Leseprobe – Pest von England


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Kapitel 1

Der scharfe Wind trieb eisigen Regen gegen die dicken Mauern der alten Burg in den Highlands. Rafiq Miqati schüttelte sich, verfluchte diese feuchte Kälte, die er aus seiner Heimat im Nahen Osten nicht kannte. Er wartete auf den Anruf von Illona Nagy, der blonden Terroristin aus Ungarn. Er hasste und fürchtete die gefährliche Frau gleichermaßen, hatte bereits vor längerer Zeit ihren Tod geschworen.

»Ja, ich bin bereit«, sicherte er daher einige Minuten später der Anruferin eilig zu, auch wenn seine Augen vor Hass glühten.

Er hatte weisungsgemäß erst nach dem fünften Läuten den Anruf angenommen, wobei er vorher ein besonderes Schutzsystem aktiviert hatte. Alle Kommunikationswege in dieser alten Burg waren auf dem modernsten Stand der Technik und bewiesen einmal mehr, über welche Mittel diese geheimnisvolle Org verfügte. Bis zu seinem Auftrag in Wien hatte Rafiq wenig über seine Aufgaben nachgedacht. Ihm reichte das Wissen, dass er für seine Taten ins Paradies einziehen würde. Seitdem hatte er lernen müssen, dass die weißen Teufel jedem das nackte Grauen einjagen konnten. Besonders die mächtige Org beschäftigte Rafiq.

»Ja, die Virenstämme sind verteilt, und wir können die Epidemie jederzeit auslösen«, versicherte er eilfertig.

Er lauschte aufmerksam Illona Nagys Anweisungen, dann beendete er das Gespräch. Genauer gesagt, legte die blonde Frau im fernen Berlin grußlos auf. Der Mann aus dem Libanon ließ eine Reihe böser Verwünschungen gegen Illona vom Stapel. Im gleichen Moment stieß eine besonders heftige Windböe einen Fensterflügel auf. Rafiq erbleichte und fuhr zu Tode erschrocken herum. Er benötigte eine Weile, bis er sich von diesem bösen Omen erholt hatte. Jetzt konnte er nur noch warten, bis Illona Nagy das vereinbarte Signal zur Freisetzung der genmanipulierten Pestviren geben würde. Der Gedanke an die sich daran anschließende Panik der Ungläubigen in England versetzte Rafiq sofort in Hochstimmung.

 

Chester McKay fühlte sich reichlich unwohl, als er von einer Mitarbeiterin der deutschen Bundeskanzlerin zu der mächtigsten Frau Deutschlands geführt wurde. Deren Einladung zu einem Arbeitsessen hatte der Agent der Counter Terror Operations vor drei Tagen erhalten. Dabei hatte Chester die Frau bisher nur ein Mal persönlich getroffen und sie nicht einmal als Bundeskanzlerin erkannt. Erinnerungen an den ehemaligen deutschen Innenminister stiegen in ihm auf. Der Mann hatte sich als williges Werkzeug der ominösen Org entpuppt, die seit Monaten eine Spur der Verwüstung quer durch Europa zog. Nicht nur die CTO jagte die Terroristen der Org, allen voran Illona Nagy. Die Europäer unter Führung der TREVI (Terrorisme, Radicalisme, Extremisme et Violence Internationale), einer Sondereinheit der Europol, hatten die Amerikaner effektiv unterstützt.

»Bitte, Sir. Die Bundeskanzlerin erwartet Sie bereits«, erklärte die junge Assistentin, gewährte dem braunhaarigen Mann mit den grauen Augen ein neugieriges Lächeln.

Chester dankte ihr mit einem Nicken, atmete durch und betrat den gemütlich eingerichteten Raum. Weiche Teppiche bedeckten das teure Holzparkett, in einem Kamin flackerte ein Feuer, und in der Mitte des Raumes stand ein Esstisch. Das große Fenster zu seiner Linken zeigte das nächtliche Panorama von Berlin, der Hauptstadt des geeinten Deutschlands. Die zierliche blonde Frau ging auf Chester zu und umfasste die dargebotene Rechte des Amerikaners mit ihren schlanken Händen. Gerade hatte sich Chester ein wenig entspannt, als er Oberrat Wilhelm Rost vom Bundeskriminalamt entdeckt hatte. Seine Befürchtung, mit der deutschen Bundeskanzlerin allein speisen zu müssen, hatte sich damit als unnötig herausgestellt.

»Hallo, Chester. Ich darf Sie doch so nennen?«, freute die jugendlich wirkende Frau sich sichtlich über sein Erscheinen.

Sofort erinnerte Chester sich an die spöttischen Bemerkungen seiner Kollegen, wobei Jane nicht nur spöttisch reagiert hatte. Schnell schob er die störenden Gedanken zur Seite, erwiderte das warme Lächeln der mächtigen Frau.

»Natürlich, Frau Bundeskanzlerin. Vielen Dank für die Einladung«, beeilte Chester sich zu versichern, übersah geflissentlich das amüsierte Lächeln auf Rosts rundlichem Gesicht.

»Ursula, solange wir unter uns sind«, bat ihn die Frau und Chester nickte nur.

Dann konnte er endlich den Mann vom Bundeskriminalamt begrüßen, mit dem ihn bereits eine Freundschaft verband. Dabei kannten die beiden Terroristenjäger sich erst seit kurzer Zeit, als Wilhelm Rost die Funktion des getöteten Polizeirates Grüner eingenommen hatte. Die Bilder der Explosion in Potsdam, die dem Deutschen den Tod gebracht hatten, schossen Chester unwillkürlich wieder durch den Kopf. Ein weiterer Toter, der Illona Nagy anzulasten war.

»Will, schön, dich zu sehen«, zeigte Chester sich erfreut über das unvermutete Zusammentreffen mit Rost.

»Wie gesagt, Chester, es wird ein Arbeitsessen, und das Thema dürfte uns allen klar sein«, erinnerte die Bundeskanzlerin an ihre Anwesenheit.

Die beiden Männer warteten höflich ab, bis die blonde Frau sich gesetzt hatte. Erst dann nahmen sie links und rechts am Tisch Platz, worauf drei Kellner wie durch Zauberhand die Vorspeisen auftrugen.

»Ja, Ma’am, ich meine, Ursula. Die Org ist immer noch im Besitz der manipulierten Pestviren und Illona Nagy auf freiem Fuß«, fasste Chester bitter zusammen.

Seit Monaten jagte er mit seinen Kollegen von der CTO und der Unterstützung verschiedener Dienste diese extrem gefährliche Frau. Keiner wusste, wie sie den Weg zur Org gefunden hatte. Diese unheilige Allianz hatte die Lage enorm verschärft und zu einer Bedrohung von ganz Europa geführt. Es war der Org gelungen, die ansonsten untereinander oft zerstrittenen Terrorgruppen in ganz Europa zum gemeinsamen Handeln zu führen. Damit verhinderte die Org unter anderem, dass die Dienste sich ausschließlich um die Zerschlagung der Org kümmern konnten. Hier blieb die CTO federführend und das auch nur, weil Madame Sorbet, die Leiterin der TREVI, sich dafür stark gemacht hatte.

»Bringen Sie mich bitte auf den neuesten Stand, Chester. Anschließend wird Will uns über die Bedrohungslage in Deutschland berichten«, forderte die Bundeskanzlerin ihn auf.

 

Chester hatte seinen Vortrag sorgfältig ausgearbeitet und ging zurück bis zum ersten Auftauchen der libanesischen Terroristen in Rota. Damals hatte Chester seinen Urlaub abbrechen müssen, um Jane Blair in Spanien zu Hilfe zu eilen. Seine Kollegin hatte einen Spion gejagt und war urplötzlich verschwunden. Chester hatte sich, als Marinepilot getarnt, auf ihre Spur gesetzt, war dabei einem Agenten des Yamam in die Quere gekommen. Seit diesen Tagen jagte die CTO mit wechselnden Partnern zwei extrem gefährliche Terroristen aus dem Libanon. Chester hatte Mühe, sich an alle Orte zu erinnern, an die es ihn seitdem geführt hatte. Städtenamen wie Rota, Haifa, Beirut, Wien, Gjilan, Potsdam und Berlin hatte er vorher nur zum Teil gekannt. Während seiner Zeit als Army Ranger und später als Pilot eines Apache-Kampfhubschraubers hatte er es mit Einsätzen in Afghanistan zu tun gehabt. Bei seiner Vorbereitung auf dieses Gespräch mit der deutschen Bundeskanzlerin war Chester nochmals die Szene aus Riverton hochgekommen. Drogendealer standen damals kurz vor der Geiselnahme von fast hundert Grundschülern, als der Sheriff aus Riverton verzweifelt um Unterstützung bat. Chesters Kopilotin hatte ihre Tochter an der Elementary School von Riverton und wurde so unvermittelt mit dieser Bedrohung konfrontiert. Chester suchte in der Einsatzleitstelle der Army um die Erlaubnis nach, dem Hilferuf des Sheriffs Folge leisten zu dürfen. Mit ihrem schwer bewaffneten Kampfhubschrauber waren 1st Lieutenant Chester McKay und 2nd Lieutenant Lindsey Wagner die einzig verfügbare Unterstützung in der weiteren Umgebung von Riverton. Alle späteren Abenteuer folgten aus der Entscheidung, die Chester damals getroffen hatte.

»Unser konzentrierter Zugriff hat den Tod des gefährlichen Terroristen Raghib al-Musawi zur Folge gehabt. Damit haben wir den Plänen der Terroristen einen herben Schlag versetzt, da zeitgleich in vielen Städten Europas Mitläufer festgenommen und ganze Zellen ausgehoben werden konnten«, war Chester nahezu am Ende des Vortrages.

Er schnitt sich ein Stück des hervorragenden Hüftsteaks ab und kaute es genussvoll. Im Laufe der Zeit hatte der Agent der CTO gelernt, die grausamen Bilder aus seinen Einsätzen zeitweilig zu verdrängen und Momente des Friedens zuzulassen.

»Bleibt die Frage nach diesem anderen Terroristen und vor allem der Org. Was wissen Sie über den derzeitigen Aufenthaltsort von Miqati oder Nagy? Was plant die Org?«, wollte die Bundeskanzlerin aber auch den Rest über die laufenden Ermittlungen gegen die Terroristen wissen.

»Es gibt einige Hinweise darauf, dass Rafiq Miqati sich in England aufhält. Das MI5 geht diesen Informationen auf den Grund. Wo Illona Nagy sich aufhält? Vermutlich hier in Berlin oder in der Nähe. Sie scheint der Kopf der laufenden Operationen der Org zu sein«, beantwortete Chester die Fragen nach bestem Vermögen.

Er warf Will einen Blick zu, der diesen richtig deutete.

»Wir verfolgen eine Reihe von Spuren, die uns zu Illona Nagy führen sollen. Das Netzwerk der Org hat Löcher erhalten durch die letzten Schläge von unserer Seite. Wir haben unsere besten Leute darauf angesetzt, und Madame Sorbet unterstützt uns mit allen Mitteln der TREVI«, ergänzte Wilhelm Rost, der Mann vom Bundeskriminalamt.

Die Kanzlerin hielt den schmalen Kopf mit den blonden Haaren über ihren Teller gesenkt, gewährte den Männern einen Blick auf ihren zierlichen Nacken.

»Gibt es irgendetwas, was Ihre Arbeit erleichtern könnte? Kann ich Ihnen mehr Unterstützung verschaffen?«, hob die hübsche Blondine den Kopf und sah zwischen den beiden Männern hin und her.

Chester hatte eine Idee, wusste sie aber nicht neutral zu formulieren. Die Bundeskanzlerin erkannte seine Nöte.

»Sprechen Sie bitte ganz offen, Chester. Raus mit der Sprache! Was ist es?«, forderte Ursula den Amerikaner auf.

»Äh, es gäbe da etwas. Also, ähm, es geht um die Org und ihr Netzwerk hier in Deutschland«, druckste Chester herum.

»Unser Freund von der CTO möchte, dass wir die Landsmannschaften unter ständiger Beobachtung halten und dadurch zu den Hintermännern der Org geführt werden«, sprach Will Chesters Wunsch aus.

Der zuckte leicht zusammen, angesichts der unverblümten Ansprache seines Freundes. Chester hatte sich in dieser Hinsicht ausgiebig mit Colonel Berkovicz in Fort Bragg besprochen. Der Einsatzleiter der CTO hatte alle Argumente sorgfältig abgewogen und dann Chester zu sehr vorsichtiger Annäherung an dieses heikle Thema geraten. Die Bundeskanzlerin musste sehr viel Rücksicht auf die Befindlichkeiten der verschiedenen Landsmannschaften nehmen. Diese Gruppen stellten im Grunde die Nachkommen einst aus östlichen Gebieten vertriebener Deutscher dar. Als Chester sich mit diesen Landsmannschaften und ihren historischen Hintergründen beschäftigt hatte, hatte ihm bald der Kopf geschwirrt. Zu kompliziert erschien ihm die europäische Geschichte, bei der es ein ständiges Hin und Her zwischen Opfern und Tätern zu geben schien. Schon im Kosovo hatte ihm diese Zwiespältigkeit zu schaffen gemacht.

»Wenn es wesentlich zur Zerschlagung der Org führt, werden wir auch vor solchen unpopulären Schritten nicht zurückweichen. Kümmern Sie sich gleich darum, Will!«, kam es entschlossen von der Bundeskanzlerin.

Der Oberrat des BKA nickte zustimmend, und Chester staunte über die Leichtigkeit dieser Angelegenheit. Auf der anderen Seite hatte die Org in den vergangenen Wochen mehr als eindrucksvoll ihre Gefährlichkeit unter Beweis gestellt. Einst vom deutschen Wehrmachtsgeneral Gehlen als »Fremde Heere Ost« gebildet, war der Geheimdienst der Armee zur »Organisation Gehlen« geworden. Die Alliierten hatten die Strukturen in Osteuropa genutzt, um gegen die ehemaligen Verbündeten zu spionieren. Ein eigenes Netzwerk hatten sie nicht gehabt, daher hatten sie auf die »Organisation Gehlen« zurückgegriffen. Später hatte sich daraus der deutsche Auslandsnachrichtendienst BND (Bundesnachrichtendienst) entwickelt, der anfangs weiterhin auf die Strukturen hinter dem Eisernen Vorhang zugegriffen hatte. Doch dann hatte Gehlen seinen Einfluss verloren, und in den 60er-Jahren war die »Organisation Gehlen« scheinbar in Vergessenheit geraten. Während sie für die westlichen Länder und deren Dienste in der Versenkung verschwunden war, hatte die bald nur noch Org genannte Organisation ihre Machtposition in den osteuropäischen Ländern permanent ausgebaut. Nach dem Fall der Mauer und dem endgültigen Zusammenbruch des Ostblocks hatte die mittlerweile extrem mächtige und sehr gefährliche Org ihre Fühler auch in die westliche Hemisphäre ausgestreckt. Dadurch war sie in die Ermittlungen der CTO geraten, und seitdem bekämpfte Chester McKay diese Organisation. Bisher allerdings mit sehr begrenztem Erfolg. Eine Beobachtung des speziellen Netzwerkes der Org in Hinsicht auf die Landsmannschaften konnte ihnen beträchtlich weiterhelfen.

»Vielen Dank, Ursula. Damit sollten wir bald über mehr Informationen über die Pläne der Org verfügen«, dankte Chester der Bundeskanzlerin, die ihm aufmunternd zulächelte.

 

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