Kapitel 1
Montag, 11. April: Paul Harms pflanzt Stiefmütterchen, und auch ein Toter kommt in die Erde
Paul Harms pflanzt Stiefmütterchen. Mit seiner kleinen Schaufel gräbt er Löcher in exakt gleichem Abstand, gießt Wasser hinein, um alles fachmännisch einzuschlämmen, setzt die gelben Stiefmütterchen und tritt die feuchte Erde fest. Bis Ostern muss die Frühjahrsbepflanzung abgeschlossen sein. Es riecht nach Moder, denn der Mutterboden ist frisch. Wie das Grab, das er gerade mit einem Blumenhalbkreis um den Stein bepflanzt. »Für immer unvergessen«, steht in goldenen Lettern auf dem Stein, doch Harms weiß aus Erfahrung, dass dieses »Für immer« oft nur wenige Monate hält. Auf der Grabstätte nebenan wuchern bereits Brennnesseln und Disteln. Dort steckt kein Schild mit der Aufschrift »Pflege«, aber er wird sich trotzdem darum kümmern. Ende der Woche. An seinem freien Tag. Harms ist Friedhofsgärtner aus Leidenschaft.
Gießen muss er die Stiefmütterchen in den nächsten Tagen nicht, denn die Erde ist nass genug von den Regenfällen der letzten Zeit. Typisches norddeutsches Schmuddelwetter. Erstaunlich, dass die Aprilsonne heute so viel Kraft hat. Harms nimmt seine grüne Kappe ab und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
Auf dem Hauptweg des Friedhofs zieht gerade eine Beerdigungsgesellschaft vorbei, von der kleinen Kapelle, an der Trauerbuche vorbei, zum gestern ausgehobenen Grab zwei Reihen weiter. Männer in schlechtsitzenden schwarzen Anzügen, mit polierten Schuhen, die von den Pfützen auf dem Weg bald schlammbespritzt sein werden. Der älteste ist kahlköpfig und trägt verkrampft einen Hut in der Hand, den er vermutlich zwei Jahrzehnte zuvor das letzte Mal aufgesetzt hat. Zwei Frauen gehen zwischen ihnen, den Kopf gesenkt, die schwarzen Röcke für den Anlass zu kurz, die Absätze der Stiefel zu hoch. Harms wundert sich immer wieder, warum die Menschen bei einer Beerdigung oft verkleidet aussehen. Wie bei einem offiziellen Rathausempfang, für den sich die erstmals geladenen Gäste Kleidung kaufen, die ihnen nicht steht und die sie nie wieder anziehen werden. Abendgarderobe, die sie für angemessen halten, obwohl sie keinerlei Erfahrung haben, was angemessen bei solchen Anlässen bedeutet.
Dem Trauerzug folgen zwei Fotografen. Harms kennt sie von früher. Die beiden arbeiten für Lokalblätter und tauchen überall auf, wo sich Sensationelles anbahnt. Mit Halit Erkin, der mal wieder seinen unvermeidlichen grauen Kapuzen pulli trägt, verbindet ihn sogar so etwas wie Freundschaft. Wer wird hier beerdigt? Er hätte es wissen müssen, zumal wohl demnächst Stiefmütterchen gepflanzt werden sollen. Oder nach den Eisheiligen im Mai die Begonien. Oder Tagetes, über die sich am meisten die Wildkaninchen freuen. Harms setzt die Kappe wieder auf und greift zur Harke, um abgefallene Blätter und Blüten der Stiefmütterchen zu beseitigen und seine Fußspuren auf dem Grab zu tilgen. Soll doch ordentlich aussehen, wenn die Angehörigen zur Kontrolle kommen.
»Arbeiten Sie hier?«, hört er eine raue Stimme in seinem Rücken. Harms seufzt. Ihm liegt eine passende Antwort auf der Zunge, doch er beherrscht sich. Also brummt er lediglich, was so viel wie »Ja, was sonst?« bedeuten kann.
Dann dreht er sich um und blickt dem Frager neugierig ins Gesicht. Der Mann ist zu groß, zu dick, seine Nase ist zu breit und sein Haar zu rot. Jemand, der sich nie in einer Menge verstecken könnte.
»Glaubt ihr immer noch, dass der Mörder heimlich zur Beerdigung seines Opfers kommt?«, fragt Harms.
Der Rothaarige öffnet den Mund, sagt aber nichts. Seine graugrünen Augen weiten sich. Er schluckt.
»Paul?«
»Nett, dass du mich erkennst. Ist immerhin zwei Jahre her.«
»Was machst du hier?«
»Das siehst du doch. Ich pflanze Stiefmütterchen.«
»Warum?«
Harms holt tief Luft.
»Weil ich hier arbeite. Ich bin Friedhofsgärtner.«
»Du bist was …?«
Er spart sich eine Antwort. Hätte eine Lebensbeichte wer den können. Warum sollte er ausgerechnet hier und jetzt Kriminalhauptkommissar Uwe Jensen erklären, warum er Gräber pflegt, statt wie früher Morde aufzuklären? Ganz so absurd ist das sowieso nicht. Schließlich hat er nach dem Abitur eine Gärtnerlehre gemacht. Vor der Polizeikarriere.
Während die Sonne hinter der riesigen Trauerbuche auf dem Hauptweg verschwindet, nimmt er seine Harke, die Pflanzschaufel und die leere Plastikkiste, in der die Blumen waren, und tritt über die Lebensbaumhecke hinweg auf den matschigen Weg. Er schüttet den Rest Erde aus der Kiste aufs Grab, harkt an der Hecke entlang, schließlich ein paar Mal quer, damit ein Muster entsteht. Jensen steht schweigend daneben.
»Ist dir irgendwas aufgefallen?«, fragt der Kriminalhauptkommissar schließlich.
Harms zuckt mit den Schultern.
»Was sollte mir auffallen? Ich habe Stiefmütterchen gepflanzt.«
»Gar nicht neugierig, wer da beerdigt wird?«
»Das geht mich nichts an.«
»Auch wenn der Mann ermordet wurde?«
»Das geht mich noch viel weniger an.«
Er wirft trotzdem einen Blick auf die Menschen, die zwei Reihen weiter still am offenen Grab stehen. Der Kahlköpfige stützt jetzt die ältere Frau, während die jüngere ihr Gesicht hinter einem weißen Taschentuch verbirgt. Sie weint. Auf der Bank unter der Trauerbuche entdeckt Harms eine weitere Frau, die scheinbar völlig versunken in einem Buch liest.
Kriminalkommissarin Mariella Pelanda. Um ihre schwarzen Locken, die sonst kaum zu bändigen sind, trägt sie ein rotes Stirnband, eine Sonnenbrille rundet den Auftritt ab. Sein ehemaliges Team war nie gut im dezenten Observieren. Harms seufzt wieder, nimmt die Plastikkiste unter den Arm und stapft durch die Pfützen in Richtung Friedhofsgärtnerei. Uwe Jensen blickt ihm nach. Dann fährt er sich mit der linken Hand durch die struppigen roten Haare und geht zurück auf den Hauptweg, um weiter die kleine Trauergesellschaft zu beobachten.
Paul Harms hingegen pfeift still vor sich hin, während er Harke und Pflanzschaufel an ihren Platz im Geräteschuppen stellt. Warum sollte ihn der offenbar mysteriöse Tod eines Mannes interessieren, der gerade hundert Meter entfernt unter die Erde gebracht wird? Inzwischen gibt es für ihn Wichtigeres im Leben. Wie die Tatsache, dass er die grüne Gießkanne auf dem Grab vergessen hat.