Leseprobe – Mörderische Kunst


Zum Roman

 

1.

Als die Türklingel schrillte, brach das Schnarchgeräusch abrupt ab. Man hörte das Knarren morscher Matratzenfedern, was signalisierte, dass der Schläfer sich einfach umgedreht hatte und nicht daran dachte, Morpheus’ Arme zu verlassen.

Erneut und diesmal stürmischer begehrte jemand Einlass in die Wohnung. Schlaftrunken setzte sich der Mann im Bett auf, gähnte ausgiebig und tastete nach seiner Brille auf dem Nachttisch. Umständlich setzte er sie auf und blickte auf den Wecker.

Die Türglocke stand nicht mehr still. Mit einer Verwünschung auf den Lippen verließ der Grauhaarige sein zerwühltes Nachtlager, streifte einen verwaschenen Bademantel über den schmuddeligen Schlafanzug und schlurfte zur Tür.

„Ja, ja, ich komme ja schon“, rief er ärgerlich. „Wissen Sie eigentlich, dass heute Sonntag ist?“ Wütend setzte er nach: „Es ist noch nicht mal acht Uhr!“

In seiner Rage warf er noch nicht mal den obligatorischen Blick durch den Spion, sondern nahm einfach die Sicherheitskette ab, drehte den Schlüssel im Schloss und riss die Tür auf.

„Ich hoffe, Sie haben gute Gründe für diesen …“Abrupt brach er ab. „Ach so, Sie sind’s. Was, um alles in der Welt, wollen Sie denn hier? Und dazu in aller Herrgottsfrühe?“

„Morgen, Rinn!“ Der Besucher grinste. „Willst du mich nicht hereinlassen? Oder soll ich dir die Fragen im Hausflur beantworten?“

„Kommen Sie!“ Der ältere Mann zog den Besucher in den Korridor und schloss die Tür hinter ihm. „Hier in die Küche.“

Der Grauhaarige ging voraus und deutete auf den einzigen freien Stuhl.

„Na, aufräumen und saubermachen könntest du ja auch mal wieder.“ Der Jüngere ließ seinen Blick über das Sammelsurium aus leeren Bierflaschen, benutzten Tellern und Bestecken, Töpfen mit Essensresten, angebrochenen Konserven und überquellendem Mülleimer schweifen. „So was zieht Ungeziefer an.“

„Sind Sie nur gekommen, um mir das zu sagen?“

„Werde nicht frech!“ Der Besucher machte eine drohende Handbewegung. „Sind wir alleine, oder hast du wieder einen fremden Kerl im Bett?“

„Wie kommen Sie denn darauf?“

„Rinn, verlangst du ernsthaft, dass ich mit dir darüber diskutiere?“ Allein der Blick ließ den Angesprochenen förmlich zusammenschrumpfen. „Sind wir allein?“

„Ja. Was gibt’s?“

„Kannst du dir das nicht denken?“ Der Mund des Besuchers verzog sich zu einem breiten Grinsen, doch das Gesicht selbst vermittelte nicht den Eindruck von Heiterkeit, sondern von Entschlossenheit. Leichthin verkündete er: „Du musst mal wieder jemanden entsorgen.“

„Sie wissen doch, dass das nicht einfach ist. Was sage ich? Nicht einfach ‒ es wird immer schwerer. Wenn man mich erwischt …“

„Zweieinhalb Riesen, Rinn!“ Der Jüngere griff in die Jackentasche und zog ein Bündel Hundertmarkscheine hervor. „Du weißt, wie gering dein Risiko ist. Und mit diesem Geld kannst du dir ein paar knackige junge Burschen leisten.“

Im faltigen Antlitz des Grauhaarigen wetterleuchtete es, man sah, wie Angst und Gier um die Vorherrschaft kämpften.

„Abgemacht, ich tu’s. Wann bringen Sie die Leiche?“

„Junge, du hast die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt. Heimservice ‒ du holst ab. Die Adresse gebe ich dir noch.“

„Aber das ist unmöglich, Herr Kalle. Ich besitze nur einen Kleinwagen. Darin bringe ich einen Toten nie und nimmer unter. Und dann der Austritt der Körperflüssigkeiten …“

„Jetzt hör auf zu jammern, du Depp“, wurde der Ältere barsch zurechtgewiesen. „Der Körper wird in Folie eingeschweißt, ist also problemlos zu transportieren.“

„Womit denn?“

„Rinn, du weißt, dass du in der Sudetenlandstraße wohnst?“

„Logisch. Und?“

„Ein Autovermieter ist fast vor deiner Haustür, und zwei weitere sind gleich um die Ecke. Die leben davon, dass sie Autos verleihen.“

„Okay. Wann und wo?“

„Ich melde mich.“ Der Besucher blätterte fünf Hunderter auf den Tisch. „Anzahlung, Rest bei Erledigung. Du weißt, was dir geschieht, wenn du versuchst, mich zu leimen?“

Rinn nickte eingeschüchtert.

„Na, dann ist ja alles klar.“ Kalle tippte mit einem Finger jovial an die Schläfe und verließ die Wohnung mit einem fröhlichen „Schönen Sonntag noch!“

 

2.

Die Ausstattung wirkte dem Gewerbe angemessen. Sonnenstrahlen wurden durch geschickt angebrachte Jalousien und Vorhänge geschickt am Eindringen gehindert, und was sich an Tageslicht in den Raum verirrte, wurde gelenkt, geleitet und durch Gardinen gebremst. Halogenlampen und Deckenfluter übernahmen den Part der Sonne, nicht grell und aufdringlich, sondern gezielt gesteuert und eher diffus.

Dem zeitlosen Mobiliar sah man auf den ersten Blick an, dass es aus massivem Holz bestand. Ob Kirschbäume, Palisander oder irgendwelche Tropenhölzer für diese Schreinerkunst ihr Leben gelassen hatten, war nicht auf Anhieb zu erkennen. Mit dem gleichen Material waren die Wände verkleidet, ein dunkelgrauer Teppich aus dichtem, Schall schluckenden Flor bedeckte den Boden.

Keine Pflanze hätte in diesem Halbdunkel mehr als einen Monat überdauert, dennoch waren etliche Spezies des Pflanzenreichs in Kübeln vertreten. Exotische Palmfarne, Lorbeerbäumchen und strenge, stammlose Palmen mit starren Wedeln vermittelten eher Düsternis als frisches Grün. Die Heiterkeit ihrer südlichen Heimat war ihnen gründlich ausgetrieben worden, denn es waren Geschöpfe, die der Mensch geschaffen hatte: naturidentisch. Weniger verschämt gesagt: künstlich.

Da der Fortschritt vor keiner Branche haltmachte, war neben dem obligatorischen Telefon in mitternachtsblau ‒ was im Prinzip schwarz ist ‒ natürlich auch ein PC vorhanden. Sein Gehäuse war in Anthrazit gehalten, und die Konsole prangte in dunklem Stahlgrau. Ein wenig gewöhnungsbedürftig waren die Regaldekorationen: Urnen aller Art und Couleur standen da mehr oder weniger dekorativ herum. Keine offerierte sich als Sonderangebot, sondern signalisierte unmissverständlich die Vergänglichkeit des Lebens.

Das zarte Läuten der Tür ertönte, eine Mischung aus Armsünderglöcklein und Heilsbotschaft. Sonnenlicht huschte über die Schwelle, dann fiel ein massiger Schatten in den Raum. Der Mann im dunklen Zwirn hinter dem Schreibtisch wurde lebendig. Er sprang nicht auf, wie es in anderen Branchen üblich war, wenn ein Kunde das Geschäft betrat, sondern er erhob sich würdevoll und ging gemessenen Schrittes auf die Frau zu. Mit gesenktem Kopf deutete er eine Verbeugung an und schüttelte seinem Gegenüber die Hand. Der Händedruck war zuversichtlich, die Miene auch, aber Leiden und Mitleid waren trotzdem wie eingemeißelt.

Frank Wilhelm deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, zog behutsam die Tür ins Schloss und nahm etwas umständlich hinter dem wuchtigen Büromöbel Platz. Für einen kurzen Augenblick musterte er die Besucherin. Dieses berufsmäßige Taxieren hatte zweierlei Gründe. Zum einen diente es der Einstufung in die richtige Preiskategorie, und zum anderen der Einschätzung des Seelenfriedens des Klienten.

Die Frau war etwa vierzig Jahre alt und füllig. Ordinär sah sie nicht aus, eher gewöhnlich. Ihre barocken Formen konnte das schwarz-weiß gestreifte Kostüm kaum kaschieren. Geistig hakte der Bestatter seine Liste ab: Konfektionskleidung, also mittlere Preisklasse, die Wimperntusche war nicht tränenverschmiert, und an das dunkelblonde, kurz geschnittene Haar hatte erst heute ein Friseur Hand angelegt. Demzufolge war sein Gegenüber ziemlich gefasst, mit Gefühlsausbrüchen war nicht zu rechnen.

„Gnädige Frau, was kann ich für Sie tun?“, fragte Wilhelm salbungsvoll und geschäftstüchtig zugleich.

„Mein Mann ist gestern Abend verstorben, und da wollte ich …“

„Natürlich, verstehe, gnädige Frau.“ Er erhob sich und reichte seinem Gegenüber erneut die Hand. „Darf ich Ihnen zum Heimgang des teuren Verblichenen mein aufrichtiges Beileid aussprechen?“

„Danke.“

Der Bestatter nahm wieder Platz. Da er in der Stimme der Frau keinen weinerlichen Unterton festgestellt hatte, konnte er also ohne übertriebenen Pathos gleich zur Sache kommen.

„Sie möchten also, dass wir Ihren Trauerfall übernehmen?“

Die Witwe nickte stumm.

„Hatte Ihr Gatte besondere Vorstellungen? Oder haben Sie bestimmte Wünsche?“

„Es soll so wenig wie möglich kosten.“

Wilhelm, der bereits nach seinem Musterbuch fingerte, sah überrascht auf. Auf „Nicht zu teuer, aber massiv soll der Sarg sein!“ hätte er getippt, aber so unverblümt hatte ihm bisher kaum jemand gesagt, dass er den Verstorbenen ausgesprochen billig unter die Erde bringen wollte. Die Frau hatte den Blick bemerkt und deutete ihn richtig. Verlegen knetete sie die Griffe ihrer Handtasche zwischen den Fingern.

„Wir sind nicht sehr vermögend. Mein Mann war Frührentner, und ich bin seit einem halben Jahr arbeitslos.“

„Verstehe.“ Der Bestatter hatte sich wieder in der Gewalt. Mit einem gewinnenden Augenaufschlag präsentierte er den Katalog, blätterte ihn auf und tippte auf eine Seite. „Hier haben wir ein paar ausgesprochen preiswerte Modelle.“ Er schob den Band über den Schreibtisch. „Vielleicht dieses hier?“

Die Besucherin betrachtete das Foto eingehend.

„Ist das der billigste Sarg?“

„Nein, das ist dieser hier.“ Wilhelm zeigte auf ein anderes Bild. „Importmodell aus Osteuropa, industriell gefertigt. Wie Sie sehen, ohne Schnörkel und überflüssigen Zierrat, die Form folgt allein der Funktionalität.“ Er verkniff sich, zu sagen, dass es der sogenannte „Armensarg“ war, den auch die Sozialämter bezahlten. „Er wird häufiger genommen.“

„Gut, den nehme ich auch.“

„Gern, gnädige Frau.“ Der Bestatter blätterte die Särge weg und zeigte andere Abbildungen. „Möchten Sie ein besonderes Arrangement? Sehen Sie hier: Leuchter? Lebensbäumchen? Vielleicht ein Bukett auf dem Sarg als letzter Gruß? Oder Blumenschmuck?“

„Nein, nein, das kann ich mir alles nicht leisten.“

„Ich hätte da noch ein besonderes Angebot. Leihkränze, die wir während der Trauerfeier in der Kapelle aufstellen. Sie bestehen aus synthetischer Tanne, sind aber von echter kaum zu unterscheiden und werden mit Schleifen Ihrer Wahl geschmückt. Pro Stück macht das nur zwanzig Mark.“

„Zu kostspielig“, wehrte die Dunkelblonde ab.

Frank Wilhelm seufzte unhörbar. Er hatte nur wenig Hoffnung, noch an der einen oder anderen Dienstleistung zu verdienen.

„Soll es ein christliches Begräbnis sein? Ich meine, mit Pfarrer?“

„Mein verstorbener Mann ist schon vor Jahren aus der Kirche ausgetreten.“

„Also nein.“

Er machte sich Notizen.

„Vielleicht etwas Orgelspiel? Das ist ja eher neutral, oder?“

„Hm.“ Man sah, dass sie überlegte. „Gut, Orgel ist in Ordnung.“

„Gewiss, gnädige Frau. Möchten Sie zehn Minuten oder eine Viertelstunde?“

„Ist das nicht egal?“

„Leider nicht.“ Der Bestatter zuckte bedauernd mit den Schultern. „Der Musiker wird nach Zeit bezahlt.“

„Das Orgelspiel kostet also etwas?“

„Ja.“ Wilhelm setzte ein gequältes Lächeln auf. „Jedes Extra muss extra bezahlt werden.“

„Dann lassen wir es weg.“

„Wird gemacht.“ Obwohl er die Antwort schon kannte, fragte er routinemäßig: „An welche Art der Beisetzung und an welche Grabstätte haben Sie denn gedacht?“

„Sie wissen ja … Ich muss mit dem Pfennig rechnen.“

„Natürlich, gnädige Frau. Die preiswerteste Beisetzung ist die Feuerbestattung und ein anonymes Urnengrab.“

„Dann machen wir das so.“

Wilhelm nickte, erhob sich und ging an die hintere Wand. Geräuschlos zog er ein Paneel zur Seite. Eine Vielzahl von matt schimmernden Chromstangen wurde sichtbar, an denen die unterschiedlichsten Totenhemden, Sargauskleidungen und -decken hingen.

„Wenn Sie vielleicht mal einen Blick darauf werfen wollen.“ Ein wenig frustriert vom kargen Ergebnis seiner Beredsamkeit kommentierte er: „Sie wissen ja ‒ wie man sich bettet, so liegt man.“

Die Witwe warf ihm einen merkwürdigen Blick zu, sagte aber nichts und machte auch keine Anstalten, aufzustehen.

„Pardon, gnädige Frau, das ist mir so herausgerutscht“, dienerte der Bestatter und schloss den Wandschrank wieder. „Verstehe, das preiswerteste. Also Rupfen.“

Mit Leichenbittermiene kehrte er an seinen Schreibtisch zurück.

„Sind noch Behördengänge zu machen, die wir für Sie erledigen können?“

„Nein. Brauchen Sie den Totenschein?“

„Ja.“

Die Frau öffnete ihre Handtasche und reichte ihm das Papier. Wilhelm warf nur einen kurzen Blick darauf.

„Ach, Ihr Mann ist zu Hause verstorben?“

„Ja. Ist das so ungewöhnlich?“

„Das nicht, aber meist werden wir in die Klinik gerufen.“ Er las erneut in dem Dokument. „Frau … Huber, wann sollen wir bei Ihnen vorbeikommen?“

„So schnell wie möglich. Geht es heute Nachmittag? So gegen fünfzehn Uhr?“

Wilhelm blätterte in seinem Terminkalender. „Ja, das passt. Wir werden pünktlich da sein.“ Er reichte seinem Gegenüber die Hand. „Ihr Trauerfall ist bei uns in besten Händen. Auf Wiedersehen, Frau Huber.“

Eilfertig huschte er zur Tür, ließ die Witwe hinaus und kehrte an seinen Schreibtisch zurück.

Die Tür, die zum Sarglager führte, öffnete sich geräuschlos. Ein großer, hagerer Mann in typischer Schreinerkluft betrat den Raum.

„Du hattest Kundschaft, Frank?“

„Wenn man es so nennen will“, brummte Wilhelm.

„Ich habe es dir ja gesagt: Gestorben wird immer.“ Vergnügt rieb sich der Ältere die Hände. „Bestatter ist ein krisensicherer Beruf.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher, Schwiegervater.“ Der Jüngere nahm die PC-Tastatur in Betrieb. „In einigen Großstädten entstehen schon Ketten von Discount-Bestattern, und diese Beerdigung ist nun schon die zweite total abgespeckte Version in dieser Woche.“ Sarkastisch setzte er hinzu: „Wenn das Schule macht, dann sollten wir eine Do-it-yourself-Abteilung einrichten. ›So baue ich mir einen Sarg aus fünf Brettern‹ und ›So hebe ich mein Grab selbst aus‹.“

„Die Leute müssen eben sparen.“ Der Hagere fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Sogar am Tod.“

 

Zum Roman