Prolog
Die ersten Regentropfen zerplatzten auf dem Deck der Jacht. Baron starrte hinaus in den pechschwarzen Himmel über der Marina und überlegte seinen nächsten Schritt. Schließlich schnappte er sich das Mobiltelefon und wählte eine Nummer aus. Nach dem dritten Freizeichen meldete sich eine mürrische Stimme, die sich jedoch sofort veränderte, als sich Baron zu erkennen gab.
»Er muss verschwinden. Jetzt sofort«, befahl er.
Sein Gesprächspartner hinterfragte nicht die Anweisung des Mannes mit den vielen Narben im Gesicht. Baron Cayetano widersprach man nicht.
Er warf das Telefon zurück auf den Kartentisch und hob sein verschwitztes Gesicht an, um einige Regentropfen zu erhaschen. Die Schwüle, die den ganzen Tag wie eine Glocke über Key West gelegen hatte, würde mit dem Regen verschwinden. Nicht nur sie. Barons Lippen verzogen sich zu einem harten Grinsen.
Sam wusste, dass er einen unverzeihlichen Fehler gemacht hatte. Ein Baron Cayetano ließ sich nicht dermaßen provozieren, ohne darauf zu reagieren. Er hatte beide Seitenscheiben des betagten Ford Mustang Fastback geöffnet, um wenigstens ein wenig Abkühlung zu erhalten. Als der erste Tropfen auf der von toten Insekten verdreckten Frontscheibe aufschlug, stieß Sam unwillkürlich einen erleichterten Seufzer aus.
»Endlich. Ein Problem weniger«, murmelte er.
Sam schaltete das Radio ein und suchte einen Sender, der gute alte Rock’n’Roll Musik spielte. Der hämmernde Beat des Songs vermischte sich mit dem sonoren Brummen der schweren Maschine unter der Motorhaube des Mustangs. Langsam entspannte Sam sich ein wenig. Als er den Scheibenwischer einschaltete, verschmierten die Blätter den angetrockneten Dreck zu einem undurchsichtigen Film. Fluchend erinnerte Sam sich daran, dass er hätte längst neue Blätter montieren wollen. Jetzt war es zu spät, also drosselte er das Tempo und rollte aus. Sam suchte im Handschuhfach und in der Mittelkonsole nach einem Lappen. Er fand ihn schließlich im Fußraum vor der schmalen Rückbank. Als Sam sich wieder aufrichtete, meinte er in der Dunkelheit eine Art Feuerschweif zu erkennen. Er stieß die Fahrertür auf, stieg aus und wurde im nächsten Augenblick von den Füßen gefegt. Der Mustang wurde von einer unsichtbaren Faust angehoben und über den auf dem Asphalt liegenden Sam geschleudert. Während er langsam in eine gnädige Ohnmacht versank, registrierte er den unwirklichen Tanz des Oldtimers im strömenden Regen. Der Wagen kreiselte durch die Dunkelheit und schlug etwa zehn Yards von Sam entfernt neben der Straße auf.
Kapitel 1
Sein Aufbruch erinnerte mehr an eine Flucht. Mark Thorin erhielt am frühen Morgen den Anruf von Sandra Oldsen, die er zuerst kaum verstehen konnte. Die Frau seines Freundes schluchzte haltlos, und es kostete Mark einige Mühe, den Grund dafür aus ihr herauszukitzeln. Als es ihm gelungen war, fasste er umgehend den Entschluss, sofort nach Key West aufzubrechen. Zum Glück hatte der Special Agent der Counter Terror Operations seinen aktuellen Fall vor zwei Tagen abgeschlossen. Mark bummelte Überstunden ab und musste daher niemanden um Erlaubnis fragen.
»Ich komme heute noch auf die Insel, Sandra«, hatte er ihr versprochen.
Seitdem waren vier Stunden verstrichen, in denen Mark seine Reise arrangiert hatte. Jetzt saß er auf dem Sitz in einer Beechcraft, die regelmäßig Passagiere und Fracht zu den Inseln in der Karibik flog. Mark hatte das Glück gehabt, den letzten verfügbaren Platz zu ergattern. Seine Sitznachbarin hatte ihn sofort in Beschlag genommen, und so erfuhr Mark ihre Lebensgeschichte, bis hin zur zweiten Scheidung. Als Ausgleich für den Stress gönnte die blonde Erica sich drei Wochen Inselhopping in der Karibik.
»Möchten Sie auch?«, fragte sie Mark und streckte ihm eine Flasche Mineralwasser hin.
Da er selbst keine entsprechende Vorsorge hatte mehr treffen können und es in der Maschine keinen Bordservice gab, nahm er die Erfrischung dankend an. Während Mark einige Schlucke trank, glitt sein Blick hinaus auf die Tragfläche der Beechcraft King Air. Der dunkelblaue Anstrich gab der schnittigen Propellermaschine eine elegante Note, die so gar nicht zu dem Piloten passte. Er hatte sich als Walter Gonsalves vorgestellt, als er Mark im North Terminal am Miami International Airport eingesammelt hatte. Der farbige Pilot trug verbeulte Khakihosen mit einem verblichenen Poloshirt darüber. Zunächst hatte Mark Zweifel gespürt, ob er sich in die richtigen Hände für die Reise gegeben hatte. Doch beim Anblick der eleganten Beechcraft verflog alle Skepsis, und er freute sich auf den Flug.
»Sie machen wohl keinen Urlaub in Key West, oder?«, fragte Erica und verdrängte damit die Erinnerungen.
Mark wandte sich um und schüttelte den Kopf.
»Nein, ich besuche einen Freund. Er hatte einen Unfall«, erwiderte er offen, ohne jedoch auf die näheren Umstände einzugehen.
Sam Oldsen und Mark Thorin waren fast vier Jahre lang Partner bei der Miami-Dade Police gewesen. Sie fuhren zusammen Streife und wurden verlässliche Freunde. Während Mark zur Army ging und nach seinem Dienstende zur CTO wechselte, kehrte Sam zurück nach Key West. Genau wie Mark war er hier aufgewachsen. Auf der Insel übernahm der wortkarge Mann den Posten des Captains im Operations Bureau, da er so mehr Zeit für seine Familie hatte. Im Grunde war er ein gut bezahlter Verwaltungsbeamter geworden, während Mark seit nunmehr fast drei Jahren als Agent des CTO gegen das internationale Verbrechen kämpfte. Dennoch musste sein Freund irgendwelchen Gangstern mächtig auf die Füße gestiegen sein, wenn die sich zu einem Anschlag auf den Captain veranlasst fühlten.
»Die Insel ist wirklich wunderschön, nicht wahr?«, rief die aufgeregte Erica.
Sie unterbrach damit erneut die Flut an Erinnerungen, die Mark seit seinem Aufbruch bedrängten.
Er schaute ebenfalls aus dem Fenster und musste eingestehen, dass Key West aus dieser Höhe tatsächlich wie ein Paradies wirkte. Sobald Mark sich aber an den Anlass seiner Rückkehr erinnerte, verflog dieser Eindruck sofort wieder. Auf dem kleinen Flugplatz der Insel verabschiedete Mark sich knapp von der sichtlich enttäuschten Erica und eilte hinüber zum Ausgang. Er winkte ein Taxi heran und ließ sich direkt zum Krankenhaus fahren. Mark war sehr gespannt, was Sam ihm über die Hintergründe des Anschlages würde erzählen können.
Auf dem Gang vor Sams Krankenzimmer stieß Mark zunächst auf einen uniformierten Wachposten.
»Ich bin ein alter Freund und Kollege. Special Agent Mark Thorin, CTO«, erklärte er und zeigte seine Marke vor.
Der Officer nickte zufrieden und trug Marks Namen in eine Liste ein. Gerade als der die Klinke packen wollte, öffnete sich die Tür, und ein hochgewachsener Mann in der Uniform eines Chiefs wollte das Zimmer verlassen. Er war in Begleitung einer dunkelhäutigen Frau.
»Wer sind Sie?«, bellte der Chief und fixierte Mark mit gefurchter Stirn.
»Das ist Agent Thorin von der CTO, Sir«, übernahm der Officer die Antwort.
Einige Sekunden lang starrten Mark und der Chief sich an, bis die farbige Frau beide Männer vor sich her bis zu einer Sitzreihe an der Wand schob. Die füllige Figur ließ sie wie die typische Nanny in vielen Fernsehserien aussehen. Ihr energisches Auftreten passte zu dieser Assoziation.
»Lorna Barette, und das ist Chief Theodore Rankin. Wieso interessiert sich die Counter Terror Operations für Captain Oldsen?«, übernahm sie die offizielle Vorstellung und schob umgehend eine Frage hinterher, was Mark zu einem amüsierten Schmunzeln verleitete.
»Irgendetwas lustig daran, Agent Thorin?«, schnappte Chief Rankin und stierte Mark böse an.
Offenbar neigte Sams Vorgesetzter zu cholerischem Verhalten.
»Ich bin als Freund hier und nicht in meiner Funktion als Ermittler der CTO«, erwiderte Mark.
Barette und Rankin tauschten einen verblüfften Blick aus. Bevor dieses Geplänkel in die nächste Runde gehen konnte, ging erneut die Zimmertür auf, und Sandra schaute verärgert in den Gang hinaus. Als sie jedoch Mark erkannte, eilte sie mit einem erleichterten Gesichtsausdruck auf ihn zu und umarmte den Freund.
»Schön, dass du so schnell kommen konntest. Sam wird sich sehr freuen«, sagte sie.
Chief Rankin musterte die beiden und räusperte sich schließlich.
»Vielleicht können Sie es einrichten, später in meinem Büro vorbeizuschauen«, bat er Mark.
Der quittierte es mit einem Nicken. Er hatte sowieso geplant, mit den Kollegen vor Ort über den Anschlag zu sprechen. Während der Chief und seine Begleiterin sich verabschiedeten, zog Sandra ihn mit sich. Als Mark ins Krankenzimmer trat, erfasste er die zur Hälfte geschlossenen Jalousien sowie die Vielzahl an Monitoren. An beiden Armbeugen waren Infusionen angeschlossen, doch Sams Augen leuchteten überraschend munter.
»Hast du ein Flugzeug entführt oder wie bist du so schnell hierhergekommen?«, fragte er und grinste seinen ehemaligen Partner breit an.
In seinen Augen lag eine Bitte, die Mark mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken bestätigte. Er würde in Sandras Beisein nicht über die Hintergründe für den Anschlag sprechen.
»So ähnlich. Ich hatte das ausgesprochene Vergnügen, mit der Airline von Walter Gonsalves zu reisen. Kam einer Entführung aber sehr nahe«, erwiderte Mark.
Er zog sich einen der Stühle ans Bett. Sam lachte heiser auf, um dann von einem Hustenanfall geschüttelt zu werden. Mark schaute ihn betroffen an.
»Ach, ihr Kindsköpfe. Sams Rippen sind angeknackst. Du solltest ihn nicht zum Lachen bringen«, schimpfte Sandra, doch das Leuchten in ihren blauen Augen sagte etwas anderes. Die Anwesenheit von Mark schien ihr eine Last von den Schultern zu nehmen.
»Na, gut. Da ich sehe, dass es dir besser als in einem Hotel geht, bringe ich mein Gepäck auf die ›Mermaid‹ und sehe dort nach dem Rechten. Am Nachmittag komme ich wieder und dann unterhalten wir uns in Ruhe. Keine dummen Scherze mehr, Sandra. Versprochen«, erklärte er und erhob sich.
Während Sam sich vom Hustenanfall erholte, begleitete seine Frau Mark zur Tür. Sie zog sie hinter sich ins Schloss und schaute ihm flehend in die Augen.
»Er redet nicht mit mir, Mark. Es macht mich völlig krank, dass ich keine Ahnung habe, was wirklich passiert ist. Ich bin nicht blöd und schlucke den Quatsch mit einem Unfall wie eine süße Beruhigungspille. Sprich mit Sergeant Wilkens und halte mich bitte auf dem Laufenden«, beschwor Sandra ihn.
Mark wollte sich selbst erst ein genaues Bild machen. Später würde er Sandra informieren, soweit Sam es erlaubte.
»Wilkens gehört zur Criminal Investigation Division und ermittelt in dem Fall?«, hakte er nach.
»Genau. Ich muss wissen, was hier los ist«, erwiderte Sandra.
Mark versicherte ihr, später mit ihr und Sam über die Ermittlungen zu sprechen. Es stand nicht gerne zwischen seinen Freunden, doch er wusste aus eigener Erfahrung, dass Cops ihren Familien häufig nicht alle Details verraten konnten. Nach den Gesprächen mit diesem Sergeant der CID und Chief Rankin wusste er hoffentlich mehr. Zuvor wollte er aber zu seiner Jacht fahren, um sein Gepäck loszuwerden. Alles Weitere würde sich dann finden. Vor dem Krankenhaus winkte Mark sich ein Taxi heran und warf einen neugierigen Blick auf einen schwarzen Mercedes der Luxusklasse. Beim Einsteigen erhaschte er einen Blick auf das vernarbte Gesicht des Fahrers, der soeben ausstieg. Das Taxi setzte Mark später im Evergreen Drive ab. Von dort marschierte er zum Anleger, an dem seit Jahren seine Jacht ›Mermaid‹ ihren Liegeplatz hatte.