Etwas abgespannt, aber dennoch konzentriert, hockte Udo Moser im stickigen Führerstand seiner schweren Diesellok. Lediglich mickrige drei Waggons, von talentlosen Banausen mit Farbspray verunziert, hingen am Haken der tonnenschweren Zugmaschine, die ganz andere Lasten befördern konnte als eine Handvoll Passagiere, die an diesem Samstag von Fulda nach Gießen wollten oder unterwegs aus- oder zustiegen.
Der RB 95546, wie die Bezeichnung im Bahnjargon lautete, war eine Regionalbahn. Jeder, der sich diesem Verkehrsmittel anvertraute, wusste, dass es die vornehme Umschreibung für einen Bummelzug war, der praktisch an jeder vors Haus gestellten Mülltonne hielt. Immerhin gab es zwischen dem osthessischen Bischofssitz und der mittelhessischen Metropole nicht weniger als zwanzig Stopps. In Alsfeld, zwar mit einem der schönsten deutschen Fachwerkensembles ausgestattet, aber mit nicht einmal zwanzigtausend Einwohnern alles andere als ein Eisenbahnknotenpunkt oder eine Stadt mit überregionaler Bedeutung, gab es sogar eine Verweildauer von vier Minuten. Vermutlich hatte man diesen Halt einfach von früher übernommen, als es noch die schnaufenden Dampfrösser gab, die bei einer solchen Pause Wasser und Kohle bunkern mussten.
Diese Ära hatte Moser nicht mehr aktiv erlebt, aber er konnte sich noch gut an die Zeiten erinnern, als er die schon legendären roten Schienenbusse gesteuert hatte. Das war zwar auch schon lange Vergangenheit, aber die Strecke hatte sich seitdem kaum verändert. Es gab nicht mehr den Haltepunkt ›Gießen-Flughafen‹, wo früher Pendler gewartet hatten oder ausstiegen, die bei den Amerikanern im Depot gearbeitet hatten. Sie waren noch und eigentlich wieder präsent in Gießen, die GIs, doch die alte Garnisonsstadt wurde nicht mehr durch Uniformierte aus Übersee und von der Bundeswehr geprägt.
Studenten aus aller Herren Länder hatten ihren Part übernommen, denn kein anderer deutscher Universitätsstandort hatte – gemessen an der Bevölkerungszahl – einen höheren Anteil pro Kopf der Einwohner an zukünftigen Akademikern.
Der rotblonde Mittvierziger kannte die Strecke wie seine Westentasche. Seit Jahren pendelte er zwischen Fulda und Gießen hin und her. Wie immer war der Zug pünktlich um 19.31 Uhr in der Domstadt gestartet, und um 21.30 Uhr war bei Ankunft im Gießener Bahnhof Dienstschluss. An der fahrplanmäßigen Ankunft hatte er, allen Unkenrufen und negativen Berichterstattungen in Presse und Fernsehen zum Trotz, keinen Zweifel. Er hatte seine Regionalbahn, wie das Gespann jetzt in Bahndeutsch hieß, immer termingerecht ins Ziel gebracht.
Der etwas bullige, in sich selbst ruhende und fest behäbig wirkende Beamte fuhr sich über das verschwitzte Gesicht. Der Führerstand war im Sommer eher eine Quälerei, und auch jetzt, Mitte September, waren die Temperaturen für die Jahreszeit noch ungewöhnlich hoch.
Udo Moser freute sich auf seinen Urlaub. Da er keine schulpflichtigen Kinder hatte, hatte er während der Ferien Dienst für Kollegen übernommen, doch nun rückte auch für ihn die Erholung in greifbare Nähe. Das war seine letzte Fahrt, und heute, am 18.9.1999, 21.30 Uhr, war für drei Wochen Schluss mit dem Alltagsstress – abschalten und ausspannen war angesagt. Pünktlich wie immer verließ der Zug den winzigen Bahnhof in Großen Buseck. Routiniert steuerte der Lokführer den nächsten Haltepunkt ›Licher Straße‹ an, den RB 95546 sieben Minuten später um 21.26 Uhr erreichen würde.
Längst war es draußen dunkel geworden. Wie riesige, filigrane Scherenschnitte huschten die Bäume entlang der Trasse an dem ratternden Fahrzeugverbund vorbei, ferne Straßenlaternen und beleuchtete Fenster von Häusern der amerikanischen Siedlung signalisierten, dass Gießens Stadtgrenze erreicht war. Vergnügt pfiff der Beamte vor sich hin. Nur noch fünf Minuten, und dann …
Entsetzt riss Moser die Augen auf. Dort, wo ein unbeschrankter Fußweg in Höhe des VfB-Stadions über die Gleise führte, tauchte im diffusen Licht der drei Stirnscheinwerfer der Diesellokomotive eine menschliche Gestalt auf. Und trotz des unüberhörbaren Geräusches des herannahenden Zuges machte sie keinerlei Anstalten, stehen zu bleiben, im Gegenteil, die Person ging weiter auf den Übergang zu.
Hektisch betätigte Udo Moser das Signalhorn, fuhr den Geschwindigkeitsregler zurück und ließ erneut eine Serie von durchdringenden Pfiffen ertönen. Die gellenden Töne zerrissen die friedliche Abendstille mit unüberhörbaren Warnlauten, aber der Fußgänger reagierte nicht. Unbeirrt setzte er seinen Weg fort und betrat die Gleise.
Dem Mittvierziger, den eigentlich nichts erschüttern konnte, brach der Schweiß aus. Das war der Albtraum eines jeden Lokführers, dass sich jemand vor den Zug warf, um Selbstmord zu begehen, und es war kaum möglich, einen solchen Freitod zu verhindern. Wie in Trance leitete Moser die Notbremsung ein und ließ reflexhaft noch einmal das durchdringende Tuten erschallen.
Als hätte ihn eine Titanenfaust gepackt, ging ein Ruck durch den Zug, abrupt nahm das Tempo ab. Puffer knallten auf Puffer, das Kreischen von malträtiertem Metall war zu hören. Mahlend und stampfend, mit quietschenden, Funken sprühenden Rädern rutschte der tonnenschwere Koloss mitsamt den Wagen über den eisernen Steg, verzögerte seine Fahrt, aber viel zu langsam, um rechtzeitig anhalten zu können. Knapp zweihundert Meter hinter dem Fußgängerüberweg kam die Diesellokomotive zum Stehen.
Wie gelähmt saß Moser da, er war totenbleich. Blicklos und mit versteinerter Miene starrte er auf die Gleise. Von der Person war nichts zu sehen, er hatte nicht bemerkt, dass sie von der Lok erfasst worden war, und trotzdem war er sich sicher, jemanden getötet zu haben.
»Mein Gott, was ist denn los?« Aufgeregt stürzte der Zugführer in die Steuerkanzel. »Warum hast du eine Notbremsung eingeleitet? Was ist passiert?«
»Ich habe einen Menschen umgebracht«, sagte der Rotblonde mit tonloser Stimme.
»Wie, umgebracht?«
»Jemand ist von meinem Zug erfasst worden«, gab Moser stockend zurück.
»Wir müssen nachsehen und gegebenenfalls Meldung machen. So verlangen es die Vorschriften.«
Der Lokführer gab keine Antwort. Apathisch hockte er in seinem Sitz.
»Udo, wir müssen uns vergewissern, ob wirklich etwas passiert ist!«
»Was?«
»Wir müssen nach draußen.« Der nur unwesentlich ältere Zugführer beugte sich über seinen Kollegen und umfasste väterlich seine Schultern. »Komm, Udo, wir müssen überprüfen, ob du recht hast.« Tröstend fügte er hinzu: »Vielleicht hast du dich ja geirrt oder es war nur ein Tier.«
Wortlos und mit ungewohnt steifen Bewegungen kletterte Moser aus der Kanzel ins Freie. Der andere Beamte, der ihm stumm folgte, ließ seine Lampe aufblitzen. Äußerlich war an der Lokomotive nichts zu sehen, aber dann stellten die beiden vorne rechts Blutspuren fest, und in den Spiralfederbeinen des Radsatzes hingen Stofffetzen.
Gleich darauf machten sie eine grausige Entdeckung. In unmittelbarer Entfernung, noch auf dem Schotterbett des Gleiskörpers, erfasste der Lichtkegel einen bis fast zur Unkenntlichkeit verstümmelten menschlichen Körper mit abgetrennten Gliedmaßen.
Von einem Weinkrampf geschüttelt, brach der stets so beherrscht wirkende Lokführer zusammen.