Der Mann hatte einen langen, beschwerlichen Weg zurückgelegt. Er lebte nur für seinen Traum, eine unabhängige Provinz Bergkarabach. Daher hatte er sich freiwillig für diesen Einsatz gemeldet und würde morgen sein Ziel Gjilan, eine mittelgroße Stadt im Kosovo, erreichen. Zu Fuß, mit dem Bus, mit einem Boot und zuletzt wieder zu Fuß hatte er die Strecke bewältigt.
Er verrichtete sein Abendgebet gen Mekka, rollte den Gebetsteppich wieder sorgsam zusammen. Er hockte neben einem Baum und verstaute den Teppich gerade in seinem Beutel, als ein Schatten zwischen den Bäumen auftauchte. Erschrocken fuhr die Hand des Mannes aus Bergkarabach unter seine Jacke, umklammerte den Griff des Messers.
»Friede sei mit dir, Bruder«, meldete sich da die ruhige Stimme des Fremden und entbot den traditionellen Gruß.
Erleichterung überflutete den weit gereisten Mann, seine Hand kam leer unter der Jacke wieder hervor, und er richtete sich auf. Erst, als der Mann vor ihm stand, schrillten die Alarmglocken im Kopf des Mannes aus Bergkarabach warnend. Er wollte zurückspringen, doch es war bereits zu spät. Das scharfe, doppelseitig geschliffene Messer bohrte sich in seine Kehle, durchtrennte die Luftröhre und das Stimmband in einem Schnitt. Der Angreifer fing den zusammensackenden Körper des Mannes auf, ließ ihn vorsichtig zu Boden sinken. Zu spät war dem Sterbenden der Umstand bewusst geworden, dass der Fremde ihn in seiner Landessprache angesprochen hatte. Dieser Gedanke beschäftigte ihn, als er seinen letzten röchelnden Atemzug tat.
Chester hatte seine wenigen Sachen in der Botschaftswohnung in Wien verteilt, genoss den Luxus einer echten Wohnung. Die vergangenen Wochen hatte er meistens auf Pritschen in Notunterkünften oder kleinen Kammern verbracht, sofern er überhaupt zum Schlafen gekommen war. Zu sehr hatten ihn die turbulenten Ereignisse der Operation Melange beschäftigt, und sie waren schließlich auch der Grund seiner Anwesenheit in der Wohnung.
»Gewöhn dich lieber nicht zu sehr daran«, rief er sich selbst zur Ordnung.
Chester bestrich das Brötchen dick mit Butter und einer Marmelade, so wie er es bei Frank Stanzer beobachtet hatte. Der Major der COBRA, einer Spezialeinheit des österreichischen Innenministeriums zur Bekämpfung von Terrorismus, hatte Dov und Chester am gestrigen Vormittag zu einem ausgiebigen Frühstück eingeladen. Anschließend hatte er sie in eine speziell für diese Operation eingerichtete Etage im Innenministerium gebracht. Eigentlich hatte der Major die beiden Agents direkt mit ins extrem gut gesicherte Hauptquartier der COBRA in Wien mitnehmen wollen, doch seine Vorgesetzten hatten sich dagegen entschieden.
»Daher hat man euch jetzt eine eigene Etage eingerichtet, die an die Infrastruktur des Innenministeriums angeschlossen ist. Selbstverständlich habt ihr auch sichere Leitungen zu euren Hauptquartieren«, hatte der sympathische Major den beiden Agents beim Frühstück erzählt.
Längst duzten die drei Terroristenjäger sich und bildeten eine gute Gemeinschaft. Es war schon eine seltsame Gruppe, ein Mann vom Mossad, ein Agent der Counter Terror Operations und eben der Major der COBRA. Doch sie verfolgten ein gemeinsames Ziel, die Auffindung und Vernichtung der Terroristen um Illona Nagy. Die Tochter des ungarischen Biologen und Chemikers Dr. Imre Nagy versprach sich Profit vom Handel mit dem internationalen Terrorismus. Während ihr Vater nach seinem Zwischenspiel mit den Irakern den Wahnsinn solcher Geschäfte erkannt hatte, wollte seine Tochter die Erkenntnisse ihres Vaters weiterhin an den Meistbietenden verkaufen.
»Sind die Forschungsergebnisse denn wirklich so gefährlich, Doktor Nagy?«, hatte Chester den Wissenschaftler ungläubig gefragt.
»Gefährlicher als jede Form von Bombe. Es handelt sich um spezielle Erreger, die sie in großen Mengen ausbringen können. Zunächst merkt kein Mensch etwas, zeigt der Infizierte keine Symptome. Sobald er jedoch mit dem Auslöserstoff in Verbindung kommt, entwickelt der Infizierte eine Krankheit. Sie sieht anfangs wie eine einfache Grippe aus und führt dann urplötzlich zum Zusammenbruch des gesamten vegetativen Nervensystems«, ging Dr. Nagy sehr eindringlich auf die Frage ein.
»Was für einen Auslöserstoff könnten die Terroristen dafür benutzen?«, hatte Chester noch wissen wollen.
»Es gibt verschiedene Substanzen, die entweder wasserlöslich oder ein Aerosol sind«, lautete die knappe Antwort.
Dov und Frank hatten nur düster genickt, hörten offenbar nicht zum ersten Mal von solchen Biowaffen. Während seiner Zeit als Ranger bei der Army hatte Chester nur theoretisch von solchen Waffen gehört. Jetzt hatte er auf einmal sehr direkt damit zu tun. Nach seinem nicht ganz freiwilligen Wechsel von der Army zur CTO änderte sich seine Weltansicht rasend schnell. Vor knapp einem Jahr hatte er sich noch auf seinen ersten Einsatz als Pilot eines Kampfhubschraubers vom Typ Apache Longbow gefreut, dann hatte er eine fatale Entscheidung getroffen. Er musste sich damals zwischen der Rettung von Kindern vor dem Zugriff von rücksichtslosen Drogendealern oder dem Befolgen der Befehle seines Einsatzoffiziers entscheiden. Er traf seine Wahl und fand sich bald danach auf dem Weg ins Militärgefängnis Fort Leavenworth wieder. Seine Befehlsverweigerung hatte ihm die völlige Aberkennung aller Dienstgrade und eine zwanzigjährige Haftstrafe in dem berüchtigten Militärgefängnis eingebracht. Als er dann das Angebot erhielt, seinen Dienstgrad eines 1st Lieutenants weiterführen zu können, indem er der sehr geheimen Counter Terror Operations für zehn Jahre seine Fähigkeiten zur Verfügung stellte, hatte er nach anfänglicher Ablehnung schließlich angenommen. Seitdem hatte Chester bereits Einsätze in Afrika, in den spanischen Pyrenäen, im Nahen Osten und in Ungarn durchgeführt. Sein Leben hatte sich radikal gewandelt und dazu gehörte leider auch die Existenz von Biowaffen in den Händen von Terroristen.
»Wir haben alle Adressen überprüft, die Doktor Nagy uns genannt hat. Seine Tochter ist nirgends anwesend«, führte Frank Stanzer eine Stunde später aus.
Dov Bugala hatte Chester nach dem Frühstück in der Botschaftswohnung abgeholt und war mit ihm zum Innenministerium gefahren.
»Die Leute der WEGA sind sehr sorgfältig vorgegangen, aber es gibt keine Spur von Illona«, führte der Major der COBRA weiter aus.
Chester hatte keine Zweifel an der Gründlichkeit der Beamten der Wiener Einsatzgruppe Alarmbereitschaft. Bereits bei der Verhinderung der Anschläge auf die Botschaften von Israel und der USA in Wien durch die Terroristen um Illona Nagy hatte die WEGA wertvolle Dienste geleistet.
»Mehr Spuren haben wir nicht? Keiner der Fahndungsaufrufe hat etwas eingebracht? Weder am Flughafen noch an den Grenzübergängen?«, hakte Dov frustriert nach.
»Nein, nicht die kleinste Spur«, schüttelte Major Stanzer bedauernd den Kopf.
Die nächsten Stunden ging jeder der Männer nochmals alle Einträge zu den gesuchten Personen durch. Chester hatte bald den Eindruck, Rafiq Miqati und Raghib al-Musawi besser als alle seine Freunde zu kennen. Beide gehörten dem terroristischen Arm der Hisbollah an, waren extrem gefährliche Terroristen. Doch beide zusammen waren nicht so gefährlich wie Ron Nagav, der Verräter und Mörder. Chester hatte immer noch Mühe, seine Fassung zu bewahren, wenn er an den ehemaligen Angehörigen der Yamam dachte. Er hatte Ron als Agenten der israelischen Antiterroreinheit der Grenzpolizei kennen und schätzen gelernt. Spät, zu spät für zwei Beamte der COBRA, hatte er in ihm den Verräter erkannt. Bei dem Zugriff im Prater hatte Ron durch gezielte Distanzschüsse zwei Angehörige der COBRA getötet und damit die Flucht der anderen Terroristen ermöglicht.
Zusammen mit Dov wollte er diesen vier Terroristen das Handwerk legen. Sie mussten davon ausgehen, dass weitere Anschläge geplant wurden, und die galt es zu verhindern.
»He, was ist das denn?«, staunte Chester, als ein Icon auf seinem Computer zu blinken begann.
Dann erinnerte er sich wieder an die Einführung durch Frank und wechselte in sein gesichertes Postfach im Intranet der CTO. Dort war tatsächlich eine Nachricht mit höchster Dringlichkeit eingegangen. Mit wachsender Erregung las Chester die Nachricht, druckte sie schließlich aus. Mit dem Ausdruck in der Hand eilte er zu Dov Bugalas Schreibtisch.
»Hier, lies dir das einmal durch. Meine Kollegen aus Fort Bragg haben den Mitschnitt eines Telefonates von der NSA erhalten«, sprach Chester betont gelassen, wollte den Kollegen von der Mossad nicht durch sein Auftreten beeinflussen.
Die Abhörspezialisten der National Security Agency hatten ein Telefonat zwischen Illona Nagy und einem gewissen Azem Mekuli mitgeschnitten. Da Mekuli ein bekannter Separatist der ›Befreiungsarmee von Presevo, Medvedja und Bujanovac (UCPMB)‹ war, hatte der Mann bei der NSA dieses Telefonat archiviert. Bei einem Routinecheck mit Namen von Personen, die in laufende Operationen der CTO verwickelt waren, fiel dann der Name Illona Nagy auf. Somit landete eine Kopie des Mitschnitts auf dem Schreibtisch von Colonel Berkovicz, dem operativen Leiter in Fort Bragg.
»Mekuli? Verdammt, wo habe ich diesen Namen schon einmal gelesen?«, grübelte Dov und starrte die Meldung an.
»In unseren Dateien über zwielichtige Gestalten auf dem Balkan vielleicht?«, schlug Frank Stanzer vor, der neugierig zu den beiden Männern an den Schreibtisch getreten war.
Der Major beugte sich über die Tastatur und gab einige schnelle Befehle ein. Kurz darauf erschien ein komplettes Dossier über Azem Mekuli.
»Was für ein nettes Kerlchen«, kommentierte Dov, nachdem er die Einträge überflogen hatte.
Mekuli hatte sich einen Ruf als Kommandeur der UCK gemacht. Mit kleinen Kommandotrupps war er in überwiegend von Serben bewohnte Gebiete eingedrungen und hatte verbrannte Erde zurückgelassen. Mord und Folter sah Mekuli während des Kosovokonfliktes als eine berechtigte Form des Krieges an. Allerdings nur, solange nicht Kosovaren die Opfer waren. Was bei der UCK als berechtigte Aktion galt, wurde auf Seiten der Serben als terroristischer Akt gewertet.