Leseprobe – Russos Plan


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Taylor stoppte den Wagen in ausreichendem Abstand zu dem Auto vor ihr. Zähflüssiger Feierabendverkehr auf der Interstate 90 in Richtung Albany war nichts Ungewöhnliches. Nur noch wenige Stunden bis sie ihre Mission erfüllt hatte. Sie erlaubte sich kein Gefühl der Erleichterung und erst recht keine Vorfreude, denn beides wäre verfrüht, solange der letzte Teil noch nicht abgeschlossen war. Stattdessen ging sie in Gedanken jedes Detail ihres Plans noch einmal durch, bedachte alle Eventualitäten und möglichen Zufälle. Sie hatte den Standort sorgfältig gewählt, ebenso ihre anschließende Fluchtroute mit zwei Alternativen. Selbst wenn jemand sie sähe – was nahezu ausgeschlossen war –, würde er der Polizei keine brauchbare Beschreibung liefern können. Und Spuren hinterließ sie nie.

Sie war wie ein Phantom, ein lautloser Schatten, schnell und tödlich. Ihr ganzes Leben lang war sie auf diese Mission vorbereitet worden, hatte unzählige Stunden damit verbracht, ihre körperlichen und mentalen Fähigkeiten bis an die äußersten Grenzen zu entwickeln. Sie war das optimale Werkzeug für diese Aufgabe, perfekt in allem, was sie brauchte, um diese Mission heute abzuschließen. Danach …

Sie erlaubte sich auch nicht, an die Zukunft zu denken. Nur ihr Auftrag zählte.

Die Autoschlange setzte sich in Bewegung und löste sich langsam auf. Taylor beschleunigte sie auf die höchstmögliche erlaubte Geschwindigkeit und setzte ihren Weg fort. Die Dämmerung hatte eingesetzt und es wurde schnell dunkler. Das begünstigte die Ausführung des Plans. Taylor bog in die Van Buren Street ein und fuhr in angemessener Geschwindigkeit an dem Haus vorbei, in dem ihre Zielpersonen wohnten. Sie vermied es, den Kopf in die entsprechende Richtung zu drehen und blickte lediglich aus den Augenwinkeln hin. Trotzdem nahm sie alles wahr und stellte fest, dass sich nichts verändert hatte, seit sie sich vorgestern Nacht und noch einmal gestern Nacht mit dem Ort vertraut gemacht hatte. Im Haus brannte Licht und vor der Doppelgarage parkten zwei Autos. Die Zielpersonen waren also beide anwesend.

Doch etwas anderes stimmte nicht. Um die angrenzenden Häuser herum befand sich niemand auf der Straße. Auch die Autos, die wie die der Zielpersonen gestern und vorgestern Abend sowie in der Nacht auf der Straße oder vor den Garagen geparkt hatten, standen heute nicht dort. Bei einem Haus oder zweien, vielleicht sogar dreien hätte das Zufall sein können, aber nicht bei allen angrenzenden Häusern, deren Fenster obendrein dunkel waren. Dafür stand ein Van mit der Aufschrift des städtischen Elektrizitätswerks vor einem anderen Haus ein Stück die Straße hinunter, in dem sich Überwachungsequipment verbergen konnte. Offenbar hatten die Zielpersonen den richtigen Schluss aus den sieben vorangegangenen Todesfällen in ihren Reihen gezogen und gingen völlig zu Recht davon aus, dass sie die Nächsten und Letzten auf der Abschussliste waren. Bestimmt saßen in den angrenzenden Häusern, die so leer wirkten, Wachleute, um Taylor eine Falle zu stellen.

Sie erwog, die Aktion abzubrechen und zu warten, bis die Zielpersonen ihre Wachsamkeit aufgaben. Schließlich konnten sie sich nicht ewig in ihrem Haus verschanzen, umgeben von Bewachern. Außerdem hatte Taylor noch weitere Standorte ausgekundschaftet, die für ein Attentat ideal waren. Doch nur in ihrem Haus konnte sie beide Objekte gleichzeitig eliminieren. Und das war essenziell, denn jeder weitere Tag, an dem die beiden noch lebten, gab ihnen Gelegenheit, die Russos erneut aufzuspüren und ihnen ihrerseits ein Killerkommando auf den Hals zu hetzen, wie sie es schon einmal getan hatten. Deshalb durfte Taylor so kurz vor dem Ziel nicht aufgeben.

Taylor fuhr an der nächsten Straßenkreuzung nach links und bog in die Danker Avenue ein, die parallel zur Van Buren Street verlief. Sie parkte an einer unauffälligen Stelle vor einem Haus, dessen dunkle Fenster davon zeugten, dass es momentan leer war. Im Haus gegenüber waren die Vorhänge zugezogen und machten es den Bewohnern unmöglich, Taylor durch einen zufälligen Blick auf die Straße zu sehen.

Sie stieg aus, nahm ihren Gitarrenkoffer und schloss den Wagen ab, ehe sie die Straße hinunterging. Wer immer ihr begegnete, würde ihr keine Beachtung schenken, sondern nur eine Frau mit einem Musikinstrument sehen. Falls er sie überhaupt als Frau erkannte, denn Taylor hatte auch ihr Geschlecht bestmöglich verschleiert mit einem militärisch kurzen Haarschnitt, einer tief ins Gesicht gezogenen Baseballkappe, Männerkleidung und der Bandage unter dem T-Shirt, die ihre Brüste flachdrückte. Sich zu bewegen wie ein Mann war ebenfalls Bestandteil ihrer Ausbildung gewesen.

Inzwischen hatte die Nacht das letzte Tageslicht verschluckt. Die Dunkelheit war Taylors Freundin. Besonders in dieser Gegend, wo nur die Straßenkreuzungen beleuchtet waren und die Schatten der Bäume am Straßenrand ihr Deckung gaben. Schließlich war sie auch eine Meisterin des Onshin Jitsu, der Kunst des Unsichtbarmachens, die darin bestand, sich ihrer Umgebung so perfekt anzupassen, dass sie niemandem auffiel.

Sie nutzte einen Schatten, um ungesehen auf ein Grundstück einzubiegen und von dort aus ihren Weg zwischen den Häusern, durch Gärten, Hecken und über Zäune zur Van Buren Street gegenüber dem Haus ihrer Zielpersonen zurückzulegen. Auch diesen Weg hatte sie vorletzte Nacht sorgfältig ausgekundschaftet und sich vergewissert, dass sie an keiner bewohnten Hundehütte vorbei musste, dessen Insasse sie verbellt hätte. Hinter dem letzten Zaun vor der Van Buren Street hielt sie an, nahm das Gewehr aus dem Gitarrenkoffer, setzte es mit geübten Handgriffen zusammen und schraubte den Schalldämpfer auf. Sie ließ den Koffer unter einer Hecke zurück, schnallte sich das Gewehr auf den Rücken, damit es sie nicht behinderte, und streifte sich die schwarze Sturmhaube über den Kopf.

Mit einem kurzen Anlauf und einem Flickflack überwand sie die brusthohe Trennmauer und kam nahezu lautlos auf der anderen Seite auf. Einen Moment verharrte sie regungslos und lauschte. Alles war still. Durch die Lücke zwischen den Gebäuden konnte sie das Haus auf der gegenüberliegenden Seite sehen. Das Wohnzimmerfenster, das den Vorgarten überblickte, war hell erleuchtet, und die Zielpersonen saßen vor dem Fernseher. Taylor konnte das typische Flackern der wechselnden Szenen auf dem Bildschirm sehen. Ihre Zielpersonen sah sie nicht, denn direkt vor dem Fenster wuchs ein Holunderbusch und verdeckte es halb. Kein Problem. Direkt am Straßenrand zwischen Gehweg und Fahrbahn stand ein Ahornbaum, von dessen unterster Astgabel aus sie ein freies Schussfeld hatte.

Sie dehnte ihre Wahrnehmung in alle Richtungen aus und vergewisserte sich, dass niemand sie bemerkt hatte, ehe sie lautlos vorwärts schlich. Das Sommerlaub des knorrigen Ahorns schluckte das Mondlicht und warf einen tiefen Schatten auf Taylor. Ein leichter Windstoß bewegte dessen Blätter und hob sie ein wenig an, sodass für einen kurzen Augenblick etwas Licht in das Dunkel fiel, in dem Taylor sich verbarg. Es wurde für eine Sekunde von einer daumennagelgroßen Fläche reflektiert, die sich links von ihr in einem Gebüsch befand. Sie ging augenblicklich in eine geduckte Hockstellung und erstarrte. Der kurze Lichtschimmer hatte genügt sie erkennen zu lassen, dass die reflektierende Fläche die Linse einer Kamera war, die sich gestern noch nicht dort befunden hatte. Sie war genau auf den Ahornbaum ausgerichtet.

Man hatte ihr also tatsächlich eine Falle gestellt. Und ein kompetenter Stratege der Leute, die die Zielpersonen für diese Falle angeheuert hatten, hatte wie Taylor den Ahornbaum als bestmöglichen Standort für ein Attentat erkannt. Sie durfte diesen Menschen nicht unterschätzen. Sie blieb am Boden hocken, starrte in die dunkelste Stelle der Schatten und wartete, bis sich ihre Augen vollständig an die Finsternis gewöhnt hatten. Anschließend blickte sie sich sorgfältig um und entdeckte eine zweite Kamera am Sims eines der Fenster des ausgebauten Obergeschosses. Die wurde ihr jedoch nicht gefährlich, denn sie war in einem Winkel angebracht, dass sie den Boden in dem Bereich erfasste, den Taylor hätte passieren müssen, wenn sie von der Straße gekommen wäre. Solange sie auf dieser Seite des Baums blieb, war die Kamera im Busch die einzige Unannehmlichkeit.

Man hatte auch drahtlose Lampen in der Umgebung angebracht, die vermutlich mit einem Funkimpuls eingeschaltet wurden. Kein Problem, solange Taylor nicht durch die Kamera entdeckt wurde und dadurch ihre Gegner veranlasste, die Lampen einzuschalten.

Sie bewegte sich lautlos zur Seite, legte sich unmittelbar am Rand des Gebüschs auf den Boden, um nicht in den Erfassungsbereich der Kamera zu geraten, und kroch vorwärts. Minuten später hatte sie die erreicht. Sie schob ihre Hand hinter die Kamera, die auf einem vom Blattwerk verborgenen Stativ befestigt war, und ertastete dessen Aufbau. Es handelte sich um ein herkömmliches Schwenkstativ. Taylor drehte es Millimeter für Millimeter immer mit mehreren Sekunden Pause vor jeder weiteren Bewegung so, dass die Linse schließlich auf einen etwas höher gelegenen Teil des Baums zeigte und sie nicht mehr erfassen konnte, wenn sie ihre Stellung bezog. Wer die von der Kamera übertragenen Bilder nicht allzu genau oder ständig betrachtete, würde allenfalls auf den zweiten Blick die Veränderung bemerken.

Sie zog sich ein Stück zurück, um abzuwarten, ob derjenige, dem die Kamera ihre Überwachungsbilder auf einen Monitor spielte, ihren veränderten Blickwinkel bemerkte und kam, um ihn zu korrigieren. Doch alles blieb ruhig. Mit doppelter Vorsicht und aufs Äußerste gespannten Sinnen setzte sie ihren Weg fort.

Als sie an der Hausecke stand und nur noch wenige Schritte von dem Baum entfernt war, nahm sie eine Präsenz wahr, die dort, wo sie sie lokalisierte, ebenso wenig zu suchen hatte wie die Kamera im Gebüsch. Zu ihrer Rechten befand sich auf dem Nachbargrundstück, das nur durch die Garagenauffahrten von diesem getrennt war, eine große Hundehütte, die bei ihren vorherigen Besuchen immer leer gewesen war. Jetzt saß jemand darin, allerdings kein Hund, sondern eindeutig ein Mensch. Zwar konnte sie ihn weder sehen noch hören, aber sie spürte ihn so deutlich, als stünde er direkt neben ihr.

Ihre Wahrnehmung erfasste innerhalb von Sekunden alles von ihm. An seiner kraftvollen und dennoch harmonischen Ausstrahlung erkannte sie, dass er kein Obdachloser oder Betrunkener war, der sich dort einen Schlafplatz für die Nacht eingerichtet hatte. Dieser Mann war eindeutig ein ernst zu nehmender Gegner, und er wartete offenbar auf sie. Sie dehnte wieder ihre Sinne aus und erspürte die Anwesenheit weiterer Menschen, die auf strategisch günstigen Positionen verteilt waren. Einige befanden sich bei den Zielpersonen im Haus. Taylor schätzte die Entfernung zur Hundehütte ab: ungefähr dreißig raumgreifende Schritte; zwanzig bei einem großen Mann. Wenn er lief, hätte er die Distanz bis zum Baum in etwa fünf Sekunden überwunden. Doch selbst wenn er sich optimal in die Hundehütte gesetzt hatte, um schnellstmöglich herauszukommen, brauchte er mindestens fünf weitere Sekunden, um sie zu verlassen.

Sobald Taylor die erste Zielperson erschossen hatte, benötigte sie nur eine weitere Sekunde für die zweite. Das klirrende Glas der zersplitternden Fensterscheibe würde den Mann und seine Leute auf den Plan rufen. Selbst wenn er sofort die Hütte verließ und zum Baum rannte, blieben ihr noch ungefähr acht Sekunden, um herunterzuspringen und denselben Weg zurückzulaufen, den sie gekommen war. Sie hätte bei ihrer bestmöglichen Laufgeschwindigkeit abzüglich der zwei Sekunden, die sie für den Flickflack über die Hecke brauchte, in der Zeit mindestens fünfzig Meter hinter sich gebracht. Das genügte, um zwischen den Häusern außer Sicht zu verschwinden und über Umwege durch die Hinterhöfe und Gärten, bei denen sie jede Deckung ausnutzte, ihr Auto zu erreichen und zu verschwinden. Sie war sich sicher, den Mann abhängen zu können, denn er und seine Leute hatten sich nur in der Van Buren Street postiert, nicht in den angrenzenden Straßen.

Taylor vergewisserte sich noch einmal, dass ihr keine unmittelbare Gefahr drohte. Dennoch hatte sich das Risiko, die Sache noch durchzuziehen, erheblich erhöht. Sie wog erneut das Für und Wider ab und kam zu demselben Schluss wie zuvor. Wenn sie die Zielpersonen heute nicht eliminierte, würde sie möglicherweise keine weitere Chance bekommen, dafür aber nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Vater einer unkontrollierbaren tödlichen Gefahr aussetzen.

Sie überwand die letzten Schritte zum Ahornbaum und stieg lautlos an dessen sehr kletterfreundlichen Stamm zur Astgabel hoch.

 

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