Kapitel 1
Christians Kopf wurde nach der ausführlichen Dusche wieder klar. Er betrachtete die grässliche Narbe an der linken Schulter, wo das Geschoss ihn erwischt hatte. Der Einsatz im Hindukusch lag über eine Woche zurück und immer noch hatte er diese elenden Alpträume. Mit den Fingern strich er über das Narbengewebe, erschauderte gleich wieder bei der Erinnerung an den heißen Schmerz des eingeschlagenen Projektils. Es klopfte an der Tür zu seiner Unterkunft und er verdrängte die schmerzlichen Gedanken.
»Herein! Die Tür ist auf.«
Schwere Schritte polterten in seine Stube. Er ging hinüber und grinste den stämmigen, rothaarigen Leutnant an.
»He, Chris. Wieso grinst du denn so?«
Misstrauisch runzelte Bernd die Stirn. Christian schlug seinem Stellvertreter freundschaftlich auf die Schulter.
»Als Aufklärer wärst du ein Totalausfall, mein Lieber.«
Jetzt kapierte Bernd und machte nur eine wegwerfende Handbewegung. Dann hielt er Christian am Arm fest, der gerade in ein buntes T-Shirt schlüpfen wollte.
»He, was soll das denn werden?«, protestierte Christian überrascht.
»Wir sollen uns in zehn Minuten bei Oberst Rieger melden. Also rein in die hübsche Uniform, Herr Oberleutnant!«
Einen Augenblick glaubte Christian an einen Scherz, doch die blauen Augen von Bernd blickten todernst. Wortlos warf er das T-Shirt auf den Stuhl und zog die Khaki-Uniform an. Acht Minuten später meldeten sich die beiden Bundeswehroffiziere beim Standortkommandeur in Kundus. Das Gespräch dauerte eine halbe Stunde und entließ zwei ungläubige Offiziere.
»Verstehst du das? Wieso lösen die dich nach der Heldentat in den Höhlen ab und übergeben mir das Kommando über die KSK-Einheit?«
Christian konnte nur ratlos den Kopf schütteln. »Nein, das verstehe ich auch nicht. Rieger war so zugeknöpft. Ich glaube fast, der kennt den Grund auch nicht.«
Zum langen Rätselraten blieb keine Zeit. Leutnant Bernd Sorge war auf dem Weg zur Kommandostelle der Delta Forces, um sich dort mit deren Leiter über die nächste gemeinsame Operation gegen Rebellen im Hindukusch zu besprechen. Christian musste seine Sachen packen und würde in einer Stunde mit dem Versorgungshubschrauber nach Kabul fliegen. Dort sollte er sich im deutschen Hauptquartier melden. Was danach passieren sollte, konnte oder wollte Oberst Rieger nicht sagen. In Kabul erwartete ihn ein Oberfeldwebel und brachte ihn ohne Umweg direkt zu Generalmajor Hoffmann, dem Oberbefehlshaber in Afghanistan. Christian kannte den grauhaarigen, drahtigen General bereits von seinem Dienstantritt in Afghanistan vor sechs Monaten. Nach kurzem Klopfen trat er ein und meldete sich. Der General erwiderte den militärischen Gruß und bot Christian dann Platz in einer eleganten Ledergarnitur an. Erst jetzt bemerkte er den Zivilisten, der ihn neugierig musterte. General Hoffmann machte die beiden Männer miteinander bekannt.
»Oberleutnant Pauls vom Kommando Sonderkräfte. Oberst Michel vom NATO Intelligence Service.«
Christian nickte dem hoch gewachsenen Mann zu und setzte sich auf die Couch.
»Sie denken über meine Dienststelle nach, richtig, Herr Pauls?«
Überrascht nickte Christian, der tatsächlich über die ihm unbekannte Abteilung nachgedacht hatte. »Ja, Herr Oberst. Ich habe noch nie von einer Abteilung mit diesem Namen gehört.«
»Die gemeinsamen Operationen der NATO-Verbündeten während der Balkankrise hat die Gründung des NIS erforderlich gemacht. Wir mussten die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse der verschiedenen Geheimdienste effektiver umsetzen.«
Christian nickte zwar, dennoch erschien ihm seine Unwissenheit reichlich merkwürdig. Seit seiner Zugehörigkeit zur Eliteeinheit KSK hatte man ihm unablässig jede Information über alle Operationen der NATO gegeben. Er selbst hatte verdeckte Einsätze im Kosovo und in Tschetschenien geführt, doch von einem NATO Intelligence Service war nie ein Wort erwähnt worden.
»Ihre Erfahrungen im Einsatz gegen die Rebellen sind von größter Wichtigkeit, Herr Oberleutnant. Nur deswegen habe ich einer Versetzung zur NIS zugestimmt. Ich verliere ungern einen hervorragenden Feldoffizier.« General Hoffmann versuchte seine Stimme neutral klingen zu lassen, dennoch schwang ein Anflug von Unmut mit.
Christian ging es zu schnell. »Verzeihung, Herr General. Ich bin kein Geheimagent, was soll ich bei der NIS? Das ist doch so eine Art Geheimdienst.«
Oberst Michel übernahm die Antwort. »Es ist die nachrichtendienstliche Stabsstelle der NATO, Herr Pauls. In meiner Abteilung arbeiten Agenten aller Nachrichtendienste zusammen mit Wissenschaftlern und Soldaten. Ihre Ausbildung und Einsatzerfahrung befähigt Sie in hohem Maße für den NIS.«
Hilfe suchend schaute Christian zu General Hoffmann, doch der nickte nur. Nach dem Gespräch ging es ohne Verzögerung zum Flugplatz, wo ein Lear Jet Christian und Michel als einzige Passagiere aufnahm. Zwanzig Minuten später hatte die schnittige Maschine ihre Reiseflughöhe erreicht und die beiden Männer machten es sich in den luxuriösen Ledersitzen bequem. Ein Steward servierte Kaffee und belegte Brötchen. Christian griff hungrig zu und trank den starken Kaffee. Seit dem Start in Kabul hatten die beiden Männer nur wenige Worte gewechselt.
»Hören Sie auf zu schmollen, Pauls! Sie sind nicht der einzige Mitarbeiter der NIS, der nicht ganz freiwillig dazu gekommen ist.«
Christian war zu lange Soldat, um sich über unerwartete Veränderungen zu ärgern. Nach drei Stunden landete die Maschine in Brindisi, auf dem NATO-Stützpunkt in Italien.
»Wir haben eine Stunde Aufenthalt, dann fliegen wir weiter nach Brüssel. Die Offiziersmesse ist ganz gut hier. Nutzen Sie die Pause für ein gutes Essen. Ich komme vielleicht nach.«
Mit diesen Worten ließ Michel ihn allein, so dass er sich zur Messe durchfragen musste. Kaum hielt er die Speisekarte in der Hand, bemerkte er aufkommenden Appetit. Pasta und Fisch reizten ihn und bald saß er vor einem gut gedeckten Tisch. Nach dem Essen blieben ihm noch zwanzig Minuten bis der Lear Jet wieder abheben sollte. Er bestellte sich einen Espresso und griff nach der englischen Tageszeitung.
»Oberleutnant Pauls?«
Er schaute hoch und blickte in die fragenden Augen eines deutschen Hauptfeldwebels. »Ja, das bin ich.«
Ein zufriedenes Nicken. »Hauptfeldwebel Seibold. Oberst Michel hat mich beauftragt, Sie zur Maschine zu bringen. Der Abflug wurde vorverlegt.«
Hastig stürzte Christian den Espresso herunter und folgte dem Unteroffizier zu einem Wagen. Die Fahrt ging zu einer entfernten Startbahn, auf der Christian die blinkenden Lichter einer wartenden Maschine in der Dunkelheit erkennen konnte. Mit einer eleganten Kurve lenkte Seibold den Geländewagen direkt vor die Treppe der Maschine.
»Danke, Herr Hauptfeldwebel. Bis zum nächsten Mal.«
Seibold nickte ihm freundlich zu und kaum hatte Christian die Beifahrertür geschlossen, brauste der Wagen schon wieder davon. Er eilte die wenigen Stufen hinauf und nickte dem wartenden Flugbegleiter zu. Christian ließ sich in einen freien Sessel fallen und schnallte sich an, da die Tür bereits geschlossen war und die Maschine anrollte. Er schaute während des Starts auf die vorbeihuschenden Lichter des Flugplatzes, die bald darauf unter den Flügeln verschwanden. Christian hatte seine Aktentasche im Flugzeug gelassen, als er zur Offiziersmesse gegangen war. Da er den Oberst nirgends erblickten konnte, schnallte er sich ab und öffnete das Fach über seinem Sitz. Das Fach war leer und er stutzte einen Moment. Dann schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Falscher Sitz, falsche Klappe. Völlig logisch.«
Vorhin hatte er in der dritten Sitzreihe seinen Platz gehabt. Christian ging dahin und öffnete dort die Klappe, aber das Fach war auch leer.
»Suchen Sie die Tasche, Herr Oberleutnant?«
Christian drehte sich zu der Stimme um und nahm automatisch Haltung an. Der deutsche Brigadegeneral winkte lächelnd ab.
»Die Formalitäten können wir weglassen, solange wir unter uns sind. Hier, Ihre Tasche.«
Christian nahm die Tasche und setzt sich dem General gegenüber hin. »Gehören Sie auch zum NIS, Herr General?«
Ein flüchtiges Lächeln blitzte im Gesicht des hohen Offiziers auf. »Nein, Herr Oberleutnant. Mit dieser Abteilung habe ich nichts zu tun. Ich bin der verantwortliche Operationsoffizier für die deutschen Auslandseinsätze und somit auch für Sie.«
Christian wurde neugierig. »Was ist mit Oberst Michel?«
»Den niederländischen Kollegen habe ich allein nach Brüssel weiterfliegen lassen. So einfach überlassen wir unsere Elitekämpfer nicht den Geheimdienststrategen. Zunächst müssen Sie dem deutschen Stab Ihre Erkenntnisse berichten, dann sehen wir weiter.«
Eine überraschende Wendung, aber sie passte besser in Christians Weltbild.
(Moskau –Kreml) Der Mann im dunklen Anzug eilte aufgeregt zu der großen Tür und klopfte respektvoll an. Er öffnete die massive Holztür und betrat das Büro des Ministerpräsidenten von Russland. Der ehemalige KGB-Direktor hob fragend seinen schmalen Kopf.
»Stepan. Warum so aufgeregt?«
Trotz seiner durchschnittlichen Erscheinung, strahlte der Präsident eine Aura von Macht aus. Selbst so langjährige Vertraute wie Stepan berührte sie immer aufs Neue.
»Es gibt eine neue Spur zum Geheimarchiv!«, platzte er begeistert heraus. Die Haltung des Präsidenten veränderte sich schlagartig. Seine kalten blauen Augen bohrten sich in Stepans braune Augen.
»Erzähl!«
»Die Amerikaner und die Deutschen haben im Hindukusch zufällig vier Kisten entdeckt, die dort in einer Höhle versteckt waren. Die Amerikaner haben nicht sofort ihren Wert bemerkt und dadurch haben auch die Deutschen einige Kenntnisse erhalten. Jetzt halten die Amerikaner die Kisten unter Verschluss.«
Der mächtigste Mann Russlands rieb sich nachdenklich sein Kinn. »An die Amerikaner kommen wir nicht so einfach ran. Wer von den Deutschen hat die besten Kenntnisse?«
»Das ist der Anführer der KSK-Einheit, ein Oberleutnant Pauls.«
Der Präsident nickte, er hatte einen Entschluss gefasst. »Wir müssen uns mit dem Deutschen unterhalten. Wo ist er? Noch in Afghanistan?«
Am Zögern von Stepan erahnte er Probleme. »Heraus mit der Sprache, Stepan. Haben die Amerikaner ihn kalt gestellt?«
Stepan schüttelte verwirrt den Kopf. »Nein, Herr Präsident. Der NIS hat ihn übernommen, aber seit der Zwischenlandung in Brindisi ist Pauls verschwunden!«
Erneut fixierten die kalten Augen Stepan. »Was soll das bedeuten, verschwunden? Hat er sich abgesetzt oder wurde er entführt?«
Deutlich war Stepan seine Unsicherheit anzumerken. »Wir wissen es noch nicht, Herr Präsident. Aber die ersten Nachforschungen haben nur eine weitere in Frage kommende Maschine ergeben. Sie gehört zur Deutschen Luftwaffe und hat als Passagier nur einen Brigadegeneral Pohlmann benannt.«
Der Präsident setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Mit einem Schlüssel öffnete er einen im Schreibtisch eingelassenen Safe und entnahm einen Ordner. Er blättert einige Seiten um, dann nickt er grimmig.
»Gute Arbeit, Stepan. Dieser Brigadegeneral gehört vermutlich zu den Wächtern des Archivs!«
(Kopenhagen) Dr. Jesper Mortensen legte das Dokument vorsichtig zurück in den Transportbehälter und zog die weißen Schutzhandschuhe wieder aus. In seinem hellen Büro des Königlich Dänischen Staatsarchivs hatte er den ganzen Tag mit der Sichtung der Exponate für die Ausstellung im Schlossmuseum verbracht. Er hätte diese Aufgabe als Leiter des Staatsarchivs nicht selbst machen müssen, aber er wollte sich den Genuss der Betrachtung nicht nehmen lassen. Es war sehr spät geworden und seine Frau Lena würde sicherlich sauer sein. Er beschloss, eine gute Flasche Wein auf dem Heimweg zu kaufen, als das Telefon läutete.
»Staatsarchiv, Mortensen.« Er lauschte der Stimme am anderen Ende. »Das ist ja unglaublich. Wer hat denn Pauls? Dann sind die aber verdammt schnell gewesen. Woher kommt diese Information?«
Bei der Antwort ging ein zufriedenes Leuchten über Jespers Gesicht.
»Sehr gut! Die Quelle im Kreml ist zuverlässig. Wir treffen uns in einer Stunde bei dir. Wir müssen den Pauls aus ihren Klauen befreien und dann über die Kisten sprechen.«
Er beendete das Telefonat und rief bei seiner Frau an. Zuerst war sie ungehalten, doch dann ließ Jesper das Erkennungswort einfließen. Nach außen spielte Lena weiterhin die ungehaltene Ehefrau, doch sie würde genau wie die anderen aus der Gruppe am Treffpunkt sein.
»Das ist unsere Chance. Wir müssen Pauls befreien.«
Aufgeregt murmelte er die beiden Sätze wie eine Beschwörungsformel, während er in seine Jacke schlüpfte und eilig das Büro verließ.
(Washington – Andrews Air Base) Auf dem Tower studierte der Controller neugierig die Ladeliste der C-130, die in zehn Minuten landen sollte.
»He, die C-130 aus Kabul ist ja gar keine Personalwechselmaschine!«
Sein Kollege drehte sich erstaunt zu ihm herum.
»Wieso? Sie hat doch nur 25 Delta Force Männer und vier Kisten an Bord. Was soll sie denn sonst sein?«
Sein Kollege deutete auf einen frisch eingetroffenen Flugplan. »Die Maschine fliegt mit den Soldaten gleich wieder zurück. Nur die Kisten bleiben hier.«
Der andere Controller pfiff leise durch den Zähne. »Donnerwetter! Was sind denn das für Kisten, dass gleich 25 Elitesoldaten auf sie aufpassen?«
Das Telefon unterbrach ihre Unterhaltung. Zwei Minuten später legte der Controller wieder auf, wirkte noch aufgeregter.
»Das wird noch verrückter. Das war die Wache. Es kommen gleich zwei Vans vom FBI auf die Rollbahn. Die Feds wollen die vier Kisten in Empfang nehmen und haben absolute Freifahrt.«
Die beiden Männer hoben ihre Ferngläser an die Augen und verfolgten die Landung der einschwebenden C130. An Bord erteilte Captain Dobbs letzte Befehle.
»Sergeant King, Sie übernehmen die Sicherung und bleiben mit ihren Leuten immer um unsere Jungs mit den Kisten. Erst, wenn die Agents vom FBI mit ihren Fahrzeugen vom Rollfeld verschwinden, ist unsere Mission beendet.«
Der Anführer der Delta Force Soldaten ging zu der Gruppe von acht Soldaten, die zu beiden Seiten der vier Kisten in Position gegangen waren.
»Ich gehe allein zu den Agenten vom FBI und prüfe deren Ausweise und frage das Kennwort ab. Wenn ich drei Finger hochhalte, ist alles in Ordnung, ansonsten setzt ihr die Feds außer Gefecht, klar?«
Wie ein Mann nickten alle acht Soldaten, prüften ein letztes Mal ihre Waffen. Die Maschine rollte in eine zugewiesene Haltebucht, die Rotoren liefen weiter. Sollte es zu einem Angriff auf die Maschine kommen, sollten die Piloten einen Notstart durchführen. Captain Dobbs stand allein auf der sich senkenden hinteren Plattform, beobachtete die beiden schwarzen Vans vom FBI. Ein Dutzend Agents standen mit schussbereiten Maschinenpistolen neben den Fahrzeugen, behielten ihre Umgebung im Auge. In ihren schwarzen Kampfanzügen glichen sie den Elitesoldaten fast aufs Haar, nur die riesigen gelben FBI-Buchstaben kennzeichneten sie als Bundesagenten. Kaum kam die riesige Transportmaschine zum Stehen, sprang Dobbs leichtfüßig auf den Boden und eilte zu den Agents. Einer der Agents, ein dunkelhäutiger Koloss, kam ihm entgegen. Dobbs nickte ihm zu.
»Captain Dobbs, Delta Forces.«
Der farbige Agent nickte genauso distanziert. »Special Agent Sommers, FBI.«
Er hielt seinen Ausweis hoch, den Dobbs im Licht seiner Taschenlampe sorgfältig prüfte. Zufrieden reichte er den echten Ausweis zurück, schaute den Agenten fragend an.
»Der Code für meinen Einsatz lautet Kyber03. Zufrieden?«
Statt einer Antwort streckte Dobbs drei Finger in die Höhe. Hinter seinem Rücken eilten die Soldaten unter Sergeant Kings Führung aus der Maschine und bildeten einen Sicherungsring um die acht Soldaten mit den Kisten. Dann ging es sehr schnell. Zwei FBI-Agents öffneten die Seitentüren der Vans und die Soldaten stellten je zwei Kisten in einen Wagen. Die Bundesagenten verschwanden in den Fahrzeugen und rasten davon. Dobbs machte ein Zeichen und sofort rannten die Soldaten wieder in die Maschine zurück. Zwei Minuten später war der ganze Spuk beendet. Während die Controller noch heftig über diesen seltsamen Vorfall diskutierten, hakte der Offizier an der Wache die Geschichte als erledigt ab. Er hatte sich gerade eine Tasse Kaffee eingeschenkt, als ein völlig verstörter Wachsoldat der MP zu ihm kam.
»Wir haben ein Problem, Sir.« Er deutete aus dem Fenster.
Der Leutnant sah hinaus und bemerkte zwei schwarze Vans vor dem Tor. »Was ist mit den Wagen, Sergeant?«
»Das sind die FBI-Agents, die die vier Kisten abholen sollen, Sir.«
Mit bleichem Gesicht stellte der Leutnant seinen Becher ab und rannte zu den Wagen.
(Brüssel) Oberst Michel saß mit müden Augen an seinem Schreibtisch im NATO-Hauptquartier und las den Bericht aus Brindisi. Ein älterer Mann saß ihm gegenüber.
»Nun, Michel. Haben Sie einen Hinweis auf das Verschwinden von Oberleutnant Pauls?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, falls wir nicht von einem freiwilligen Verschwinden des Mannes ausgehen wollen. Er ist irgendwie in die Maschine von Brigadegeneral Pohlmann gelockt worden, vermutlich ohne viel Aufsehen.«
Bei dem Namen des Generals stieß der ältere Mann einen ärgerlichen Seufzer aus. Neugierig hob Michel den Kopf, wartete auf eine Erklärung.
»Dieser Pohlmann gehört zu den bekannten Wächtern des Geheimarchivs. Verdammt, woher wussten die so schnell Bescheid über Pauls?«
Oberst Michel zuckte ratlos die Schultern. »Wir wissen leider noch viel zu wenig über die Wächter. Es gibt nur eine Handvoll bekannter Namen und mir sind überhaupt nur vier bekannt.«
Der ältere Mann überhörte den leichten Vorwurf von Michel. »Das ist jetzt nicht unser Hauptproblem, Michel. Wir müssen unbedingt die Spur von Pauls aufnehmen und ihn schnellstmöglich aus den Fängen der Wächter befreien. Kümmern Sie sich darum! Persönlich!«
Michel nickte verstehend, als sein Besucher sich erhob und Anstalten zum Gehen machte. In diesem Moment läutete das Telefon. Er nahm ab und lauschte den Worten des Anrufers. Schon nach wenigen Worten machte er seinem Besucher ein Zeichen. Der blieb stehen und beobachtete Michel’s Reaktionen. Der beendete das Gespräch mit einem langen Fluch. Überrascht betrachtete sein Gast den normalerweise sehr beherrschten Geheimdienstmann.
»Den Amerikanern sind die vier Kisten unter der Nase entführt worden!«
»Wie konnte das passieren?«
Oberst Michel schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ein falscher Trupp FBI-Agenten mit echten Ausweisen und dem richtigen Erkennungswort hat die Soldaten ausgetrickst. Die echten Feds kamen nur fünf Minuten später zum Flugplatz.«
Mit steinernem Gesicht setzte sich der ältere Mann wieder, starrte mit brennendem Blick Michel an. »Es ist ungeheuerlich, wie hervorragend die Wächter aufgestellt sind. Sie haben offenbar wirklich überall ihre Leute sitzen. Umso dringender muss Pauls her, Michel.«
(Flugplatz Laage) Christian bestaunte den riesigen Flugplatz, der von der ehemaligen Luftwaffe der DDR und den Sowjets genutzt worden war und jetzt der größte Flugplatz der deutschen Luftwaffe war. Es gab zwei extrem lange, über Kreuz verlaufende Rollbahnen. Selbst zu dieser späten Stunde herrschte reger Betrieb auf dem Flugplatz, doch ihre Maschine musste keine Minute kreisen. Elegant landete der Lear Jet und rollte zu einem Hangar. Christian folgte Brigadegeneral Pohlmann aus der Maschine und stieg mit ihm in die dunkle Mercedes-Limousine mit Stander.
»Wir fahren zunächst zu einem sicheren Haus, in dem Sie die nächsten Tage verbringen werden. Wir werden dort in aller Ruhe die Ereignisse durchsprechen und dann Ihre weitere Verwendung planen.«
Christian nickte seinem Vorgesetzten verstehend zu und lehnte sich in die Lederpolster zurück. Er genoss die Fahrt und den freundlichen Umgangston des Generals, der ihn wie einen gleichgestellten Offizier behandelte. Die Fahrt dauerte ein halbe Stunde, dann fuhr der Wagen in ein stark bewachtes Gelände. Das sichere Haus lag in einem kleinen Wäldchen gut versteckt und schon an der Abbiegung gab es eine Kontrollstelle. Christian erkannte Kameraden einer anderen KSK-Einheit, die ebenfalls auf dem Gelände Patrouille liefen. Sogar Hundeführer entdeckte er und vermutete einiges an elektronischen Schutzmechanismen. Das Haus entpuppte sich als schicke Villa mit allem Komfort. Christian bezog im ersten Stock ein großes Zimmer mit eigenem Balkon und separatem Badezimmer. Ein Oberfeldwebel der Fallschirmjäger führte im Haus das Kommando über ein halbes Dutzend Bediensteter.
»Alles sorgfältig ausgesuchte und mehrfach überprüfte Soldaten, alle mit einer Nahkampfausbildung. Jeder von Ihnen ist für die höchste Sicherheitsstufe freigegeben, wird Sie aber nur auf Befehl ansprechen, Herr Oberleutnant. Keiner von uns kennt Ihren Namen oder den Grund Ihrer Anwesenheit«, versicherte ihm der Oberfeldwebel.
Christian war sehr beeindruckt von den Sicherheitsmaßnahmen und richtete sich in seinem Zimmer wohnlich ein. Eine halbe Stunde nach ihrem Eintreffen aßen der General und Christian gemeinsam zu Abend.
»Erzählen Sie bitte ganz ausführlich von dem Einsatz im Hindukusch und dem Fund der Kisten.«
Christian fühlte sich entspannt in der Gesellschaft von Brigadegeneral Pohlmann und berichtete präzise über den gesamten Einsatz. Später wollte der General auch noch über sein Zusammentreffen mit dem Oberst Michels informiert werden. Er stellte gezielte Fragen und dennoch blieb die Atmosphäre die ganze Zeit sehr locker. Um 23:00 Uhr trennten die beiden Männer sich und Christian ging zu Bett. Pohlmann hatte ihn über weitere Befragungen durch andere Spezialisten informiert, doch das würde erst am kommenden Nachmittag geschehen. Christian sollte sich zunächst ausschlafen und den Vormittag für sich haben.
Christian wachte schlagartig auf, das Zimmer lag in tiefster Dunkelheit. Er hob seine Armbanduhr hoch, entzifferte die schwach leuchtenden Zahlen. Es war drei Minuten nach vier. Christians Instinkte meldeten Gefahr und seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, auf die Signale zu hören. Er lauschte mit allen Sinnen in die Dunkelheit, konnte aber kein verdächtiges Geräusch wahrnehmen. Lautlos rollte er sich vom Bett, schlüpfte in seine Sachen. Ohne lange darüber nachzudenken, wählte er die schwarze Kampfuniform. Lediglich das Kampfmesser hatte er als Waffe, doch auch damit konnte er sich gut verteidigen. Seit seinem Wachwerden waren keine zwei Minuten vergangen. Er stellte sich neben die verglaste Flügeltür zum Balkon, ließ seinen Blick über das Gelände schweifen. Der Himmel war stark bewölkt, weder Mond noch Sterne erhellten den Park um die Villa. Christian wollte sich schon abwenden, als er einen Schatten bemerkte. Er beugte sich vor, um ihn deutlicher ausmachen zu können. Unvermittelt bewegte sich etwas direkt auf dem Balkon. Christian zuckte hastig zurück, hörte ein leises Klirren und spürte einen Stich am Hals. Erschrocken fuhr seine Hand zu dem winzigen Pfeil, wollte ihn herausziehen. Das Letzte, was Christian spürte, war eine bleierne Müdigkeit mit gleichzeitiger Lähmung seiner Stimme.
Als Christian wieder zu sich kam, spürte er eine leichte Übelkeit. Er drehte langsam den Kopf betrachtete die medizinischen Geräte am Krankenbett, in dem er lag. Verschiedene Schläuche liefen von den Maschinen zu seinem Körper, Lichter blinkten und Zahlenkolonnen marschierten über Displays. Der Raum war in freundlichen Farben gehalten, sogar teure Kunstdrucke konnte Christian an den Wänden erkennen. Wie war er hierher gekommen?
»Ah, unser Patient ist zu sich gekommen. Wie fühlen Sie sich, Herr Pauls?«
Die Krankenschwester schaute ihn lächelnd aus warmen, braunen Augen an. Ihre Augen lasen die Anzeigen ab, während sie mit einer Hand seinen Puls überprüfte.
»Mir ist schlecht. Was ist passiert?«, krächzte Christian.
Sofort hielt ihm die freundliche Schwester einen Trinkbecher an den Mund, stützte seinen Kopf. Er trank das kühle Wasser und spürte eine sofortige Besserung.
»Danke, Schwester. Wo bin ich?«
Sie stellte den Becher auf den kleinen Wagen neben dem Bett. »Bleiben Sie bitte ganz ruhig, Herr Pauls. Der Doktor wird gleich zu Ihnen kommen und alle Fragen beantworten. Ich kann es leider nicht.«
Christian hörte die leichte Verärgerung bei ihr heraus. Offenbar hatte sie keine Ahnung, wie er hierher gekommen war. Ein rundlicher Arzt betrat den Raum. Er nickte der Schwester zu, die sofort den Raum verließ.
»Schön, Herr Pauls. Wie ich sehe, hat unsere Behandlung Erfolg.«
Fragend schaute Christian in die müden Augen des Arztes, der gleichzeitig die Geräte und einige Eintragungen auf einem Klemmbrett prüfte. Er wirkte kompetent und übermüdet.
»Wer sind Sie und wie komme ich hierher?«
Der Arzt lächelte Christian freudlos an.
»Keine Bange, Herr Pauls. Die Erinnerung wird zurückkommen, aber viele Betäubungsmittel haben eine zeitweise Amnesie als Nachwirkung zur Folge.«
Vage konnte Christian sich an einen Stich im Hals erinnern. Seine Finger tasteten die Stelle ab und fanden eine leichte Vertiefung, die bei der Berührung zu brennen begann.
»Stimmt, da hat der Betäubungspfeil Sie erwischt. Erinnern Sie sich wieder?«
Christian schüttelte den Kopf, blickte Hilfe suchend den Arzt an.
»Sie wurden in der Villa überfallen. Unbekannte haben versucht, Sie zu entführen. Zum Glück konnten unsere Leute den Angriff abwehren, aber vorher konnten die Leute Sie noch betäuben.«
Der dunkle Schatten auf dem Balkon! »Ja, da war ein Schatten auf dem Balkon. Mehr habe ich nicht mitbekommen. Ist General Pohlmann hier?«
»Er wird erst übermorgen kommen können. Er erkundigt sich aber regelmäßig nach Ihrem Befinden, Herr Pauls. Beim nächsten Anruf können Sie selbst mit ihm sprechen, einverstanden?«
Zufrieden nickte Christian, erneut übermannte ihn große Müdigkeit.
»Ruhen Sie sich noch ein wenig aus. Morgen können Sie vermutlich das Bett schon wieder verlassen. Die Schwester behält Sie im Auge!«
Er nickte zum Abschied und ließ Christian allein. Eigentlich wollte Christian sich mit dem Überfall auseinandersetzen, aber schnell versank er in einen traumlosen Schlaf.
(Brüssel) Oberst Michel hatte sich auf die Ledercouch in seinem Büro gelegt. Es lohnte sich nicht, für zwei oder drei Stunden in seine Wohnung zu fahren. Er hatte immer frische Sachen zum Wechseln im Büro und schon öfter die Couch als Ersatzbett genutzt. Bereits die leisen Schritte auf dem Teppichboden weckten ihn, so dass die Hand auf seiner Schulter ihn nicht hochschrecken ließ.
»Herr Michel. Es gibt wichtige Neuigkeiten!«
Sein Stellvertreter hielt einige Ausdrucke in der Hand. Michel schwang die Beine von der Couch, streckte die Hand aus und nahm die Schreiben. Er überflog die drei Dokumente aus verschiedenen Quellen, die alle die gleiche Nachricht meldeten.
»Das kann doch nicht wahr sein! Die haben Pauls aus dem sicheren Haus eines Wächters entführt?«
Ungläubig starrte er seinen Stellvertreter, einen Hauptmann der dänischen Abwehr, an.
»Doch die Meldung ist verifiziert und Brigadegeneral Pohlmann rotiert mächtig. Können das unsere Freunde aus Kopenhagen gewesen sein?«
Michel lächelte Hauptmann Sörensen nachsichtig an. Er kannte dessen Sympathie für die Gruppe, die den Wächtern schon lange Probleme bereiteten. »Wohl kaum! Um solch eine Aktion durchzuführen, fehlen denen dann doch die Voraussetzungen. Nein, da steckt eine professionelle militärische Einheit dahinter!«
Sörensen schaute nachdenklich seinen Vorgesetzten an. »Wer hat soviel Interesse an Pauls und dazu die nötigen Experten?«
Genau die gleiche Frage beschäftigte auch Michel, doch noch fehlten ihm Informationen.
»Es ist noch zu früh, um das sagen zu können. Auf jeden Fall hat diese Aktion auch uns geholfen!«
Sörensen schien da nicht der gleichen Meinung zu sein, denn er runzelte ärgerlich seine Stirn. »Wie können Sie sich da so sicher sein? Wir müssen doch erst einmal herausfinden, wer dahinter steckt!«
Michel setzte sich an seinen Schreibtisch und klopfte auf die Schreiben. »Ganz einfach. Der Feind meines Feindes ist mein Verbündeter!«
(Potsdam – Stabsstelle für Auslandseinsätze der Bundeswehr) Der ältere Zivilist saß äußerlich entspannt im Sessel, während General Pohlmann mit harter Stimme ein Telefonat beendete.
»Keine Neuigkeiten, oder?« Der Zivilist fragte mit leiser, kultivierter Stimme.
Pohlmann schüttelte wütend den Kopf. »Keiner hat auch nur die leiseste Ahnung, wer diesen Überfall durchgeführt haben kann!«
»An eine Aktion der Aufklärer aus Dänemark glauben Sie also nicht?«
Pohlmann hatte nur ein verächtliches Schnauben als Antwort. Doch beim missbilligenden Blick aus den grauen Augen seines Gesprächspartners, beeilte er sich zu antworten. »Nein. Das sind vor allem Akademiker ohne jede militärische Ausbildung. Die Aktion beim sicheren Haus hat eine echte Kommando-Einheit durchgeführt!«
Nachdenklich nickte der Zivilist. »Könnten unsere amerikanischen Freunde dahinter stecken?«
»Möglich wäre es. Die Mittel haben sie dazu natürlich, aber ich habe da meine Zweifel.«
Fragend hob der ältere Mann die Augenbrauen, wartete auf die Begründung.
»Die Amerikaner haben noch genug mit dem Verschwinden der Kisten vom Stützpunkt Andrews zu tun! Ich glaube einfach nicht daran, dass sie diesen Überfall durchgeführt haben!«
Der Zivilist nickte, erhob sich und ging zur Tür. Dann drehte er sich noch einmal um. »Sie sollten möglichst schnell herausfinden, wem wir diese Entführung zu verdanken haben. Anschließend schaffen Sie Pauls wieder heran, verstanden?«
Er hatte seine Stimme um keine Oktave angehoben und doch schwang unheilvoll die Drohung mit.
»Selbstverständlich! Ich werde den Rat nicht enttäuschen!«
Pohlmanns Stimme triefte vor Unterwürfigkeit.
»Sie meinen, so wie die sichere Unterbringung von Pauls?«
(Moskau-Kreml) Stepan hatte dem Ministerpräsidenten die Erfolgsnachricht überbracht.
»Sehr gut, Stepan. Wer wird die Verhöre durchführen?«
»Sascha und Valentin, Herr Ministerpräsident.«
Der mächtigste Mann Russlands und noch einiger anderer Regionen der Erde nickte zufrieden.
»Sie sollen schnell mit Ergebnissen aufwarten! Der deutsche Oberleutnant ist nicht lange hinters Licht zu führen! Verstanden?«
Stepan beeilte sich mit der Versicherung und war bereits zwei Minuten später wieder in seinem eigenen Büro. Er wählte über eine verschlüsselte Leitung eine Nummer in Tallin. Nach dem dritten Läuten meldete sich eine raue Stimme. Herrisch übermittelte Stepan die Forderungen, die ihm vor wenigen Minuten der Präsident mit auf den Weg gegeben hatte. In Tallin lauschte Valentin den Befehlen.
»Wir haben unsere Erfahrungen! Lassen Sie uns die Arbeit machen, dann wird es schon klappen!«
Ohne sich zu verabschieden, legte er auf. Er hegte nur Verachtung für die Männer im Hintergrund, die sich selbst nie die Finger schmutzig machten und Männer wie ihm Anweisungen erteilen wollten. Seine 20 Jahre in Diensten der russischen Armee und des KGBs hatten ihn emotional völlig verhärtet. Seit dem Fall des eisernen Vorhangs war auch in ihrem Gewerbe die kapitalistische Denkweise eingekehrt und so verdiente Valentin sehr gut. Er ging aus dem Verwaltungsgebäude hinüber in den Krankenhaustrakt. Das dreistöckige Gebäude war mit allem ausgestattet, was ein modernes Krankenhaus benötigte und konnte fast allen Privatkliniken Konkurrenz machen. Valentin und viele andere Söldner nutzten gern die besonderen Dienstleistungen dieses Komplexes am Rande von Tallin. Im zweiten Stock ging er direkt ins Zimmer des Stationsarztes. Der rundliche Mann war mit den schlechten Manieren seiner Kundschaft längst vertraut.
»Wann kann ich mit unserem Patienten das erste Gespräch führen?«
»In etwa sieben Stunden wird er von der Intensivbehandlung genommen und ist dann normal ansprechbar«, antwortet er müde.
Immerhin ging es bereits auf ein Uhr in der Früh zu. Valentin nickte und verließ das Zimmer grußlos.