Jane lenkte den Peugeot an den Rand der Straße, schaute verblüfft die lange Gerade hinunter. Kein Wagen weit und breit, dabei hatte sie den Mercedes noch vor einer Minute vor sich auf der Straße gehabt.
Urplötzlich blendeten Scheinwerfer von rechts in ihren Wagen, und Jane schloss automatisch die geblendeten Augen. Der kurze Schmerz in ihrem Nacken zeigte ihr, wie erfolgreich man sie abgelenkt hatte.
»Vergeigt, Mädchen«, murmelte sie, bevor ihr Kopf haltlos auf ihre Brust sackte.
Chester McKay stand bis zur Hüfte im Snake River und warf die Leine weit hinaus in die Strömung. Er genoss seine Urlaubswoche und erholte sich im Grand-Teton-Nationalpark bestens.
Seine kleine Hütte lag nur eine Stunde Fußmarsch von dieser Stelle entfernt und bot einen fantastischen Ausblick auf die Teton-Bergkette. Ruhe pur und keine Menschen, die mit ihrem Lärm seine Erholung stören konnten. Es war erst der dritte von acht Urlaubstagen, bevor er wieder nach Fort Bragg zurückkehren musste. Der Agent der CTO hatte also noch viel Zeit für sich.
»He, was soll das denn werden?«, rief Chester aus, als ein sehr vertrautes Geräusch beständig lauter wurde.
Das geschulte Ohr des Kampfhubschrauberpiloten hatte die Verursacher des Geräusches sehr früh als Rotoren erkannt, und nun suchte Chester mit seinen grauen Augen den Himmel nach dem Störenfried ab. Er tippte auf den Zivilhubschrauber eines betuchten Ranchers, der seine Weidenflächen abflog. Dass ein generelles Überflugverbot für den Nationalpark bestand, schien diesen Piloten wenig zu kümmern.
Das Rotorengeräusch wurde schnell lauter, und dann huschte ein dunkler Schatten über eine Baumreihe. Chesters Augen, geschützt durch eine Sonnenbrille, erfassten die Silhouette des Hubschraubers und schließlich auch die Kennung an der Seite. Zu seiner großen Überraschung handelte es sich um einen HH-60 Pave Hawk, die spezielle Variante eines Black Hawk für Pararescue Jumper.
»Ganz übel, mein Alter. Irgendetwas sagt mir, dass dieser Vogel deinetwegen das Flugverbot missachtet«, knurrte Chester im Selbstgespräch und holte bereits seine Angelschnur ein.
Der Black Hawk überflog die Windung des Snake Rivers und landete dann ein Stück nordöstlich im Kiesbett. Eine Gestalt sprang aus der hinteren Luke und eilte auf Chester zu. Der Mann trug den typischen grünen Fliegeroverall und hatte nicht einmal seinen Flughelm abgenommen. Er hielt einen Meter vor Chester an, salutierte.
»Warrant Officer Randolph. 1st Lieutenant Chester McKay?«, fragte der Pilot des Hubschraubers vorsichtshalber nach.
Chester zückte seinen Dienstausweis und klappte ihn auf. Jane hatte ihm eingeschärft, den Ausweis ständig bei sich zu tragen. Zumindest solange er sich nicht im verdeckten Einsatz befand.
»Tut mir sehr leid, Sir. Wir haben strikten Befehl, Sie zum Stützpunkt zu bringen. Sofort!«, entschuldigte sich der Pilot, nachdem er einen verstehenden Blick auf die Fliegenangel geworfen hatte.
»Meine Sachen befinden sich in einer Hütte, etwa zehn Minuten Flugzeit nördlich von hier. Können wir die noch einsammeln?«, fragte Chester.
»Wir holen Ihre Sachen gerne später ab und bringen sie auf dem Stützpunkt unter, Sir. Jetzt fehlt uns die Zeit dafür«, schüttelte der Warrant Officer den Kopf und trabte bereits an, nachdem er die Tasche mit den restlichen Angelsachen gepackt hatte.
Chester seufzte ergeben und lief mit dem Piloten zum Hubschrauber. Er kletterte an Bord und setzte sich auf einen Sitz in der Nähe des Cockpits. Randolph hatte bereits seinen Platz auf der linken Seite wieder eingenommen. Er drehte sich zu Chester um und deutete auf den rechten Pilotensitz.
»Der Overall ist für Sie. Wenn Sie drinstecken, setzen Sie sich bitte dorthin, Lieutenant. Ich habe Anweisungen, Ihnen auf diesem Flug eine Einweisung auf den Black Hawk zu geben«, überraschte Warrant Officer Randolph Chester erneut.
Achselzuckend fügte Chester sich und nahm den rechten Pilotensitz ein, nachdem er in den Overall mit seinen Rangabzeichen geschlüpft war. Der zweite Pilot des Black Hawk hatte bereits den Sitz geräumt und reichte Chester seinen Pilotenhelm. Chester setzte den Pilotenhelm auf und hatte gleich darauf Randolphs Stimme im Ohr.
Chesters Blick erfasste das etwa 25 Quadratkilometer große Areal des Militärstützpunktes Rota am Ende der Straße von Calvario. Die Spanier hatten hier ihre größte Marinebasis, zu der unter anderem der Flugzeugträger Principe de Asturias mit seinen vielen Begleitschiffen gehörte.
Vor rund 30 Stunden hatte Chester noch bis zur Hüfte im Snake River gestanden und geangelt. Dann hatte ihn ein Black Hawk Hubschrauber eingesammelt, und seitdem wechselte er die Fluggeräte schneller als seine Unterwäsche. Sogar eine Kurzeinweisung in den Black Hawk hatte die Counter Terror Operations eingebaut.
Seine Instruktionen für diesen Einsatz hatte er von Lieutenant General Forster, dem Kommandeur der CTO, höchstpersönlich erhalten.
»Agent Blair ist in Rota verschwunden. Nehmen Sie die Spur auf und bringen Sie mir Jane heil zurück«, hatte der General lapidar gefordert.
Die genauen Instruktionen hatte Chester dann an Bord des USS Harry S. Truman, einem Flugzeugträger der 6. Flotte im Mittelmeer, gelesen. Von dort flog er jetzt als Pilot eines Sea Hawk Hubschraubers, der seegestützten Variante des Black Hawk, zum Stützpunkt Rota. Seine offizielle Order sah vor, dass er an einem speziellen Trainingsprogramm mit spanischen Hubschrauberpiloten teilnahm. Es ging um die Einweisung in die Taktik der jeweils anderen NATO-Streitmacht. Soweit der offizielle Part, aber das war natürlich nur Tarnung für seinen Einsatz als Agent der Counter Terror Operations, kurz CTO genannt.
»Naval Station Rota, bitte kommen«, leitete Chester seinen Endanflug auf den Stützpunkt ein.
Keine halbe Stunde später meldete er sich beim Kommandeur und besprach seinen Auftrag mit dem Flaggoffizier. Der versprach uneingeschränkte Unterstützung, und erneut erhielt Chester einen lebhaften Eindruck, wie mächtig die CTO war.
Ein Unteroffizier hatte Chester dann mit einem Humvee zu den Offiziersunterkünften gefahren, wo er ›zufällig‹ das Zimmer neben Janes Unterkunft zugewiesen bekommen hatte. Er schnappte sich sein Gepäck und stiefelte in den zweiten Stock des Wohnheimes. Dort warf Chester seine Taschen nur schnell ins Zimmer, bevor er mit dem Nachschlüssel in Janes Raum ging.
Er blieb nachdenklich den Raum musternd an der Tür stehen, nahm alles in sich auf. So hatte er es in einer besonderen Schulung bei der CTO gelernt. Es war bereits sein zweiter Feldeinsatz für die CTO, obwohl er erst seit acht Monaten dazugehörte. Aber das war nicht das einzig Ungewöhnliche an Chesters Laufbahn, bedachte man seinen Angriff mit einem Apache Kampfhubschrauber auf Drogendealer in Riverton/Wyoming.
Damit hatten seine Waffensystemoffizierin Lindsey Wagner und er einen Übergriff der Gangster auf die Kinder der Elementary School von Riverton verhindert. Gegen die strikte Order des damaligen Einsatzoffiziers, was einen anschließenden Kriegsgerichtsprozess zur logischen Folge hatte. Lindsey wurde unehrenhaft entlassen; man rechnete ihr die besondere emotionale Stresssituation an, da ihre Tochter sich zur Zeit des Einsatzes in der Elementary School aufgehalten hatte. Chester wurde unter Aberkennung seines Ranges zu 20 Jahren Militärgefängnis in Fort Leavenworth verurteilt. Doch als Alternative zu dem Gefängnisaufenthalt hatte man ihm eine zehnjährige Dienstzeit bei der CTO angeboten.
Anfangs hatte Chester es abgelehnt, doch dann hatte er sich überzeugen lassen und steckte bald darauf in einem haarsträubenden Einsatz im Kongo. Da auch Lindsey ihren Weg zur CTO gefunden hatte, führten sie den Job in Afrika gemeinsam durch. Jane Blair war damals ihr Führungsoffizier gewesen, und schließlich hatten Chester und sie die Operation in Alabama allein zu Ende geführt.
Bei dem Gedanken an diese gemeinsame Zeit tauchten kurz hintereinander beide Frauengesichter vor seinem inneren Auge auf. Verärgert schob Chester diese störenden Gedanken zur Seite, konzentrierte sich auf die bevorstehende Aufgabe.
»Wo steckst du, Jane?«, murmelt er leise und fing an, das Zimmer systematisch zu durchsuchen.
Wie erwartet, hatte Jane keine gefährlichen Aufzeichnungen getätigt. Wenn es verwertbare Dokumente gab, dann nur auf dem Laptop. Das Gerät lag auf dem kleinen Schreibtisch unter dem Fenster. Chester setzte sich auf den Stuhl davor und schaltete das Gerät ein. Als er das personifizierte Loginfenster auf dem Bildschirm hatte, wählte er über eine abhörsichere Verbindung die Zentrale der CTO in Fort Bragg an. Dort erwartete ein Systemtechniker seinen Anruf und verhalf Chester zum Einstieg in Janes gesicherte Dateien.
»Dann wollen wir mal sehen, was du gefunden hast«, meinte Chester und klickte sich durch die Verzeichnisse.
Aufmerksam las er alle Tagesprotokolle und blieb schließlich an der Datei über einen spanischen Piloten hängen.