Leseprobe – Der letzte Traum des Pharao


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Im Zeichen der bronzenen Kriegsaxt

UNSER GERECHTER HERR SENWOSRET-HAKAURA, er lebe ewig und ewiglich, der beide Lande wieder zu Macht und Größe geführt hat und in tausend Tagen sein großes Hebsedfest feiern wird, ist in fünffacher Besorgtheit:

Vom Westen her überfallen räuberische Tjehenu-Nomaden wie Heuschrecken die Siedlungen am Rand der neuen Kornfelder, nördlich vom Scha-Resi-See. In Kush und Wawat sind die elenden Nehesi trotz Chakauras Festungen aufsässig; vierzehn Bollwerke hat Chakaura errichten lassen, aber noch sind nicht alle Mauern stark und hoch genug. Pije-Ipi, der Verwalter von Millionen Zahlen und Wörtern, ist im Körper und im Verstand hinfällig geworden; man sucht hapiauf, hapiab nach einem »Zahlennarr«, der ihm nachfolgt; bisher hat man keinen gefunden. Aus dem Asmach, den Ländern der Apiru und Chaosu, hören die Späher und Lauscher am Fürstenwall wenig Gutes: In den Ländern hinter den Hafenstädten gärt Aufruhr gegen die Rômet. Um schreiben zu können, was es im Westen gibt, warte ich auf Briefe des Feldherrn Sokar-Nachtmin, den Chakaura mit unzähligen goldenen Fliegen ausgezeichnet hat – Nachtmin bekämpft mit seinem Heer, das im Sand gen Sonnenuntergang schmachtet, kraushaarige und ziegenschänderische Nomaden. Ein hässliches Gerücht geht um im Großen Haus: Was mag der beste Bronzehändler von allen getan haben, dass Chakaura an der Freundschaft Karidons zweifelt?

ICH, MERIRE-HATCHETEF, Priester des Ptah, Month und der löwenköpfigen Sachmet zu Itch-Taui, der das Geheime im Großen Haus kennt, bester Schreiber zwischen den Festungen in Wawat und dem Großen Grünen, bin vom Herrscher Chakaura berufen worden, alles auf gebleichten Shafadurollen niederzuschreiben, was sich in den 27 Jahren zutrug, über denen der sonnenglänzende Name des Herrschers liegt.

Der kleine Priester spürte den Schweiß, der aus den Achselhöhlen rann, wischte mit dem feuchten Tuch über Kopf und Nacken und stand langsam auf. Er füllte die Schale mit kaltem Wasser und trank mit tiefen Schlucken; die mörderische Hitze, die seit einem Zehntag mit einer rätselhaften Windstille einherging, hockte tief in den ellendicken Mauern, in denen es Tag und Nacht knisterte und knackte.

ICH SCHREIBE DIE GESCHICHTE ALLER SIEGE, aller großen Taten, aller Bauwerke und der wunderbaren Jahre Chakauras:

Sie ist kurz, aber reich an wuchtigen Worten. Und ich schreibe selbst mit zwei Fingern eine andere Geschichte: den Bericht über das Leben meiner Freunde aus der Schreibschule, Karidons Schicksal, das des Heerführers Sokar-Nachtmin, des Gaufürsten Nefer-Herenptah, des keftischen Kaufmanns Jehoumilq und Ptah-Netjerimaats, der das Ruder der Auge der Morgenröte führt.

Merire-Hatchetef ging in den Tempelgarten, dessen vertrocknetes Gras unter den Sohlen raschelnd staubte. Aus Westen, unter dem dunkelblauen Himmel, der seit Tagen seine seltsame Farbe nicht gewechselt hatte, schien sich unsichtbar eine Glutwolke heranzuschieben. Kein Luftschlauch kräuselte bislang das Kanalwasser, das dumpf roch, als ob es faule. Fische schnellten in die Höhe und schnappten nach Luft. Die Schatten hatten feine, gelbe Ränder; das Gestirn des Rê schien das Land verbrennen zu wollen. Merire stöhnte und zwinkerte den Schweiß aus den Augen.

»O ihr guten Götter«, flüsterte er. Jede Bewegung trieb Schweiß auf die Haut; sein Herz schlug hart. »Warum straft ihr uns so im Mesore, der auch ohne euren Zorn schon heiß und trocken ist?«

Das Land wartete sehnsuchtsvoll auf das Erscheinen des Sepedet und die Hapiflut, die in weniger als einem Mond in Itch-Taui und im Scha-Resi-Land anschwellen sollte. Merire zuckte mit den Schultern und schleppte sich in den Schatten der Mauern, tröpfelte Wasser in die Tuschenäpfchen und achtete beim Schreiben darauf, dass keine Schweißtropfen auf die Shafadurolle fielen.

NUN RÜHRE ICH FRISCHE TUSCHE AN, viel schwarze und wenig rote: In diesen Tagen und Nächten, da die Hitze ungewöhnlich groß ist, trocknet sie allzu rasch.

Merire-Hatchetef ließ den Binsengriffel sinken und schloss die Augen. Unheil, fühlte er, kam auf das Land zu! Ohne sagen zu können, aus welchen Gründen er sich fürchtete – abgesehen von der sengenden Sonne, der Dürre und den vielen todkranken und gestorbenen Rômet –, rief er öfter als sonst die Götter an. Größeres Unheil drohte als räuberische Nehesi, Heuschrecken oder verderblich hohe oder niedrige Überschwemmung; anderes, unvorstellbares Verderben. Keines, von dem Chakaura wusste, über das die Priester sprachen oder solches, das die Götter offenbarten. Botschaften und Gerüchte krochen durch das heiße Land. Sie sprachen davon, dass die besten aller Bronzehändler-Kapitäne, Jehoumilq und Karidon, die Verwalter der Schatzhäuser betrogen und mehr für sich selbst als für das Große Haus Handel trieben, vielleicht die Feinde des Landes unterstützten. Tauschten sie jenes Nechoschet-Metall gegen Waren der Nomaden ein? Mit Waffen aus Bronze wären die Gegner Chakauras dessen Heer weit eher gewachsen; die Schlagkraft seiner Krieger wäre rasch dahin.

Nicht einmal die letzten Briefe Karidons, Nefer-Herenptahs oder Sokar-Nachtmins ließen eine Spur möglicher Erklärungen erkennen. Oder kündigte sich durch das Gefühl des nahenden Unheils eine neue Zeit an, in der selbst die Maat nicht mehr galt?

Merire wickelte behutsam ein Bronzedrähtchen von einer halb beschriebenen Shafadurolle ab, breitete das Blatt aus und tunkte den Riedgriffel in die Tusche. Ein Priesterschüler hatte es weichgekaut; Merires Zähne schmerzten zu sehr.

LANGE HAT DER GOLDHORUS NICHT MIT MIR GESPROCHEN. Dennoch erfahre ich vieles aus dem Großen Haus; von Schreibern, deren Briefe die Befehle der Ratgeber weiterleiten in die fernen Enden der beiden Lande. Mehr als 26 und ein halbes Jahr des Herrschens mit ihrer Last haben seine breiten Schultern niedergedrückt. Chakaura scheint das Licht Rê-Harachtes als Last zu fühlen; er zwingt sich und seine Taten zur Größe und zur Macht. Ich erkenne an ihm die kühle Gelassenheit der ersten Bronzejahre nicht mehr; zwischen den Säulen im Gewölbe der Zeit geht er einsam, ruhelos und ohne Schlaf umher. Und nun, in diesen Tagen, in denen Furcht in alle Herzen gekrochen ist, ruht die Last der unbewegten Luft und der Verantwortung für alle Rômet allein auf Chakaura.

Ich aber weiß, dass seit den Tagen seiner Krönung oder schon, seit Karidon ihn halb ertrunken aus dem Schlamm des Kanals gerettet hat, der Bronzekapitän der einzige Freund des Herrschers ist. So wie aus Kupfer mit einem Zehntel Zinn die vielfach härtere Nechoschet-Bronze geschmolzen wird, kann eine Freundschaft zwischen Ungleichen tiefer und länger sein als andere; verlöre der Sohn der Sonne das Vertrauen zu Karidon, würde seine Einsamkeit gottgleich werden. Ich, Merire-Hatchetef, werde die Wahrheit erfahren – ich versuch’s mit aller Kraft –, wenn die Auge der Morgenröte wieder hier in Itch-Taui anlegt.

WIR WISSEN, DASS DIE GEMEINSCHAFT aller Bewohner des Hapilandes den einzigen Schutzwall gegen die gottgeschickten Widrigkeiten der Natur bildet. Karidon ist für Chakaura der Wall gegen die Einsamkeit und die Verbindung zum Leben der einfachen Menschen. Werden die Schwingen des Goldhorus lahm, so trocknen die Mauern aus; sie brechen nieder und vergehen im ewigen Wehen des Sandes.

Der magere Priester lehnte sich zurück und schloss die Augen. Diesseits der großen Dinge, im vergänglichen Leben der Sterblichen, beschlich ihn tiefe Furcht: Sein Freund schien in Gefahr zu sein. Merire, Sokar-Nachtmin und Karidon galten fast seit drei Jahrzehnten als Vertraute des Herrschers, besonders Karidon, der Chakauras Schwester Tama-Hathor-Merit geliebt und zusammen mit Jehoumilq den Weg ins ferne Weihrauchland Punt erschlossen hatte. Die Mannschaft des Händlers Jehoumilq hatte gewaltige Mengen hartes, wertvolles und kampfentscheidendes Nechoschet ins Hapiland gebracht, jenes neue Zinn-Kupfer-Metall, war mit Chakauras Truppen hapiaufwärts in die wasserlosen Länder Kush und Wawat gesegelt und hatte die Bronzebergwerke an den nördlichen Felsküsten besucht, als verkleidete »Augen und Ohren« des Goldhorus; seit dessen Heer die selbsternannten Fürsten Abdim und Anatnetish entthront und vertrieben hatte, wurden die Bronzehändler von diesen mit unauslöschlichem Hass verfolgt. Die Tusche war wieder eingetrocknet. Merire-Hatchetef zuckte mit den Schultern und trank Wasser. Er war ebenso erschöpft wie jeder andere in Itch-Taui; nicht einmal seine Gedanken gehorchten ihm. Karidon und Jehoumilq versteckten sich vor Anatnetishs Rache, indem sie rastlos von Hafen zu Hafen segelten, und Sokar-Nachtmin ließ den Gutshof bei Menefru-Mirê bewachen. Vor Merire-Hatchetefs innerem Auge wanderten Menschen und Geschehnisse vorbei, in langer Prozession: Steuermann Holx Amr, die alte Horus der Brandung, die in Gublas Hafen auseinandergebrochen war, der Betrug mit Lederbeuteln, die mit Sand statt Goldkörnern gefüllt waren – Neider und Feinde der Bronzehändler hatten sie im Schatzhaus ausgetauscht! –, das neue Schiff, die Auge der Morgenröte, der qualvolle Tod der Prinzessin »Tamahat«, wie Karidon sie zärtlich genannt hatte, und seine abgrundtiefe Trauer, schließlich der Überfall durch Fürst Anatnetishs Leute auf die Morgenröte in Tjebnutjer, einem Örtchen am östlichen Mündungsarm. Karidon war fast zu Tode verwundet worden, und sein erster Besuch nach der langwierigen Heilung hatte ihm gegolten, dem Priesterlein Merire-Hatchetef. Und nun: Hässliche Gerüchte, denen Merire kein Wort glaubte – waren sie schon an die Ohren Chakauras gedrungen, des vergöttlichten Herrschers?

Die Spitzen und Kanten des roh behauenen Felsblocks drangen in die Haut von Ti-Djehutis Oberschenkel. Er saß, den Kopf gesenkt, am Rand des Platzes, dicht an der Hafenmole Djedans. Unter ihm trieben losgerissener Tang und Abfälle um einen aufgeblähten Katzenkadaver in engen Wirbeln zwischen den Bordwänden der Schiffe. Auch die Auge der Morgenröte lag längsseits an der Mole. Im Heck standen ein Rômet, den sie Ptah oder Netji nannten, der alternde, bärtige Kapitän Jehoumilq, und ein schlanker Mann mit heller, aber tief sonnengebräunter Haut und langem braunem Haar, an den Schläfen grau und weiß, das er in einem Nackenzöpfchen trug. An der linken Schläfe und zwischen dem Herzen und der Schulter trug der Seefahrer Narben, eine dritte, lange, sah Djehuti auf der anderen Schulter. Als Ti-Djehuti in der Schenke neben den jüngeren der beiden Kapitäne getreten war, hatte ihn ein prüfender Blick aus leuchtenden, grünen Augen getroffen: Dies war Karidon von Keftiu, dem Fürst Anatnetishs ganzer, gewaltiger Hass galt.

Die Morgenröte lag tief im Wasser. Ti-Djehuti hatte vierzig Barren Kupfer gezählt, die die Ladearbeiter herbeigeschleppt und im Kielraum gestapelt hatten. Die Ruderer – die Rômet nannten sie Wajermänner – hatten bis vor einer halben Stunde am Schiff gearbeitet, jetzt waren sie im Badehaus; die Morgenröte wollte früh mit dem ersten Landwind ablegen. Djehuti beobachtete und belauschte die Bronzehändler, seit das Schiff hier vor zwei Tagen hereingerudert worden war.

Präge dir Namen und Aussehen ein. Lerne ihre Eigenarten kennen. Versuche herauszufinden, wo sie im Hapiland leben, in welchen Häfen sie handeln, wer ihre Freunde sind, ob der Goldhorus sie beschützen lässt. Denke nach, ob sie besser mit Gift oder Waffen zu töten sind. Fürst Anatnetish, der sich hinter verschiedenen Namen und Masken verbarg, hatte ihm, Ti-Djehuti, einen Beutel Goldkörner gegeben und ihn mit eindringlicher Stimme, fiebernd vor Wut, beschworen: Ein Mann mit Macht und Amt im Palast zu Itch-Taui muss das Gerücht ausflüstern, dass Karidon von Keftiu das Große Haus betrügt, dass er den Nomaden verrät, an welchen Stellen die Grenzen durchlässig sind; dass die Bronzehändler den Feinden des Goldhorus bronzene Waffen überlassen und die Handelswaren, die sie dafür bekommen, selbst behalten …

Er hatte gefragt: »Warum hasst du den Bronzehändler Karidon, Fürst?«

»Sieh mich an: Bevor er mich an das Heer des Goldhorus verriet, war ich reich, hatte Macht, Frauen, Gold … alles. Jetzt bin ich ein Bettler; meine Männer sind Wegelagerer. Finde sein Versteck!« Anatnetish legte die Hand auf den Dolchgriff.

Vor einem Zehntag hatten sie sich an einem Brunnen in Menefru-Mirê getroffen, zum zweiten Mal. Seither hatte sich Ti-Djehuti viel umgehört, mit Handelskapitänen und Hafenverwaltern gesprochen und vielen Seefahrern volle Weinkrüge bringen lassen. Nun war er in Gedjed und schätzte die Ladung der Bronzehändler; bald würde er wissen, wo sie im Hapiland wohnten, trotz der Wachsamkeit Karidons, Ptahs, Jehoumilqs und des anderen Steuermanns, Holx-Amr.

Drei waagrechte schwarze Streifen teilten das zusammengedrückte Abendgestirn; dennoch vermochte niemand in die Sonne zu sehen. Rechts und links der verformten Scheibe erstreckten sich, drei Finger hoch über der Linie, an der sonst Himmel und Wüste einander berührten, schwarze Bänder von Nord nach Süd. Ein großer, schwarzhäutiger Bogenschütze berührte Sokar-Nachtmin an der Schulter.

»Sie sagen, Herr, das ist der Große Braune Würger. Er wartet. Noch gibt es keinen Wind. Kommt Wind, kommt der Würger über uns.«

Sokar-Nachtmin nickte langsam und drehte sich um. Er, Hekenua und Kholay standen auf dem Kamm einer riesigen Düne, die sich an einen Felsen schmiegte; ein sandiger Teil des baum- und strauchlosen Gebirgsausläufers. Die Kette der Posten, Wasserträger, Eselgehege und leinwandgedeckten Unterstände verschmolz in der Richtung zum Mu-Wer-See mit dem Horizont; sie war in Wirklichkeit Hunderte von Chen-Nub lang, und nur ihr Vorhandensein sicherte der Truppe Wasser, Bier, Proviant und das gute Gefühl, von denen an den Hapiufern nicht vergessen worden zu sein. Nachtmin deutete zum Lager, das am Fuß des Sandberges begann.

»Geh zu Anführer Userhet. Sag ihm von mir, er soll den Sturm beobachten und die Nomadenspäher fragen. Sie kennen den Würger besser als wir.« Er nickte Hekenua zu. »Sag, er und alle Männer sollen sich vorbereiten; Tücher, Wasser eingraben, Windwände flechten. Schick einen Boten zum Anfang der Wasserträgerkette mit der gleichen Botschaft. Im Sturm werden auch die Nomaden nicht anzugreifen wagen. Welcher Tag ist heute eigentlich?«

»Achtundzwanzigster im Mesore. Ich gehorche, Herr.« Kholay verbeugte sich, packte Bogen und Köcher fester und stolperte durch den hochstiebenden Sand den Dünenhang hinunter. Nachtmin sah schweigend zu, wie die Sonnenscheibe versank und Fackeln an den ersten Lagerfeuern angezündet wurden, wie einige Soldaten anfingen, sich gegen einen Sturm zu schützen, den noch niemand spürte. Im letzten Sonnenlicht sah er den Boten mit flackernder, rauchender Fackel nach Südost rennen. Dann trat er in Kholays Spuren, ging zum Feuer vor seiner spitzen Leinenhütte und setzte sich auf einen Flechtwerkschemel. Hekenua brachte einen Krug, der mit einem feuchten Tuch umwickelt war. Nachtmin nickte und trank das dünne, bittere Henket; er sagte bedächtig:

»In all der trockenen Trostlosigkeit ringsum, schönste Freundin, bist du wie der Anblick vieler aufbrechender Lotosblüten. Danke fürs Henket.«

»Es ist eine Auszeichnung, die einzige Frau unter fünfmal tausend Männern zu sein. Auch wenn wir bisher nur ein paar Dutzend Nomaden gefangen haben.«

»Nomaden, mit denen du nichts mehr zu tun hast, außer dass du ihre Sprache sprichst.«

Es begann nach Zwiebeln, Lauch, Salzfisch, Pökelfleisch, frischem Fladenbrot und saurem Wein zu riechen. Ein Bote näherte sich und berichtete, dass die halbkreisförmige Postenkette stand und dass die eingeborenen Späher versichert hatten, der Sandsturm, der das Heer und die Nomaden umbringen konnte, komme nicht in dieser Nacht. Nachtmin schärfte ihm ein, weiterzusagen, dass jeder Krieger sich unabhängig von der Unwahrscheinlichkeit eines Überfalls bei Tageslicht dennoch schützen solle. Dann richtete er seine Blicke auf Hekenua, die ihm von Chakaura anvertraut worden war. Hier, in der Wüstenei und unter dem lodernden Gestirn, das mit erbarmungsloser Hitze das Leben aus den Menschen sog, wirkte sie, als liefe sie durch einen taufeuchten Palastgarten.

Hekenua war die Tochter eines gefangenen Tjehenu-Nomaden, eines Jematet-Fürsten aus dieser Gegend, etwas weiter gen Sonnenuntergang, und einer Kushitin des Frauenhauses. Sie war im Palast aufgewachsen, sprach drei Sprachen und konnte sie verhältnismäßig gut schreiben. Größe und schlanke Glieder hatte sie vom Vater, wohlige Rundungen, hellbraune Haut und blauschwarzes, leicht krauses Haar von der Mutter geerbt; ihr schmales Gesicht mit der fein gekrümmten Nase und den vollen Lippen strahlte Entschlossenheit und Stärke des Willens aus; Hekenua war eines der seltenen Beispiele dafür, dass selbst Töchter von Sklaven es im Hapiland weit bringen konnten, trotz ihrer höchstens siebzehn Jahre. Nachtmin hatte Zeit und Ruhe, sie im Licht des Lagerfeuers und der Fackeln genau zu betrachten. Er kannte die Wirkung seiner Blicke unter schweren, dunklen Lidern hervor; seine Soldaten fürchteten das scheinbar träge Starren seiner Augen. Er grinste kurz und sagte:

»Unser Herr im Per-Ao, Shenet Hekenua, hat viel mit dir vor.«

Sie richtete sich gerade auf und flüsterte:

»Das sagst du jetzt, Shemer Feldherr?«

»Eine der möglichen Erklärungen, Schwester, warum ich mich dir nur bis an den Rand einer bestimmten Grenze genähert habe. Klare Befehle aus dem Per-Ao.«

Sie ertrug seine lastenden Blicke mit ihm ungewohnter Selbstsicherheit. Nachtmin verbiss sein Grinsen und nahm das Kopftuch ab, schlug es über die Spannschnur der Leinenfläche und sagte leise:

»Vor Jahr und Tag waren die Halbschwester des göttlichen Herrschers und einer meiner klügsten Freunde die Zuträger wichtiger Nachrichten aus Kush, Wawat und dem Asmach zum Thron Chakauras. Tama-Hathor-Merit starb; seither sucht der Große Chakaura – er lebe ewig und ewiglich – nach ähnlich guten Spähern. Nun ist die Bedrohung von hierher größer geworden. Du wirst, wenn wir diesen Kriegszug und den würgenden Sturm überleben, in Itch-Taui einen Freund treffen. Grünauge Karidon, den Bronzekapitän aus Kefti. Ihn liebte die Prinzessin; ein guter, kluger Mann, kein Jüngling mehr, zuverlässig. Manch einer zweifelt an seiner Ehrlichkeit – ich würde ihm mein Leben anvertrauen. Befehl aus dem Per-Ao, Schwester!«

Hekenua, deren Körper ebenso schweißbedeckt war wie jeder andere am Anbruch dieser Nacht, füllte aus dem mühsam gekühlten Krug die Schalen. Sie atmete tief und sagte nach langem Nachdenken so leise, dass es Nachtmin fast nicht verstand:

»Ich soll die Gefährtin, Geliebte, Freundin oder Frau deines Freundes werden? Hat das unser Herr schon entschieden?«

»Nein.« Nachtmin hatte sich so gesetzt, dass er beobachten konnte, was im halbmondförmigen Lager vor sich ging. Seine Blicke huschten umher wie Fledermäuse; der Nachthimmel teilte sich in ein schwarzes und zwei sternenflirrende Drittel. Ein Bogenschütze brachte Brot, Braten und Tonschalen voller dicker Suppe. »So nicht, Shenet. Chakaura braucht Helfer, Freunde, zuverlässige Vertraute. Du wirst Karidon mit den grünen Augen treffen; dann wird man weitersehen. Ich glaube, ihn besser als dich zu kennen. Er zählt zu Chakauras mächtigen Männern. Er wird dich nicht nehmen wollen wie eine Tanzsklavin.«

»Bruder Nachtmin! Ich bin keine Tanzsklavin, keine Harfenistin, keine Flötenspielerin.«

»Ich weiß es. Chakaura weiß es. Karidon, der dich nicht kennt, aber allein mit allerlei düsteren bis schwarzen Gedanken ist, wird dich prüfend ansehen. Auch wenn ihr miteinander die Nachrichten für Chakauras Tatji schreibt, ist alles andere, was du tust, dein freier Wille. Ich zwinge dich nicht, Chakaura auch nicht, und Karidon hat es nicht nötig, Zwang auszuüben.« Er zwinkerte und legte kurz die Hand auf sein Gemächt. »Unter uns, Schwester: Kari ist die wahre Freude für jedes gute Weib. Schön, nachdenklich, reich und mutig; einer unserer Besten. Ich kenn ihn seit mehr als dreißig Jahren. Wenn ich eine junge Frau wäre wie du, würde ich …«

»Beleidige ich dich, wenn ich sage, du bist ein liebenswerter Schurke, und ich möchte mit dir befreundet bleiben, Feldherr Sokar-Nachtmin?«

Hekenua griff nach einem Tuch, wischte Schweiß vom Gesicht und aus dem Nacken und hob die runden Schultern.

»Ich bin schwer zu beleidigen.« Nachtmin wartete, bis der Soldat das Essen auf dem Tuch, das über dem Sand ausgebreitet war, abgestellt hatte. »Ich werde, was ich dir erzählt habe, nicht wiederholen. Merk dir jedes Wort und handle, wie du es für richtig hältst. Dennoch: ein keftischer Seefahrer, den Chakauras schöne und kluge Schwester liebte, ist weder dumm noch missgestaltet.«

Sie aßen schweigend; die Hitze ließ auch in den ersten Nachtstunden nicht nach. In der Luft über dem öden Land schien sich etwas wie eine göttliche Ausstrahlung zu befinden; drohend wie der Pfeil auf einer gespannten Bogensehne.

»Ich habe gehört, Feldherr. Ich denke über deine Worte nach, bis ich den Fremden sehe. Aber: Ich weiß, dass Tjehenu-Häuptlinge mit Bronzewaffen kämpfen. Ich sah auch viele bronzene Pfeilspitzen.« Sie deutete nach Westen. »Und was soll ich jetzt und morgen tun?«

»Jetzt sollst du trinken, essen und schlafen, Shenet Hekenua.« Nachtmin tunkte ein gerolltes Fladenbrot in den Würzbrei und biss ab. »Morgen oder übermorgen befragen wir entweder gefangene Nomaden, oder du wirst nach Itch-Taui zurückgebracht. Oder der Sandsturm hat uns alle erstickt.«

Hinter den Dünen, in unbekannter Entfernung am Großen Grünen, schob sich der Mond auf den sternenlosen Teil des Himmels zu. Er war gelb wie Sand; die Narben seiner Fläche wirkten, als käme das Unheil von ihnen.

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