Leseprobe – Mörderisches Phantom


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1.

„Hallo, Süßer, du gewählt richtiges Nummer“, gurrte eine Frauenstimme mit starkem osteuropäischem Akzent. „Hier ist Irena. Womit ich dich kann verwöhnen?“

„Ich stehe auf russische Mädchen. Kommst du aus Russland?“

„Da, Towaritsch“, bestätigte die Prostituierte und verfiel dabei unwillkürlich in ihre Muttersprache und das kommunistische Vokabular der ehemaligen Sowjetunion, denn die zwei Worte hießen übersetzt schlicht und einfach ›Ja, Genosse!‹ „Ja, ich Russin und kommen aus Towaritsch“, schwindelte die Hostess geistesgegenwärtig. „Ist kleines Dorf in Nähe von Moskau.“

„Gut. Machst du Hausbesuche?“

„Ja, ich kommen zu Hause, kein Problem“, flötete sie in die Muschel. „Haben du Wünsche sind besonders?“

„Nein. Kannst du in einer Stunde bei mir sein?“

„Wo ist Haus?“

„Ich wohne im Hotel gegenüber vom Autohaus Gießen hier in der Marburger Straße.“

„Geht gut, Süßer. Ich kommen pünktlich.“

„Okay, aber Diskretion ist wichtig. Ich erwarte keine aufgedonnerte Nutte, sondern eine junge Frau, die dem Portier nicht auffällt. Ist das klar?“

„Wie du wünschen. Was ist Nummer von deine Zimmer?“

„Fünfundzwanzig. Klopfe zweimal an, dann weiß ich Bescheid, dass du da bist.“

„Ich pochen doppelt an Tür. Du nicht bereuen, Irena gewählt zu haben. Schon jetzt ich nur Lust auf dich und kaum erwarten, zu verwöhnen dich, mein starkes Mann.“

„Ich erwarte dich dann. Bis gleich“, gab der Anrufer eher lakonisch zurück und legte auf.

*

Es klopfte zweimal. Der Hotelgast huschte auf Strümpfen zur Tür und öffnete. Eine üppige Rothaarige stand auf dem Gang, kein Rubensmodell, aber mit gut proportionierten weiblichen Rundungen. Sie konnte kaum älter als zwanzig sein.

„Hallo, Süßer, da ich bin …“

„Doch nicht hier auf dem Flur!“, zischte der Uniformierte, sah hastig nach links und rechts und zog das Mädchen ins Zimmer.

„Entschuldigung, ich wollte nicht machen Probleme.“

„Schon gut.“

„Gefallen ich dir?“

Das Freudenmädchen wippte aufreizend mit dem Po und zog den Minirock noch etwas höher.

„Was machen dir besondere Freude?“

„Zieh dich aus. Ich will dich nackt sehen!“

„Das kosten doppelt, Süßer!“

Der Freier griff in seine Hosentasche, zückte einen zerknüllten Fünfhundert-Mark-Schein und warf ihn achtlos auf den Tisch.

„Genügt das?“

„Sehr genügen.“

Mit flinken Fingern griff die Prostituierte nach der Banknote und ließ sie in ihrer Handtasche verschwinden, dann begann sie, sich mit aufreizenden Bewegungen zu entkleiden.

„Du kannst dir den Striptease sparen, Mädel. Runter mit den Klamotten und dann ab aufs Bett mit dir.“

„Ah, ich lieben Soldaten. Wissen immer, was wollen und kommen gleich zur Sache.“

Der Hotelgast gab keine Antwort und verschwand im Bad. Als er zurückkam, trug er noch immer seine Uniform und hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

„Ah, verstehen, schnelle Nummer.“ Die Rothaarige räkelte sich wollüstig auf den Kissen. „Bundeswehr immer marsch, marsch.“

„Genau!“

Der Soldat ließ sich neben der üppigen jungen Frau auf der Matratze nieder, dann schossen seine Hände vor. Mit der Linken presste er ihr einen mit Äther getränkten Wattebausch auf die Nase, während er ihr mit der Rechten mit aller Kraft den Mund zuhielt.

Für Irena kam diese Attacke völlig überraschend. Instinktiv schrie sie, gleichzeitig schlug sie reflexhaft um sich und versuchte, den Angreifer abzuwehren. Die kreatürliche Angst verlieh ihr Bärenkräfte, aber ihre Hilferufe wurden zu einem dumpfen Gurgeln erstickt, und mit jeder Anstrengung atmete sie das betäubende Gas tiefer und intensiver ein. Die Körperbewegungen wurden immer unkoordinierter und kraftloser, dann verlor sie endgültig das Bewusstsein.

Keuchend und mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht erhob sich der Uniformierte, träufelte erneut reichlich Äther auf die Watte, legte sie in einen in Krankenhäusern üblichen Zellstoff-Mundschutz und band ihn dem Mädchen vors Gesicht. Narkotisiert, völlig reg- und wehrlos, lag die Prostituierte nun auf dem Bett.

Der Bundeswehrsoldat betrachtete die nackte Frau mit einer Mischung aus Zufriedenheit und Triumph, dann ging er erneut ins Bad und kam mit einer gefüllten, großkalibrigen Spritze mit 250 ml Inhalt zurück, der aber die Nadel fehlte.

Beinahe versonnen bestrich er die Kunststoffhülle mit einem Gleitmittel, beugte sich über die Rothaarige und bugsierte den Zylinder vorsichtig in ihre Scheide. Als der nahezu darin verschwunden war, drückte er das Injektionsgerät mit einem Ruck noch ein Stückchen tiefer und spritzte der Bewusstlosen den Inhalt dann durch Druck auf den Kolben in ihre Gebärmutter.

Mit einem lustvollen Glitzern in den Augen zog er das Plastikinstrument langsam wieder heraus und griff zu einem Röhrchen, in dem üblicherweise Brausetabletten aufbewahrt wurden. Er schüttelte ein Tampon heraus, führte es in die Scheide ein und stand auf.

Mit einem diabolischen Lächeln im Gesicht, ohne noch einen Blick auf sein Opfer zu werfen, holte der Uniformierte seinen Fünfhunderter aus der Börse der Betäubten, raffte Irenas Kleidung zusammen und packte sie mit seinen eigenen Sachen und den benutzten Utensilien in den Koffer. Zuletzt entfernte er noch mögliche Fingerabdrücke, nahm der jungen Frau die Maske mitsamt Watte ab und spülte beides durch die Toilette.

„Das war’s, du Russennutte! Ich war dein letzter Kunde auf Erden, der nächste erwartet dich in der Hölle!“

  

2.

Die Ausstattung wirkte dem Gewebe angemessen. Sonnenstrahlen wurden durch geschickt angebrachte Jalousien und Vorhänge am Eindringen gehindert, und was sich an Tageslicht trotzig und schüchtern zugleich in den Raum verirrte, wurde gelenkt, geleitet und durch Gardinen gebremst. Halogenlampen und Deckenfluter übernahmen den Part der Sonne, nicht grell und aufdringlich, sondern gezielt gesteuert und eher diffus.

Dem zeitlosen Mobiliar sah man auf den ersten Blick an, dass es aus massivem Holz bestand. Ob Kirschbäume, Palisander oder exotischere Gewächse für diese Schreinerkunst ihr Leben gelassen hatten, war nicht auf Anhieb zu erkennen. Mit dem gleichen Material waren die Wände verkleidet, ein dunkelgrauer Teppich aus dichtem, Schall schluckenden Flor bedeckte den Boden.

Keine Pflanze hätte in diesem Halbdunkel mehr als einen Monat überdauert, dennoch waren etliche Vertreter des Pflanzenreichs in Kübeln vertreten: Exotische Palmfarne, Lorbeerbäumchen und strenge, stammlose Palmen mit starren Wedeln vermittelten eher Düsternis als frisches Grün. Die Heiterkeit ihrer ursprünglichen Heimat war ihnen gründlich ausgetrieben worden, denn es waren Geschöpfe, die der Mensch geschaffen hatte: naturidentisch. Weniger verschämt gesagt: künstlich.

Da der Fortschritt vor keiner Branche Halt macht, war neben dem obligatorischen Telefon in mitternachtsblau – was im Prinzip schwarz ist – auch ein PC vorhanden. Sein Gehäuse war in Anthrazit gehalten, und die Konsole prangte in aufreizendem Stahlgrau. Ein wenig gewöhnungsbedürftig waren die Regaldekorationen: Urnen aller Art und Couleur standen da mehr oder weniger dekorativ herum. Keine offerierte sich als Sonderangebot, sondern signalisierte unmissverständlich wie ein Manifest die Vergänglichkeit des Lebens.

Das zarte Läuten der Tür ertönte, eine Mischung aus Armsünderglöcklein und Heilsbotschaft. Ein paar der zu dieser Jahreszeit schon wärmenden Sonnenstrahlen huschten über die Schwelle, dann fiel ein Schatten in den Raum. Der Mann im dunklen Zwirn hinter dem Schreibtisch wurde lebendig. Er sprang nicht auf, wie es in anderen Branchen üblich war, wenn ein Kunde das Geschäft betrat, sondern er erhob sich würdevoll und ging gemessenen Schrittes auf die Frau zu. Mit gesenktem Kopf deutete er eine Verbeugung an und schüttelte seinem Gegenüber die Hand. Der Griff war zuversichtlich, die Miene auch, aber Leiden und Mitleid waren trotzdem wie eingemeißelt.

Frank Wilhelm deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, zog behutsam die Tür ins Schloss und nahm etwas umständlich hinter dem wuchtigen Büromöbel Platz. Für einen kurzen Augenblick musterte er die Besucherin. Dieses berufsmäßige Taxieren hatte zweierlei Gründe. Zum einen diente es der Einstufung in die richtige Preiskategorie, und zum anderen der Einschätzung des Seelenlebens des Klienten.

Die zierlich alte Dame mochte so in den Siebzigern sein und verbreitete jene Mischung aus Anstand, Kultur und Würde, die die höheren Töchter der früheren großbürgerlichen Familien einst ausgezeichnet hatte. Sie trug einen dunklen Übergangsmantel, der zwar nicht mehr der neuesten Mode entsprach, aber aus feinem weichen Leder bestand und tadellos verarbeitet war. Dem Material und der Passform nach stammte das Kleidungsstück bestimmt nicht von der Stange. Geistig hakte der Bestatter seine Liste ab: Keine Konfektionsware, also gehobene Preisklasse, zartes Rouge färbte die bleichen Wangen rosig, der Blick war nicht tränenumflort, und die weißen Haare waren so sorgfältig frisiert, als stünde ein Opernbesuch bevor. Demzufolge war sein Gegenüber ziemlich gefasst, mit Gefühlsausbrüchen war nicht zu rechen.

„Gnädige Frau, was kann ich für Sie tun?“, fragte Wilhelm salbungsvoll und geschäftstüchtig zugleich.

„Mein Bruder ist gestern Nachmittag verstorben, und da wollte ich …“

„Natürlich, verstehe, gnädige Frau.“

Er erhob sich und reichte der alten Dame erneut die Hand.

„Darf ich Ihnen zum Heimgang des teuren Verblichenen mein aufrichtiges Beileid aussprechen?“

„Danke.“

Der Bestatter nahm wieder Platz. Da er in der Stimme der Frau keinen weinerlichen Unterton ausgemacht hatte, konnte er ohne übertriebenes Pathos gleich zur Sache kommen.

„Sie möchten also, dass wir Ihren Trauerfall übernehmen?“

Die Weißhaarige nickte zustimmend.

„Ja, denn außer mir hat Arthur keine Angehörigen mehr, die sich um die Beisetzung kümmern könnten. Seine Ehe war kinderlos, und nach dem Tod seiner Frau bin ich zu ihm gezogen und habe ihm den Haushalt geführt. Männer sind in solchen Dingen ja so unpraktisch.“

„Hatte Ihr Herr Bruder besondere Vorstellungen? Oder haben Sie bestimmte Wünsche?“

„Mein Bruder war bis zu seiner Pensionierung Direktor eines Gymnasiums, müssen Sie wissen. Da gab es Lehrpläne, Dienstanweisungen und Vorschriften, und als gewissenhafter Beamter hat Arthur das verinnerlicht. Auch privat hat er nichts dem Zufall überlassen und natürlich auch seine Beerdigung geplant.“

Die alte Dame nestelte am Verschluss ihrer Krokodilleder-Handtasche, zog ein mit Schreibmaschine geschriebenes DIN-A 4-Blatt hervor und reichte es Frank Wilhelm.

„Danke, sehr freundlich“, murmelte der Bestatter und vertiefte sich sogleich in den Inhalt.

Das Ganze las sich wie ein makabrer Einkaufszettel, auf dem der Tote penibel vermerkt hatte, wie er unter die Erde gebracht werden wollte: Sarg Eiche massiv mit patinierten Kupferbeschlägen, keine Zierelemente. Kleidung: eigener schwarzer Anzug. Sargbukett: weiße Lilien. Orgelspiel: Requiem von Mozart, Köchelverzeichnis Nummer soundso und so weiter und so fort.

Wilhelm legte das Papier zur Seite. Zweifellos war der Verstorbene ein Pedant gewesen, aber was er verfügt hatte, konnte einem Bestatter gefallen. Es war ein Trauerfall der gehobenen Preisklasse, und unter dem Strich würde es ein gutes Geschäft für die Firma werden.

„Wenn Sie keine anderen Vorstellungen haben, werden wir alles so arrangieren, wie es Ihr Herr Bruder gewünscht hat.“

„Ich werde mich hüten, an seinen Vorgaben etwas zu ändern!“, sagte die Frau abwehrend und entsetzt zugleich. „Arthur würde es fertigbringen, mir nachts als Geist zu erscheinen, nur weil ich die falschen Blumen gewählt habe.“

„Das wollen wir selbstverständlich beide nicht.“

Wilhelm verwandelte sich in ein mimisches Chamäleon. Anteilnahme und Mitleid bestimmten nach wie vor seinen Gesichtsausdruck, doch ein paar beruflich selten genutzte Muskelgruppen im Antlitz ließen ein wenig Heiterkeit erkennen, die allerdings den optisch erkennbaren Schmerz über das traurige Ereignis nicht überlagerten.

„Gnädige Frau, Sie sagten, dass Ihre Schwägerin schon vor Ihrem Herrn Bruder verstorben ist. Vermute ich richtig, dass demzufolge bereits ein Familiengrab existiert?“

„Ja, es gibt eine Gruft auf dem Neuen Friedhof.“

„Gut, dann brauchen wir diesbezüglich nicht tätig zu werden.“

Der Bestatter machte sich ein paar Notizen.

„Alles Weitere steht ja hier in der Verfügung. Haben Sie den Totenschein dabei?“

„Natürlich.“

Die alte Dame kramte erneut in ihrer Tasche und legte das gewünschte Papier auf den Schreibtisch.

„Bitte sehr.“

Frank Wilhelm nahm die Bescheinigung und warf einen kurzen Blick darauf.

„Wie ich sehe, hat ein niedergelassener Arzt den Totenschein ausgestellt, und ich denke, dass es der Hausarzt war. Demnach ist Herr Meyer in seiner Wohnung verstorben?“

„In seinem Haus“, betonte die Frau. „Ist das bei Herzstillstand so ungewöhnlich?“

„Um Gottes willen, nein. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch – es ist keine Neugier, sondern nur die für uns wichtige Frage, wo wir Ihren Herrn Bruder abholen sollen.“ Der Bestatter gab sich zerknirscht. „Es hätte ja auch eine Klinik sein können, Frau …?“

„Auch Meyer – Ruth Meyer. Ich bin unvermählt geblieben, denn mein Verlobter ist im 2. Weltkrieg gefallen, und ein anderer Mann kam für mich nie mehr in Frage.“

„Das tut mir leid, gnädige Frau.“

„Lassen wir das, es ist nun schon eine zu alte Geschichte.“

Verstohlen sah sie sich im Raum um, als wollte sie sich vergewissern, dass sie unbeobachtet waren, dann beugte sie sich mit Verschwörermiene zum Bestatter vor.

„Sagen Sie, lässt es sich einrichten, dass in der Gruft noch Platz für einen dritten Sarg ist?“, erkundigte sich Ruth Meyer und knetete dabei verlegen die Bügel ihrer Handtasche.

Frank Wilhelm bedachte sein Gegenüber mit einem merkwürdigen Blick.

„Ich fürchte, ich verstehe den Sinn Ihrer Frage nicht ganz, gnädige Frau.“

Die weißhaarige alte Dame errötete wie ein verliebter Teenager, den die Eltern in flagranti erwischt hatten.

„Nun, sehen Sie, ich bin die Letzte der Familie, es gibt keine weiteren Verwandten mehr. Und da mich der liebe Gott ja nicht ewig leben lässt, brauche ich für später auch ein Plätzchen, wo man mich zur letzten Ruhe bettet.“

„Ach, so meinen Sie das.“

Um ein Haar hätte der Bestatter befreit aufgelacht, verkniff sich diesen akustischen Heiterkeitsausbruch jedoch in letzter Sekunde.

„Natürlich gibt es da Möglichkeiten, gnädige Frau, sogar mehrere. Sie können zum Beispiel mit unserem Institut einen Bestattungsvorsorge-Vertrag abschließen …“

„Danke, junger Mann …“

„Wilhelm, Frank Wilhelm.“

Er zog eine Visitenkarte aus der Tasche und schob sie über den Tisch.

„Bitte entschuldigen Sie, dass ich mich nicht gleich vorgestellt habe.“

„Schon gut, Herr Wilhelm.“

Ruth Meyer griff nach dem bedruckten Karton und steckte ihn ein.

„Bitte keine Details, das überlasse ich Ihnen. Mir reicht es, zu wissen, dass ich dort einmal unterkomme.“

„Das ist kein Problem. Wenn Sie mich anrufen, können wir einen Termin vereinbaren, und ich komme zu Ihnen nach Hause, um alles Nötige zu besprechen. Sie können natürlich auch gerne hier vorbeikommen, falls Ihnen das lieber ist.“

Der Bestatter deutete ein gewinnendes Lächeln an, zückte seinen Terminkalender und blätterte darin.

„Wenn es Ihnen recht ist, würden wir Ihren Herrn Bruder noch heute abholen. Passt es Ihnen um vierzehn Uhr?“

„Ja, das geht in Ordnung.“ Die Frau erhob sich und reichte Wilhelm die Hand. „Vielen Dank einstweilen.“

„Ich habe zu danken, gnädige Frau.“

Frank Wilhelm ergriff die dargebotene Rechte und drückte sie so, wie es sich für einen geprüften Bestatter geziemte: Nicht zu fest, denn der seelische Schmerz eines Hinterbliebenen sollte nicht durch körperlichen Schmerz noch vertieft werden, nicht lasch, weil das Inkompetenz vermittelte und mangelnde Anteilnahme, auch nicht herzlich, denn es galt ja nicht, ein freudiges Ereignis zu feiern, nein, Wilhelms Händedruck vermittelte Mitgefühl, Kompetenz und Zuversicht.

„Gnädige Frau, Ihr Trauerfall ist bei uns in besten Händen.“

Würdevoll und fürsorglich zugleich begleitete er die alte Dame zum Ausgang und öffnete die Tür wie ein Kavalier der alten Schule.

„Auf Wiedersehen, gnädige Frau!“

*

Frank Wilhelm war das, was man einen passabel aussehenden jungen Mann nannte. 1,80 Meter groß, schlank und sportlich, volles braunes Haar, blaue Augen, aber kein Model-Typ.

Dazu waren die oberen Schneidezähne etwas zu groß geraten, der Mund zu breit, und die Nase wies dort einen leichten Höcker auf, wo ihm ein Faustschlag sehr praktisch die anatomische Lage des Nasenbeins verdeutlicht hatte. Danach hatte er mit dem Boxsport aufgehört, zumal auch seine leicht überdimensionierten Lauschorgane öfters zur Zielscheibe gegnerischer Attacken wurden. Eine Existenz als ›Blumenkohlohren‹ blieb ihnen so erspart.

Er entstammte einer alteingesessenen Gießener Arztfamilie, der Vater war ein angesehener Professor und Chef der Gießener Pathologie. Als braver Sohn hatte er folgsam nach dem Abitur an der Justus-Liebig-Universität mit dem Medizin-Studium begonnen, dann aber nach dem siebten Semester die Brocken hingeworfen. Er sah auf einmal keinen Sinn mehr darin, später mal Menschen aufzuschneiden oder einzugipsen, mit Spritzen zu traktieren oder bis an sein Lebensende Pülverchen und Pillen zu verschreiben, außerdem war ihm die mittelhessische Metropole auf einmal zu eng und zu spießig. Es zog ihn hinaus in die Großstadt, weg von zu Hause und dem bürgerlichen Alltagstrott.

Als er daheim ankündigte, dass er das Studium der Humanmedizin an den Nagel hängen und aus dem elterlichen Haus ausziehen wollte, war die Familie – wie nicht anders zu erwarten ‒ außer sich vor Begeisterung. Nachdem auch das von seinem Vater verordnete und schon beim Militär erfolgreiche „eine Nacht überschlafen“ zu keinem Sinneswandel führte, fand er sich quasi auf der Straße wieder. Zwar hatte man ihn nicht des Hauses verwiesen, doch das Umgangsklima war mehr als eisig, und der monatliche Scheck gestrichen.

Mit ein paar persönlichen Habseligkeiten war Frank Wilhelm nach Frankfurt getrampt, um sich dort den Duft der großen weiten Welt um die Nase wehen zu lassen. Zwei Tage lang genoss er Freiheit und Großstadt, dann holte ihn das herbstlicher werdende Klima in die Realität zurück. Das Übernachten auf Parkbänken oder am Main waren nichts für einen an Zentralheizung und fließend warmes Wasser gewöhnten jungen Mitteleuropäer, also benötigte er ein Dach über dem Kopf.

Er kam in einer Wohngemeinschaft unter, doch dort verlangte man natürlich einen aktiven Beitrag zum Lebensunterhalt. Also jobbte der Medicus in spe a. D. und verdingte sich als Kistenschlepper im Großmarkt, als Lagerarbeiter, Baugehilfe, Nachtwächter und nahm fast jede Arbeit an, für die man kein Abitur brauchte.

Eine unerwartete Wendung nahm sein Leben, als er bei einem Schoppen Apfelwein in Frankfurt-Sachsenhausen einen leibhaftigen Detektiv traf und mit diesem ins Gespräch kam. War es Zufall oder Schicksal, dass er zwei Tage später in einer Zeitung die Anzeige fand: ›Ausbildung zum Privatdetektiv in nur zwei Tagen‹? Gut, der Lehrgang sollte DM 995,- kosten, aber war es das nicht? Unabhängigkeit, Handy, schnelle Autos und kein Chef, der buchhalterisch mit der Stoppuhr die Arbeitszeit kontrollierte? Später vielleicht sogar ein eigenes Büro? Der Gießener sah das Schild schon vor seinem geistigen Auge: Frank Wilhelm, internationale Ermittlungen aller Art.

Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, und da traf es sich gut, dass die schon etwas gebrechliche Großmutter gar nicht so weit weg in Taunusstein in einer Seniorenresidenz wohnte. Nach wie vor war sie ihrem Lieblingsenkel Frank auch finanziell zugetan, und so war es kein Problem für ihn, die Seminargebühren aufzutreiben.

Schlechter als ›Mit Auszeichnung bestanden‹ schnitt keiner der sieben Lehrgangsteilnehmer ab, und so klapperte der frischgebackene ›Schnüffler‹ mit seinem Diplom unterm Arm die Frankfurter Detekteien ab. Die schienen alle schon auf ihn gewartet zu haben. In den großen Büros, die in ganz Deutschland oder sogar international arbeiteten, wollte sich schon die Empfangsdame totlachen, als er seine Urkunde vorzeigte, und als er sich daraufhin auf die kleinen Agenturen verlegte, waren es meist Klitschen oder Ein-Mann-Betriebe, die mehr schlecht als recht lebten und keinen Juniorpartner brauchen konnten.

Fast war Wilhelm schon geneigt, aufzugeben, als er doch noch auf eine Art Lizenznehmer traf, der in anderen Städten auf Partner zurückgreifen konnte, dem es aber auch möglich war, eigene Niederlassungen zu errichten.

„Wenn du dir jetzt einbildest, mit deinem Crash-Kurs Sherlock Holmes zu sein, bist du bei mir falsch.“ Alfons Kock gab das Diplom zurück. „Aber ein Anfang ist gemacht. Ein paar Tage Einweisung bekommst du von mir, und dann kannst du anfangen.“

Der frischgebackene Privatdetektiv wollte sich überschwänglich bedanken, doch Kock hob abwehrend die Hände.

„Du kannst mich Alfons nennen, das Duzen ist bei uns üblich.“

Er musterte den Jüngeren abschätzend.

„Ein Schwerpunkt unserer Arbeit ist die Sicherstellung von Fahrzeugen im Auftrag der Banken und angeblich gestohlener finanzierter Wagen.“

„Verstehe. Zahlungsrückstände und nicht eingehaltene Raten.“

„Genau. Und es sind nicht nur die Golfbesitzer, sondern auch BMW- und Porschefahrer.“

„Hört sich nicht sonderlich aufregend an.“

„Du wirst dich wundern.“ Kock grinste breit. „Bei den Allerweltsmodellen bekommst du es oft mit ahnungslosen Hausfrauen und keifenden Schwiegermüttern zu tun, die dich mit geschwungenem Besen und der Androhung, die Polizei zu holen, vom Hof jagen wollen, die Jungs mit den Luxusschlitten dagegen sind von ganz anderem Kaliber. Mal kommen die mit einem Rechtsverdreher, aber es kann dir auch passieren, dass die ein paar Typen aufbieten, die dir eins auf die Zwölf geben wollen.“

„Ängstlich war ich noch nie.“

„Gut. Wie ich den Unterlagen entnommen habe, stammst du aus Gießen.“

„Richtig“, bestätigte Wilhelm.

„Ich habe vor, dort eine Zweigstelle zu gründen. Es macht einfach mehr Sinn, vor Ort präsent zu sein. Du wärst dann für Gießen, Wetzlar, Marburg und Alsfeld zuständig.“

Kock fixierte sein Gegenüber.

„Du bekommst ein Büro in Gießen, eine Halbtagskraft und die notwendige technische Ausrüstung. Basis ist Fixum plus Erfolgsprovision.“

Frank Wilhelm überlegte nicht lange. Frankfurt war eigentlich doch nicht das, was er sich vorgestellt hatte, ein wenig Heimweh kam hinzu, und die Aussicht, unabhängig zu sein und trotzdem Geld zu verdienen, gab den Ausschlag. In der Rhein-Main-Metropole hatte er nämlich einen ehemaligen Kommilitonen getroffen, der auf Biochemie umgesattelt und ihm dieses Studium in den leuchtendsten Farben geschildert hatte. Das kam seinen Neigungen entgegen, und da die Sicherstellung von Autos meistens abends oder am Wochenende erfolgte, ließ sich die Arbeit ideal mit dem Hörsaal verbinden.

„Einverstanden, Alfons, du kannst auf mich zählen!“

„Prima. Willkommen an Bord!“

 

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