedliche Stätten zu schaffen. Drückende Nöte hielt ich von ihnen fern, ihr Leben machte ich licht. Mit starken Waffen, mir von Zababa und Ishtar verliehen, mit der Weisheit, die Enlil mir gab und mit Marduks Macht tilgte ich im Norden und Süden, oben und unten, die Feinde aus, machte ein Ende mit den Kriegen, schuf dem Land Wohlfahrt, schenkte den Menschen friedliches Wohnen und vernichtete diejenigen, die uns stören wollten. Mich beriefen die Großen Götter, ich ward der Hirte mit kräftigem, geradem Stab. Mein milder Schatten breitet sich über die Stadt; die Menschen Akkads und Sumers ruhen in meinem Schoss, auf dass ihr Wohl gedeihe. Ich behüte sie in Frieden und schirme sie in meiner Weisheit. Der Starke bedrücke nicht den Schwachen; Witwen und Waisen wird Gerechtigkeit. Zu Babyla, der Stadt, die Anu und Enlil erhöhten, im Esangila, dessen Grundfesten ewig sind, habe ich das Recht des Landes geordnet und die Gerichtsentscheidungen gesichert, um den Unterdrückten Gerechtigkeit zu verschaffen. Meine kostbaren Worte wurden in Kudurru-Steine gemeißelt und vor mir, dem König der Gerechtigkeit, aufgestellt.«

Aus dem Vorspruch des KH, des Kodex Hammurabi

 

1. KÖNIG DER GERECHTIGKEIT

Flammen züngelten aus dem Stroh der Dächer; vom Sog der Schleudersteine durchfurcht, quoll schwarzer Rauch über Mauern und aus Türöffnungen. Das Krachen der Schwerter und Streitkolben auf die Schilde und die Anfeuerungsschreie der Soldaten vermischten sich mit Waffenklirren, sirrenden Pfeilen, gellenden Signalhörnern und dem Wimmern der Verwundeten. Grau, blutrot kollerte die Sonnenscheibe durch Staubwolken, Rauch und Gestank: heißes Blut, Kot, schweißnasses Leder, vom Feuer zersprengter Stein, verbranntes Gefieder. Die Stadttore barsten in einem Wirbel aus Funken, Splittern und Bronzebeschlägen. Babylas Krieger stürmten die bröckelnden, rußgeschwärzten Mauern von Rapiqum, und die engen Gassen waren erfüllt von den Schreien und dem Kreischen der panisch Flüchtenden. Inmitten einer Schar Krieger, Anführer und Palastgardisten, blutbespritzt und mit triefendem Schwert, rannte Hammurabi auf den Palast zu. Zahllose Leichen, von Pfeilen gespickt, von Schleudersteinen zerschmettert, lagen zwischen Mauern und schmorenden Dattelpalmen.

Blutüberströmt wankte ein Mann vorbei. Er presste beide Hände über die klaffende Wunde unter der Brust und stierte die Soldaten aus leeren Augen an. Als seine Eingeweide hervorquollen, brach er zuckend zusammen und kreischte wie ein Kind. Junge Frauen, Säuglinge in den Armen, stolperten rechts und links durch den Qualm.

In der verwüsteten Palasthalle erwachte der König von Babyla aus der dumpfen Raserei, die alle Empfindungen verschluckt hatte: Wut, Todesfurcht, Schmerz. Leichen lagen auf den Stufen, den Boden bedeckten Blutlachen, zerbrochene Waffen und zerschmetterte Schalen und Krüge, Verwundete zuckten im Todeskampf. Wein tropfte von Tischen und färbte die Tücher. Ein Schwert steckte in der Armlehne des Thronsessels. In den besudelten Decken und Fellen lag eine Frau mit weit offenen Augen, den Mund im lautlosen Schrei aufgerissen. Sie war nackt bis auf goldene Ketten und Armreife. Ein Anführer packte sie an den Hüften und zwang sie fluchend, vor dem Thron zu knien. Er drang in wilden Stößen ein zweites Mal in sie ein und riss ihren Kopf nach hinten.

Eine Brandung aus Wimmern, Kreischen, Jaulen und Winseln schäumte zwischen Säulen und Wänden. Die Soldaten weideten die Palasthunde aus und hackten Schwänze und Läufe mit schartigen Schwertern ab.

Hammurabi stand zwischen dem zersplitterten Portal und einem Wall toter Verteidiger. Der Rand seines blutverkrusteten Schildes berührte den Boden. Um die Schwertspitze bildete sich eine rote Lache. Schweiß tropfte unter dem Leder und den Bronzeplatten des Helms in den geflochtenen Bart. Der Schädel dröhnte, die Lippen waren rissig vor Durst, und auf der Zunge schmeckte er Salz und Staub. Er warf einen Blick auf die misshandelte Frau, drehte sich um und ging hinaus in die Helligkeit. Seine Finger krampften sich um die Griffe von Schwert und Schild.

Ein Trupp Soldaten näherte sich. Hammurabi erkannte Redûm Utuchengal am Silberband des Helmes. Gesichter, Arme und Schilde waren unkenntlich unter der Schicht aus Staub, Ruß und Blut. Utuchengal nahm den Helm ab, klemmte ihn unter die Achsel und schlug mit dem Schwertgriff gegen den Brustharnisch.

»Die letzten, die sich wehrten, sind tot«, sagte er. Er hustete und wischte über die Stirn. »Die Beute, König, wird nicht gering sein. Einen Teil siehst du dort.«

Die Soldaten umringten den König und den Anführer seiner Sturmsoldaten. Utuchengal winkte. Ein Soldat zerrte eine junge Frau an dem Lederseil um ihren Hals näher. Etwa einem Dutzend hellhäutiger junger Frauen, mit schwerem Schmuck behängt, waren die Handgelenke im Nacken gefesselt worden. Ein Soldat knurrte:

»Palastsklavinnen. Hockten im Frauenhaus und haben Wein getrunken.«

Hammurabi blickte in schreckensstarre Gesichter. Die Schminke war zerlaufen und zeichnete schwarze und silberne Muster.

»Wir bleiben eine Zeitlang in der Stadt.« Hammurabi legte Utuchengal die Hand auf die Schulter. »Nehmt euch, was ihr braucht. Macht es ihnen nicht zu schwer; sie führen keinen Krieg gegen mich.«

»Ich hab’s nicht vor.« Utuchengal ließ den zerhauenen Schild sinken. »Wir besetzen den Palast und sichern ihn für dich, König.«

Er zeigte auf den nächsten Torbogen. Seine Bewaffneten schleppten sich darauf zu und zogen die Frauen hinter sich her. Hammurabi ging zur ummauerten Umrandung des Teiches, schöpfte Wasser und kühlte sein Gesicht. Über der Umfassungsmauer lagen Erschlagene, ein Körper trieb im Wasser, in dem sich rötliche Schlieren auseinanderzogen. Hammurabi säuberte das Schwert und schob es in die Scheide zurück.

Als er sich zwang, seine Fäuste zu öffnen, spürte er schweißfeuchtes Tuch unter den Fingerkuppen.

 

Er schlug die Augen auf. Sein erster schlaftrunkener Blick fiel auf die Zedernbalken der Decke.

Er wartete regungslos, holte tief Luft und schluckte. Es roch wie an jedem Morgen: heißes Lampenöl, Wein, der in goldenen Bechern verdunstete, kalter Schweiß, die Miasmen nächtlicher Leidenschaft und Asche in der Feuerstelle. Hammurabi richtete sich auf, stützte sich auf die Ellbogen und spürte die Last seiner Jahre. Mühsam bahnten sich seine Gedanken in den Tag. Narudadja schlief und atmete leise. Ohne Muster und Bilder wirklich zu erkennen, starrte er die Wandteppiche an. Kein Sonnenstrahl drang in den Raum. Er lauschte in die Korridore und Säle des Palastes, dieser gewaltigen Masse aus Mauern, Säulen, Dächern und Steinen – das Lärmen der Diener, Sklavinnen und Heerführer, Bartscherer, Ratgeber, Schreiber und Handwerker hatte noch nicht begonnen. Langsam schwang er die Beine über den Rand des Lagers, bemüht, die Beischläferin nicht zu wecken. Er warf sich einen Mantel um und tappte über Teppiche, dickes Strohgeflecht und Felle, zum Abtritt. Er gähnte, als er sein Wasser abschlug und sich erleichterte. Als er sich gegen die glatten Mosaikkacheln abstützte, war es, als greife er in groben Sand.

Er stieg, zwei Dutzend Schritte weiter, ins warme Wasser des Beckens, schob die Wasserlilien auseinander, genoss die Stille und schloss einige Atemzüge lang die Augen. In beschlagenen Silberspiegeln tanzten Flammen; Harzrauch und Duftwässer tränkten die Luft. Der Geruch der warmen Tücher erinnerte Hammurabi an sommerliche Blüten. Er seufzte, als er aus dem Bad stieg und vier Krüge kalten Wassers über Kopf und Nacken schüttete und nicht merkte, dass die Färbung seines Bartes gelitten hatte. Er trocknete sich ab; ihm graute vor dem Tag.

 

Malereien und Mosaiken – Ranken, Götterbildnisse, Fabelwesen in leuchtenden Farben, mit silbernen und goldenen Augen und solchen aus Edelsteinen – sprangen ihn von den Wänden an. Ölflammen zitterten auf Silber und Gold. Weißglasierte Tonschalen, von Bronzearmen gehalten, ragten ins staubige Halbdunkel. Als tröffen sie vor Nässe, hingen Vorhänge auf den spiegelnden Boden. Die wuchtigen Palastwände schluckten das Geräusch seiner Schritte, die Decken der Korridore verloren sich in dämmeriger Höhe. Es gab Tage, an denen sich Hammurabi nicht als Herr, sondern als Gefangener in den Mauern dieses Palastes fühlte; es war einer dieser Tage, die als Drohung über ihm hingen.

Er schob einen weiteren Vorhang zur Seite und ging zum Bett. Eine Sklavin hatte Holzscheite auf die Glut getürmt, ohne Narudadja zu wecken. Sie reckte unter dem Leinen die Hüften und hatte die Arme gestreckt. Ihr Haar breitete sich blauschwarz über das Laken aus. Hammurabi betrachtete schweigend die hellbraune Haut, die dunklen Spitzen der Brüste, die langen Wimpern. Er legte seine Hand an den Hals Narudadjas, als wolle er sie würgen, dann ließ er sie in die Furche zwischen den Brüsten gleiten. Die Frau öffnete die Augen, leckte über die Lippen und stieß ein langgezogenes Summen aus. Sie legte die Hände unter die Brüste und flüsterte:

»Bin ich der Grund, Herr, für deine starre Miene?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Du nicht. Die Träume waren schwarz, voll Tod und Gewalt. Der Tag wird nicht besser sein.«

Hammurabi starrte über ihre Schulter. Die farbigen Bilder der Wände zeigten Motive seiner Macht und seiner Triumphe über allzu ehrgeizige Fürsten. Narudadja legte die Hände auf Hammurabis Schultern und wartete, bis er in ihre Augen blickte.

»Deine Gedanken werden klar, Herr der Gerechtigkeit; du bist zäh wie der Löwe und verschlossen wie das Grab. Du bist kräftiger als ein Jüngerer. Deine Gegner überragst du wie eine Zikkurat – nicht nur ich weiß das, Herr. Deine Leidenschaft hat mich in der Nacht erschöpft. Jetzt zeige ich dir, wie du den Tag fröhlich anfangen kannst.«

Ihre Finger strichen den feuchten Bart unter der Lippe glatt und glitten durch das schwarze Gekräusel unter dem Kinn, seit dem Bad von hellem Grau durchsträhnt. Hammurabi atmete schwer, als ihre Hände über die Innenseiten seiner Schenkel glitten. Er sank auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Narudadja kauerte auf seinen Knien und beugte sich ihm entgegen. Die Haarflut fiel vor ihr Gesicht.

»König der vier Weltgegenden.« Sie berührte ihn unter den Achseln, an den Rippen und am Nacken. »Du wirst lächeln, wenn dich die Diener ankleiden, und jeder Ärger flieht dich, bis tief in die Nacht.«

Hammurabi zwinkerte. Seine Stimme war heiser. »Du bist schön und voll Leidenschaft. Und du redest bisweilen kluge Worte, Schwester Inannas.«

Sie antwortete nicht, lächelte nur. Hammurabi schloss die Augen und überließ sich ihren erfahrenen Fingern.

 

Der helle Raum, in dem würzige Dämpfe brodelten und Stimmen murmelten, bedeutete für Hammurabi den ersten Schritt in das Gewebe des Tages; ein Dutzend Sklavinnen und Diener hantierten an seinem Körper und besorgten Handreichungen in seiner Nähe. Haupthaar und Bart wurden gekämmt, angefeuchtet, geschnitten, mit schwärzenden Salbölen gebürstet und zu Locken gedreht, Finger und Arme mit warmen, feuchten Tüchern gereinigt. Behutsam schoben Diener jene Ringe auf die Finger, die Hammurabi aus Dutzenden prunkvoller Kleinode in den Fächern eines Kästchens aus Zedernholz und Gold wählte. Ein Hemd aus Leinen fiel federleicht über die Schultern, Mädchen schnürten die Stiefel an Hammurabis Füßen. Bevor der Halsschmuck geknotet wurde, schob der König seinen Arm durch die Öffnung des Wollmantels, fühlte Duftöl im Nacken, an den Unterarmen und Knien. Man brachte honigsüßen heißen Kräutersud, Brot, Braten, Milch und Fisch. Während er aß und trank, legte der älteste Diener den Gürtel um Hammurabis Hüften und die Armbänder um die Handgelenke. Hammurabis Blick glitt gleichmütig über das Durcheinander und ruhte lange auf den Bildwerken Apilsins und Sinmuballits, des Großvaters und des Vaters, in einer Nische, zwischen Säulen, Blumen und Opfergaben. Gott Marduk überragte sie und schien Hammurabis Blick zu erwidern. Hammurabi winkte die Diener zur Seite und näherte sich dem Vorhang, der von unsichtbaren Händen geöffnet wurde. Diener verbeugten sich tief. Die Stille des Morgens endete für ihn jenseits des goldbestickten Vorhanges.

 

Am anderen Ende des Korridors, in der Tageshelle, stand Awelninurta. Hinter ihm verneigten sich die Schreiber. Der Oberste Suqqalmach legte die Linke auf die Brust und senkte den Kopf.

»Babyla und das Land am Buranun und Idiglat warten, Herrscher der Himmelsrichtungen. Dein Schlaf war tief und gut?«

Hammurabi hob die Schultern. Awelninurta verstand den Blick und ging schweigend an Hammurabis rechter Seite bis zur Mitte eines Tisches aus Zedernbrettern. Im Morgenlicht, von weißen Vorhängen gefiltert, tanzten die Stäubchen. Die Schreiber setzten sich an ihre Tischchen.

»Das siebenundzwanzigste Jahr deiner Herrschaft, Jahr der rotgoldenen Feldzeichen. Auch im achtundzwanzigsten wird sich, meine ich, nicht allzu viel ändern am Lauf der Tage.«

Die Tontäfelchen klapperten. Die gemalten Tiere und Pflanzen des Bodens glänzten, als schwämmen sie in Öl.

»Deine Worte sind ein wahrer Trost, Awel.« Hammurabi lächelte mühsam. »Zähl also die Katastrophen auf und sag, welche misslichen Zustände ich aus der Welt schaffen kann.«

Awelninurta lachte leise. Sie setzten sich in hochlehnige Stühle mit weichen Polstern. In Flechtkörben standen Hunderte trockener Lehmtäfelchen. Awelninurta deutete auf den ersten Schreiber. Er begann vorzulesen. Nach kurzer Beratung sprach entweder Hammurabi oder Awelninurta. Die Schreiber stichelten: Briefe an die Rabinum kleiner und größerer Siedlungen. Boten und Späher wurden aufgerufen, verneigten sich vor Hammurabi, berichteten und eilten hinaus. Im Klappern trockener und Klatschen feuchter Tontafeln arbeiteten Hammurabi und Awelninurta weiter an dem schwierigen Geflecht der Babyla-Macht; Anordnungen an Priester; Hinweise auf die Gesetze der Kudurru-Steine; Anweisungen für Kanalbaumeister, unmissverständliche Befehle an Vasallen und Tributpflichtige, Bitten an jene Fürsten, »die hinter mir, Hammurabi, einhergehen«; Einträge in die Archive des Handels, der Landschenkungen, der königlichen Rinderherden.

Wie lauteten die Botschaften der Soldaten, die entlang der westlichen Grenzen die gewalttätigen Nomaden zurücktreiben sollten? Welche Gesandtschaft, aus welcher Stadt, war zu erwarten? Neue Königspächter? Auf welchem Stück Kronland? Und immer wieder drängende Bitten: es wurden Vorgesetzte und Wasserbaumeister gebraucht, dringender als Steine von Akkad, als Grassamen und Erdpech. Streit mit dem Hohen Priester Iturashdum um das Eigentum der Tempel?

»Schicke Jarimlin, den Anführer der Palastwachen, zu ihm. Er soll ihm die Schwelle zeigen, an der meine Nachsicht endet.«

Awelninurta schnippte mit den Fingern. Ein Bote rannte davon. Nach fünfeinhalb Stunden waren die Körbe auf der linken Seite des Tisches leer. Hammurabi stützte das Kinn in die Handfläche und gab dem Sklaven neben der Säule durch einen Blick seinen Wunsch zu verstehen. Schweigend glitt der Schwarzgekleidete um die Säule herum und brachte zwei Pokale. Awelninurta schwieg und sah zu, wie die Schreiber feuchte Tücher über die Tafeln breiteten.

»Lasst uns allein«, sagte er und hob die Hand. »Bereitet euch vor; morgen geht’s weiter. Wie alle Tage.«

Die Schreiber verließen erschöpft den Raum, schnell und lautlos. Awelninurta wartete, bis der Herrscher den Pokal hob und trank, vier Atemzüge lang. Er deutete auf die vielen Tontäfelchen auf der rechten Tischseite.

»Und immer wieder erstaunst du mich, Bruder des göttlichen Marduk. Was weißt du nicht? Entgeht dir etwas, das im Land zwischen Assur und Larsa geschieht?«

Hammurabi seufzte und legte die Hände auf die Tischplatte.

»Ich weiß nicht, was an der nordwestlichen Grenze geschieht. Ich kenne nicht die Spinnwebfäden zwischen den Priestern Babylas, denen aus Malgium am Idiglat und im Tempel zu Mari. Weiß ich, was König Zimrilim denkt?«

»Nichts, was dir Freude bereiten würde, wenn du’s wüsstest«, sagte Awelninurta. »Es sind keine Spione gefasst worden. Die Priester schweigen lächelnd und bedeutungsvoll, wie immer.«

Hammurabi massierte mit Daumen und Zeigefinger die Kerbe und die fleischige Kuppe seiner Nase, musterte Awelninurta über den Rand des Pokals und grinste. Sein Blick blieb gelassen.

»Samsuiluna mit dem stolzen Namen ›unser Gott, die Sonne‹ – mit viel Glück und zu Recht – soll als achter Fürst meines Geschlechtes ein wohlgeordnetes Reich mit sicheren Grenzen beherrschen. Dafür lohnt sich alles Wissen und jede Verschlagenheit.«

Awelninurta nahm einen langen Schluck und senkte den Blick auf die Maserung des Zedernholzes.

»Schamasch und Marduk mögen noch ein halbes Jahrhundert ihre schützenden Hände über dich halten, siebenter Fürst. Wäre es jetzt nicht Zeit, sich zu vergewissern, dass die Sonne an einem wolkenlosen Addaru-Himmel steht, trotz Alpträumen, Müdigkeit, Narudadja und schwierigem Kanalbau?«

Hammurabi stellte den leeren Pokal hart ab, lachte und stand auf. »Bei Marduk! Du hast recht. Wo sind die Tage und die Nächte? Erinnerst du dich? Damals? Im Schilf, auf Entenjagd? Zwischen den Palmen, am Kanal, als keine Sklavin vor uns sicher war?«

Diener rissen die Vorhänge zur Seite. Die Sonne blendete den Herrscher und den Suqqalmach. Sie hielten die Hände vor die Augen.

Als habe er seine Antwort wohl überlegt und die Bedeutung mehrfach geprüft, sagte Awelninurta: »Das war, mein königlicher Freund, als Vater Sinmuballit, der alte ›König der Gerechtigkeit‹, an deiner Stelle dort am Tisch saß.«

Der Palasthof, leer und im Windschatten, verschluckte das Geräusch ihrer Schritte. Zwei Diener liefen hinter ihnen her und legten schwere rote Mäntel auf ihre Schultern. Am Ende der Rampe, vor der Dachbrüstung, drehte sich Hammurabi um.

»Diese Frau, Narudadja … was weißt du?«

»Eine Naditum-Priesterin aus Sippar, durch brüderliche Willkür verarmt und vertrieben. Wenn die Gnade deiner nächtlichen Leidenschaft versiegt, wäre sie mit einem königlichen Lehen nahe eines Kanals zufrieden. Wird sie ihrem Ruf gerecht?«

Sie gingen neben raschelnden Palmwedeln durch die Schatten gemauerter Dachverzierungen, die Bäume waren erst vor ein paar Jahren gepflanzt worden. Aus den Gärten hinter den Ställen gellten Pfauenschreie. Hammurabi sah sich um.

»Niemand hört zu, königlicher Ratgeber«, sagte er. »Sie erfreut nicht nur mein Herz. Lass sie wissen, dass sie ein herrliches Stück Land erhalten wird, flussab, am Kanal, der ›Reichtum des Volkes‹ heißen soll – wenn die Gnade meiner Leidenschaft zu tropfen aufhört. Stößt mir etwas zu, von Samsuiluna oder anderen, die meine Gesetze brechen werden, ist sie dort in Sicherheit.«

Awelninurtas Augen glitten über Hammurabis Gesicht. Er schob die Hände in die weiten Mantelarme. Plötzlich schien er zu frösteln. Er deutete vage in die Richtung des Unteren Meeres. »Was mich zu der Überlegung bringt, die wie ein Dämon durch meine Träume kriecht. Nicht nur für diese Wasserbauwerke brauchst du einige tausend Arbeiter. Sie sind, weil mit Silber zu bezahlen, leichter zu finden als gute Baumeister. Alle Edubba-Lehrer tun mehr als ihre Pflicht und lehren die Jungen die Kunst des Wasserbauens. Bedenke: wenn im Süden Ruhe an den Grenzen herrschen soll, müssen viele Männer mit scharfer Waffe ihren Besitz, deine königliche Landschenkung, verteidigen. Ich soll – später – dafür sorgen, dass Narudadja entsprechend belohnt wird?«

»Ja. Im Simanui, nach dem Hochwasser, nach etlichen Alpträumen, wissen wir mehr. Man wird neue Wasserbaumeister in der Edubba finden.«

Sie gingen weiter und blickten in einen größeren Hof hinein. Karren waren aufgebockt; Bronze funkelte von breiten Scheibenrädern. Palastsoldaten übten in Zweikämpfen, Peitschen knallten, fluchende Wagenlenker zerrten an den Zügeln von Onagergespannen, deren stämmige Tiere schäumten und schwitzten. Awelninurta machte eine weitausholende Geste.

»Natürlich wissen es auch die Spione Zimrilims und aus Larsa: Tausend kampferprobte Soldaten leben in den Mauern des Palastes und der Stadt. Die Waffen sind scharf; die Pfeile treffen.« Er deutete auf stoffumwickelte Strohpuppen, die dort von Pfeilen starrten, wo Wunden tödlich waren. »Unsere Speicher sind voll, die Herden zahlreich, die Tiere fett. Und da die Straßen zwischen Ost und West ebenso sicher sind wie die Flüsse, ist Hammurabis Stadt reich vom Tribut, Zoll und dem Geschick der Kaufmannschaft. Ein Grund mehr, ruhig zu schlafen – abgesehen von Narudadjas überströmender Leidenschaftlichkeit.«

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