Leseprobe – So bitter die Erkenntnis


Zum Roman

 

1

Felix Meister stand hinter dem Bühnenvorhang und tat einen tiefen Atemzug. Ganz im Hier und Jetzt, die Augen geschlossen, genoss er die vertrauten Gerüche und Geräusche während des Szenenumbaus. In den Hauch von Bohnerwachs und Farbe mischte sich jetzt noch ein anderer, der unmittelbar zur Bühne gehörte. Der Sänger lächelte, man konnte den Staub, den der dunkelrote, prächtige Samtvorhang im Laufe der Jahre angesetzt hatte, tatsächlich riechen. Er zog schnuppernd die Luft durch die Nase ein. Es stimmte, der Geruch erinnerte ihn an den verborgenen Platz auf dem Speicher seines Elternhauses, der in Kindertagen sein Rückzugsort gewesen war.

Felix trat nun näher an den geschlossenen Vorhang heran und blinzelte durch ein kleines Loch in den Zuschauerraum. Die Menschen, die heute dicht an dicht in den Zuschauerreihen saßen, waren ausnahmslos festlich gekleidet. Manche studierten das Programm, andere unterhielten sich leise, sodass ein Raunen hinauf bis zur Bühne drang, und wiederum andere warteten gespannt darauf, dass der Vorhang sich endlich wieder öffnete. Eine andächtige Stimmung lag in der Luft, von einer Art, wie ein Künstler sie sich wünschte.

Es gab auch ganz andere Vorstellungen – Felix zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen – bei denen das Publikum unruhig oder ziemlich desinteressiert wirkte. Heute aber schien alles perfekt zu sein. Er hatte bereits während der ganzen Aufführung gespürt, wie die Zuschauer mitfieberten, und dass die erwartungsvolle Spannung sich jetzt noch zu steigern schien, jagte ihm wohlige Schauer den Rücken hinunter.

»Felix, bist du fertig?« Die hektische Stimme des Spielleiters riss den Sänger unsanft aus seinen Gedanken.

»Sicher!« Felix Meister öffnete die Augen. Als ob er plötzlich eine schwere Last auf den Schultern trüge, beugte er sich für einen Augenblick nach vorn, um sich dann wieder kraftvoll aufzurichten. Heute war ein besonderer Tag, Premiere, man gab die Traviata und er sang und spielte darin die zweite männliche Hauptrolle, Giorgio Germont, den Vater des jungen Alfredo.

Langsam ergriff das vertraute Lampenfieber wieder von ihm Besitz, in das sich jetzt noch ein anderes Gefühl mischte, ein Gefühl der Befreiung, das ihm Flügel zu verleihen schien …

Vor ihm lag der letzte Akt, und er wollte wahrhaftig sein Bestes geben, um den Abend für alle zu einem unvergesslichen Ereignis werden zu lassen.

Felix Meister war eine auffallende Erscheinung: Groß, muskulös, mit beeindruckender Adlernase, die seine markanten Gesichtszüge unterstrich, trug er das dunkle, von attraktiven grauen Strähnen durchzogene, volle Haar nach Künstlerart etwas länger, was seine Züge weicher machte. Es gab Frauen, bei denen er ein spontanes Anlehnungsbedürfnis auslöste, und das Timbre seiner ausgebildeten Stimme tat ihr Übriges.

Jetzt aber konzentrierte er sich vollkommen auf seine Opernrolle, in der er als strenger Vater die Beziehung seines Sohnes Alfredo zu Violetta, einer Kurtisane, zerstören will, weil er um das Ansehen seiner Familie fürchtet.

Während seiner Auftritte fing Felix an diesem Abend hier einen bewundernden Blick seiner beteiligten Kollegen auf, oder dort ein Lächeln, das ihm die junge Sängerin in der Rolle der Violetta schenkte. Er spürte, dass er immer besser wurde und ganz mit seiner Rolle verschmolz.

Obwohl er als Vater ein gutes Herz hat und erkennt, dass Alfredo und Violetta sich wirklich lieben, bringt er Violetta dazu, seinem Sohn einen Abschiedsbrief zu schreiben. Auf einem Fest macht Alfredo Violetta, tobend vor Eifersucht, eine Szene, weil er glaubt, sie betrüge ihn.

Großartige Gesten, die den Gesang unterstrichen, waren heute nicht nur bei Felix an der Tagesordnung, denn seine Spielfreude spornte auch die anderen Künstler an, was er enthusiastisch zur Kenntnis nahm.

Der Vater versucht die Situation zu retten und verurteilt Alfredo zum Schein mit der Absicht, Schlimmeres zu verhindern. Dabei begreift er selbst, dass er einen großen Fehler gemacht hat.

Felix legte so viel Leidenschaft in seine Stimme, dass die junge Sängerin ihm ebenso antwortete, worauf er anerkennend den Kopf in ihre Richtung neigte, um dann noch einmal alle Kräfte für seine letzte Arie zu sammeln.

Am Ende bittet der Vater seinen Sohn und Violetta um Verzeihung, aber es ist zu spät. Violetta stirbt wenig später an Schwindsucht.

Die weiche Stimme des Baritons trug an diesem Abend in vollkommener Klarheit bis in die letzte Reihe des ausverkauften Bonner Opernhauses. Und in diesen Minuten gab es – weder für das bezauberte Publikum, noch für den Künstler – nichts Wichtigeres und auch keinen größeren Kunstgenuss, als diese Stimme, die voller Inbrunst erklang.

 

2

Ines Wagner stand vor dem Spiegel.

Zögernd wagte sie ein verführerisches Lächeln, drehte sich ein wenig zur Seite und neigte kokett den Kopf, gab dann die ungewohnte Pose verlegen lächelnd auf, um sich jetzt ganz kritisch zu mustern. Sie nickte. Doch, ihr gefiel, was sie sah. Das ausdrucksstarke Gesicht sprach von Sensibilität, die großen braunen Augen von Wärme, die gerade, wohlgeformte Nase von Glück und der etwas zu breite Mund von Genussfähigkeit. Ihr kinnlanges, kräftiges, kastanienrotes Haar schmiegte sich, bis auf eine widerspenstige Strähne an der Stirn, perfekt geschnitten wie ein Helm um ihren Kopf und verlieh ihr etwas anmutig Jugendliches – Ines Wagner war eine attraktive Frau, und sie war zweiundfünfzig Jahre alt. Um die Besonderheit des Augenblicks zu unterstreichen, war sie das Wagnis eingegangen, ihr Haar mit Hilfe eines unsichtbaren Haarteils und vielen Klämmerchen hochzustecken. Das Ganze hatte eine geschlagene Stunde in Anspruch genommen, ihre Arme fühlten sich durch das ungewohnte Recken inzwischen wie Blei an, aber endlich war sie mit dem Ergebnis zufrieden: Das ovale Gesicht, der zarte Hals und ihre kleinen Ohren kamen vollkommen zur Geltung.

Mit einem Ruck wandte Ines sich jetzt vom Spiegel ab. Der enge Rock des neuen, figurbetonten, schwarzen Kleides mit dem tiefen Dekolletee hinderte sie daran, die üblichen, an Hosen gewöhnten Schritte zu machen. Sie lachte. Jeden Tag konnte man ein solches Kleid sicher nicht tragen. Aber das war unwichtig. Der heutige Abend sollte ein ganz besonderer werden. Ein Abend, an den sie sich später immer gern erinnern wollte, weil er einen neuen Lebensabschnitt einläutete.

Ihre hohen Absätze klapperten über den Boden, während sie nun die Diele durchschritt. Plötzlich hielt sie inne, um schnuppernd die Luft durch die Nase einzuziehen. Der verführerische Duft mediterraner Kräuter, der jetzt durch die Räume ihrer Altbauwohnung zog, orderte sie augenblicklich zurück in die Küche. Es roch fast wie im Da Enzo, ihrer Lieblingstrattoria in Umbrien, die während ihrer Italienurlaube so etwas wie ihr zweites Zuhause war. Dort ließ sich Signora Russo, die begnadete Köchin, von Ines in der Küche immer wieder gern über die Schulter schauen. Dabei hatte sich Ines so manchen Profitrick abgeschaut, den sie dann beim geselligen Beisammensein mit Freunden erfolgreich in die Tat umsetzte. Jetzt reduzierte sie die Temperatur des Backofens, in dem der südlich gewürzte, weingeschwängerte Kalbsbraten schmorte und schickte sich an, einen frischen Salat vorzubereiten. Ines schaute auf die Uhr – schon halb elf – wenn alles normal verlief, konnte Felix in einer Stunde da sein.

Sie goss sich ein Glas Weißwein ein und schlenderte ins Esszimmer, um den festlich gedeckten Tisch erneut in Augenschein zu nehmen. Das weiße Tischtuch stammte noch von ihrer Großmutter, die es nur zu besonderen Anlässen aufgelegt hatte, ebenso wie das Tafelsilber, das im Schein der Kerzen schimmerte und den edlen Weingläsern kleine Lichter aufsetzte.

Die Rosenblätter … Ines griff sich an die Stirn. Fast hätte sie die Rosenblätter vergessen. Sie eilte in die Diele, nahm den Schlüssel von der alten Kirschholzkommode und lief, nachdem sie die hohen Schuhe abgestreift und den engen Rock, wegen der erforderlichen Schrittlänge, ein wenig hochgezogen hatte, die zwei Treppen nach unten. Vor der Haustür umgab sie laue Sommerluft. Auch zu dieser Abendstunde war es noch nicht vollständig dunkel, und der schwarze, verspielt anmutende, schmiedeeiserne Zaun, mit seinen lanzettähnlichen Pfeilern, hob sich im Mondschein wie ein Scherenschnitt vom dahinterliegenden hellgrau gepflasterten Gehsteig ab.

Ines blieb für einen Augenblick stehen und genoss die Atmosphäre. Ihr Blick wanderte nun in den mit üppig duftendem Lavendel bepflanzten kleinen Vorgarten, in dessen Mitte der alte Rosenstrauch stand. Dank ihrer hingebungsvollen Pflege trug er wieder Blüte an Blüte. Entschlossen trat sie mit nackten Füßen auf die weißen, kleinen Kiesel, die das Beet umgaben, und schnitt fünf prächtige Rosen ab. Zurück in der Wohnung zupfte sie nach einem kurzen Moment zögernden Bedauerns entschlossen die Blütenblätter ab. Intensiver Rosenduft stieg auf, und fast schien es Ines, als ob die Blumen, jetzt, wo sie durch ihre Hand ihr Leben ließen, ihr größtes Aroma verströmten. Bald lagen die Blätter malerisch verteilt auf dem Tisch und auf dem Boden in einem angedeuteten Kreis darum herum. Ob das nicht zu viel des Guten war? Ines zögerte, umschloss die Blüten, die sie noch in der Rechten hielt und drückte sie für einen kurzen Moment in ihrer Faust zusammen. Dann hob sie entschlossen den Kopf und nickte. Heute war der Abend der Abende, und er sollte es gleich sehen, wenn er zur Tür hereinkam. Mit einer ausholenden Geste verstreute sie die restlichen Blätter großzügig im Raum.

Der Mann jedoch, um dessentwillen all das geschah, ahnte unterdessen nicht das Geringste …

Felix Meister und Ines Wagner waren Nachbarn. Als Felix vor einem Jahr die großzügige Gründerzeitwohnung gleich neben Ines in der Goethestraße, im schönsten Viertel der Stadt, bezog, fühlte sie sich sofort von ihm angezogen. Außerdem passte er, wie sie fand, sehr gut in diese Gegend, die aufgrund ihrer Schönheit für kreative Menschen geradezu wie geschaffen war. Dicht an dicht säumten hier die schmucken Jugendstilhäuser die schmalen Straßen.

Sie selbst genoss es, das Viertel mit seinen variantenreichen Fassaden immer wieder zu durchstreifen. Dezentes Weiß, zarte Pastelltöne und gelbe oder rote Klinker gaben den Ton an, wobei die Fronten oftmals durch weiße, zurückhaltend-stilvoll gehaltene Fensterumrahmungen und dazu passende Ornamentstreifen unterbrochen wurden. Hier und da war ein Haus in charmanter Morbidität malerisch von Efeu oder wildem Wein berankt, deren Üppigkeit kaum zu bändigen war.

Wie verschieden die Fassaden aussehen können, auch wenn zwei Nachbarhäuser spiegelverkehrt gebaut wurden. Ines schaute bewundernd daran empor. Überhaupt wirkte es darüber hinaus so, als hätten die Architekten bei der Gestaltung der Ornamente damals geradezu mit den verschiedensten Stilarten gespielt. Hier gab es klassizistische Säulen und Giebel, dort gotische Spitzbögen und Frauenköpfe des Jugendstils. Figuren, sogenannte Atlanten, schienen Balkone und Erker zu tragen. Manchmal, wenn sie im Dämmerlicht daran vorbeiging, erschienen die Figuren ihr im Halbschatten fast unheimlich, weil die Konturen dann stärker hervortraten und andere Stimmungen hervorzaubern konnten, aber Ines wusste auch, dass sie als fantasiebegabter Mensch schon immer anfällig für solche Eindrücke gewesen war. Ihre besondere Vorliebe galt allerdings den Häusern mit den Dachtürmchen. Diese Belvedere waren früher eher typisch für den Adel gewesen, hatten aber rund um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert romantischen Einzug in die bürgerliche Bauweise gehalten.

Als Ines vor fünf Jahren die Wohnung in der Goethestraße bezog, machte sie es sich zur Aufgabe, die drei großzügig geschnittenen Räume und die Diele nach und nach liebevoll zu renovieren. Gleich im ersten Augenblick hatte sie sich in die zurückhaltend geschmückte Fassade des weißen, vierstöckigen Hauses mit den Ecktürmchen verliebt und bei der anschließenden Besichtigung der Räume vollkommen ihr Herz verloren. Der Stuck, der in einem Oval die Mitte der hohen Wohnzimmerdecke in Form von romantischen Blumenranken schmückte, war in zarten Farben ansprechend und nicht allzu üppig gehalten, was Ines gefiel. Dazu glänzte die schöne, restaurierte Doppelflügeltür, die Wohn- und Esszimmer miteinander verband, in strahlendem Weiß und bot einen wunderbaren Kontrast zu den alten, frisch abgezogenen Pinienholzdielen. Alles war stilvoll restauriert worden. Die hohen Fenster mit den Rundbögen tauchten die Räume selbst im Winter in eine angenehme Helligkeit. Die große Küche mit den quadratischen, großen schwarzen und weißen Fliesen, die den Boden in Form eines Schachbrettes schmückten, erkor Ines gleich – neben dem Arbeitszimmer, das absolut ruhig wie eine Oase zur Gartenseite hin gelegen war – zu ihrem Lieblingsraum, in dem sie in ihrer Freizeit der Kochleidenschaft frönen konnte.

Sie musste diese Wohnung haben, die Heim und Inspirationsstätte zugleich zu sein schien, und genauso war es auch.

Nach seinem Einzug hatte Felix seine Nachbarin auf ein Glas Wein zu sich eingeladen. Ines gefiel auch hier, was sie sah. Der Einrichtungsstil des Sängers entsprach fast ihrem eigenen. Auch sie fand es reizvoll, alte, restaurierte Möbel, denen man ihre Geschichte ansah, mit modernen, schlichten Einzelstücken und zeitgenössischer Kunst zu kombinieren, weil sie fand, dass die hohen Räume mit den schönen Holzböden auf diese Weise besonders gut zur Geltung kamen. Ästhetik spielte eine große Rolle in Ines’ Leben, und Felix traf auch hier genau ihren Geschmack. Die beiden stellten im Laufe dieses ersten Abends erfreut fest, dass sie sich bestens unterhalten konnten. Als sie sich nach Stunden beseelt voneinander verabschiedeten, taten sie das mit einem uneingeschränkten Gefühl gegenseitiger Sympathie.

Während der nächsten Tage hatte Ines sich dabei ertappt, dass sie darauf lauschte, wann Felix nach Hause kam. Sie schalt sich neugierig, was ja auch stimmte, gestand sich aber gleichzeitig ein, dass sie sich deshalb für den Lebensrhythmus ihres neuen Nachbarn interessierte, um nur allzu gern Ähnlichkeiten mit dem ihren festzustellen. Beide waren Nachtmenschen und schliefen in den Vormittag hinein, das hatte sie schon herausgefunden. Als Theaterkünstler blieb Felix auch gar nichts anderes übrig, Ines als freiberuflich arbeitender Übersetzerin natürlich schon, aber sie liebte die Abendstunden, wenn die Stadt zur Ruhe kam, und fast schien es ihr, als ob Wörter und Bedeutungen dann leichter zu finden waren und sich besonders gern zu klangvollen Sätzen zusammenfügen ließen. Die Arbeit war ihr Leben und Ines’ Name hatte in Verlegerkreisen längst einen guten Ruf.

Im Moment übersetzte sie einen kürzlich erschienenen Roman aus dem Englischen; eine tiefgründige Kindheitsgeschichte, in die sie selbst eintauchte und geradezu in ihr lebte. So erging es ihr mit fast allen Büchern, die sie bearbeitete, und inzwischen konnte sie unter vielen interessanten Stoffen wählen. Oft, wenn sie tief in der Nacht ihre Arbeit beendete, fühlte sie sich vollkommen glücklich, ja geradezu privilegiert, weil sie einen Beruf ausübte, der ihrem innersten Wesen entsprach, obwohl sie trotz allem keine Reichtümer anhäufte. Daher gab es auch eine Kehrseite, die ganz pragmatisch finanzieller Natur war. Ines brauchte für ihre Kreativität eine angemessene Atmosphäre, die natürlich etwas kostete. Sie zuckte bei diesem Gedanken immer automatisch mit den Schultern, als ob es sich dabei um ein unabänderliches Schicksal handelte. Deshalb arbeitete sie so viel wie Kopf und Herz hergaben.

Als Felix sie eines Mittags im Hausflur zerknirscht fragte, ob sie nicht eine nette Haushälterin wisse, die ihm zur Hand gehen könne – er selbst sei nicht der geborene Hausmann und sozusagen schon damit überfordert, Kaffeewasser aufzusetzen – war ihr gleich klar, dass sie diese Person selbst sein wollte.

Seit jenem Tag führte Ines auch Felix den Haushalt und kochte für sie beide. Was bedeutete, dass sie oft noch, spät nach der Vorstellung, zusammen aßen, was sie einander noch näher brachte. Manchmal stand er auch nach der Vorstellung, durch die absolute Konzentration auf der Bühne ganz aufgekratzt, mit einer Weinflasche und zwei Gläsern in der Hand vor ihrer Tür, weil an Schlaf sowieso noch nicht zu denken war.

Beide liebten diese Nächte, in denen sie redeten und redeten, bis sie sich in den frühen Morgenstunden, wenn es meist schon dämmerte, voneinander trennten und jeder in sein Bett fiel.

Das Sie hatten sie schon nach ihrem ersten Treffen aufgegeben, weil die vertraute Anrede die natürlichere zu sein schien, und außerdem war das Du in ihren Kollegenkreisen allemal üblich, sodass es eher umgekehrt eine Umstellung bedeutet hätte.

»Hast du eigentlich in der ersten Nacht in deiner Wohnung etwas geträumt?«, hatte Ines Felix lächelnd gefragt, als sie das erste Mal abends bei einem Glas Wein zusammensaßen. »Man sagt doch immer, dass das in Erfüllung geht.«

Felix hatte einen Moment überlegt und dann zögerlich genickt. »Na ja …, was heißt geträumt …? Ich glaube, es war durchweg wirres Zeug. Warte mal …«, er legte den rechten Zeigefinger senkrecht auf seine Lippen und schaute in eine imaginäre Ferne, »ja, da war irgendwas, ich glaube, es hatte mit einem Auftritt zu tun …«

»Kannst du dich an das Gefühl erinnern, das du dabei hattest?«, fragte Ines nach.

»Hm, nö, nicht richtig, auf jeden Fall fühlte es sich irgendwie chaotisch an, aber nicht wirklich negativ.«

»Na ja, dann wollen wir mal das Beste hoffen«, Ines lachte, »aus einem Chaos kann ja auch etwas wirklich Positives entstehen.«

»Hast du das schon mal erlebt?« Felix’ Miene verdüsterte sich für einen Moment, bevor sich seine Züge wieder entspannten.

»Ja, durchaus. Ich will nicht sagen, dass das bei mir immer der Fall ist, aber die besten Veränderungen meines Lebens sind alle aus einem unübersehbaren Chaos entstanden.«

»Was denn, zum Beispiel?« Felix war neugierig geworden.

»Okay, nehmen wir die Sache mit meinem Beruf. Weißt du, ich habe lange fest für einen Verlag gearbeitet. Morgens um neun saß ich im Büro an meinem Schreibtisch. Ich liebe meine Arbeit, aber morgens fällt mir wenig ein. Ist eben nicht meine Zeit. Also quälte ich mich durch den Tag, und das ging auf Kosten der Qualität. Um es kurz zu machen: Mir wurde die Kündigung nahegelegt, und ich wusste von einem Tag zum andern nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Wochenlang konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen, und dann hatte ich die Erleuchtung. Wenn ich den Beruf nicht wechseln und irgendwo als ungelernte Kraft arbeiten wollte, musste ich mich selbstständig machen. Die Kontakte zu den Verlagen hatte ich, also begann ich mich als »Freie« zu bewerben, und siehe da – nach anfänglicher Stagnation begann es peu à peu zu laufen. Jetzt kann ich meinen Rhythmus leben und in meinem Traumberuf arbeiten.« Ines seufzte erleichtert in der Erinnerung und streckte die Hand nach ihrem Glas aus. Bedächtig nahm sie einen großen Schluck Rotwein und ließ ihn genüsslich im Mund hin und her kreisen.

Felix lächelte. Es war schön, Ines zu beobachten, wenn sie so engagiert sprach und ihre Worte mit ausdrucksvollen Gesten unterstrich. Außerdem schien sie ein Genussmensch zu sein, was ihm sehr gefiel …

»Also gehe ich mal davon aus, dass mein geträumtes Chaos sich klärt und in der Wirklichkeit etwas Positives daraus erwächst.« Felix hob ebenfalls sein Glas und prostete Ines verschmitzt lachend zu.

 

3

Eine Zeit lang fand Ines es ganz in Ordnung, dass sie immer nur gemeinsam aßen, tranken und redeten, schließlich lernten sie sich so nach und nach besser kennen. Aber dann begann sie darauf zu hoffen, dass Felix eines Abends einfach beschloss, bei ihr zu bleiben.

Doch sie hoffte vergebens. Ines haderte mit sich, musterte sich kritisch im Spiegel und versuchte zu ergründen, was Felix wohl davon abhalten könnte, den ersten Schritt zu tun. Lag es an ihrem Äußeren? Nein, sie schüttelte verneinend den Kopf, eigentlich vermittelte er ihr den Eindruck, als fände er sie wirklich attraktiv. War es ihr Alter? Vielleicht, Männer in seinem Alter bevorzugten oft jüngere Frauen, aber nie brachte er eine andere Frau mit oder blieb die ganze Nacht weg. Den Gedanken, dass Felix grundsätzlich nichts mit Frauen anzufangen wusste, verwarf sie gleich, nachdem er ihr eingefallen war, wieder. Nein, seine Blicke sprachen von etwas anderem.

Manchmal, wenn sie zusammensaßen, schien er innerlich weit weg zu sein und seine Augen verdunkelten sich. An solchen Abenden sprachen sie nicht sehr viel und Ines respektierte seine wortkargen Phasen, weil sie genauso zu Felix gehörten, wie sein Mitteilungsdrang. Eigenartig war nur, dass er jedes Mal, wenn sie sich verabschiedeten, davon überzeugt zu sein schien, dass sie die ganze Zeit über miteinander geredet hätten. Ines nahm sich immer wieder vor, ihn bei der nächsten Gelegenheit in die Stille hinein nach dem Grund zu fragen, unterließ es aber jedes Mal wieder.

Die Zeit verging und alles blieb wie gehabt. Felix und Ines verbrachten viel Zeit miteinander und standen sich nahe, jedenfalls empfand Ines das so, aber bis auf eine flüchtige Umarmung zum Abschied, die sie ihm regelrecht aufdrängte, passierte nichts. Ines beschloss daher, Felix beim nächsten Mal die Pistole auf die Brust zu setzen. Irgendetwas musste geschehen, um die Situation zwischen ihnen zu klären, denn so ertrug sie es nicht länger. Der Premierenabend erschien ihr für ihr Vorhaben perfekt, und da sie wusste, dass Felix sich bald von der anschließenden Feier zurückziehen würde, weil er feucht-fröhliche Feste hasste, konnte sie darauf bauen, dass er nach einem »Anstandssekt« gehen würde.

Enttäuscht war sie schon gewesen, als er es, sogar ziemlich rigoros, abgelehnt hatte, dass sie selbst zur Premiere kam. Den Grund, er könne sich dann vielleicht nicht richtig auf seine Rolle konzentrieren, wenn er sie im Zuschauerraum wisse, konnte sie weder verstehen noch hinnehmen. So wie er sich aufführte, beschlich sie fast das Gefühl, als brächte ihre Anwesenheit Unglück, was sie regelrecht traurig machte. Aber schließlich respektierte sie seinen Wunsch.

Und nun saß sie in ihrem neuen, schwarzen Kleid auf dem gemütlichen, roten Sofa mit den vielen Kissen und wartete. Sein überraschtes Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf, wenn er ihre Inszenierung begriff …

Ines spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann, und goss sich mit einer fahrigen Geste noch einen Schluck Wein ein. Halt, sie stellte die Flasche entschlossen zurück, zu viel durfte sie auch nicht trinken, schließlich hatte sie noch nichts gegessen, und Felix sollte nicht den Eindruck gewinnen, sie habe sich Mut angetrunken.

Wie lange sie tief in Gedanken versunken einfach so dagesessen hatte, wusste sie später nicht mehr genau, vielleicht war sie sogar kurz eingenickt. Der beißende Bratengeruch war es schließlich, der Ines wieder auf den Plan rief. Sie stürzte in die Küche, wo ihr die Nebelschwaden bereits die Sicht nahmen. Zum Fenster zu laufen, es aufzureißen und tief Luft zu holen, waren eins.

Oh Gott – alles war verbrannt! Spontan stiegen Ines Tränen in die Augen, die ganze Mühe war umsonst; sogar der Salat hatte es aufgegeben knackig auszusehen und gab sich stattdessen als sprichwörtliches Häuflein Elend aus. Der nächste Schlag traf sie im Esszimmer, als sie sah, dass die Rosenblätter bereits vertrockneten, und sich rote Wachspfützen um den Fuß der silbernen Kerzenleuchter herum wie Krakenarme auf dem weißen Tischtuch ausbreiteten.

Im Grunde konnte sie von Glück sagen, dass noch nichts in Flammen stand.

Ines’ pragmatische Ader verhinderte, dass sie sich jetzt völlig in Verzweiflungstränen auflöste. Stattdessen begann sie ganz rigoros damit, das Chaos zu beseitigen. Wut stieg in ihr auf, eine Wut, die sich unmittelbar gegen Felix richtete, der es offensichtlich vorgezogen hatte, sich nicht zurückzumelden, oder doch auf der Premierenfeier zu bleiben. Dabei wusste er doch, dass Ines für ihn kochte und sich auf den Abend mit ihm freute. Unverzeihlich! Mit einer ausholenden Geste fegte sie die Vase mit den roten Rosen vom Tisch, die klirrend auf dem Boden zersprang. Der Anblick der Scherben, des auslaufenden Wassers und der jetzt verstreut herumliegenden Blumen entsetzte und beschwichtigte sie zugleich. Sie bückte sich zögernd, um das Malheur zu beseitigen. Ob Felix ihre Absicht vielleicht erraten und sich deshalb erst gar nicht gemeldet hatte?

Nein, das passte nicht zu ihm. Er hätte sie auf jeden Fall angerufen, wenn er sich verspätete.

Einen Moment lang überlegte sie angespannt, was sie tun sollte, dann wählte sie seine Handynummer. Niemand antwortete und sie zwang sich dazu, ein paar knappe, neutral klingende Sätze auf die Mailbox zu sprechen. Weder wollte sie den Eindruck erwecken, er müsse sich vor ihr rechtfertigen, noch sollte er den wahren Anlass für ihre Nachfrage erahnen.

Nachdem sie einige Zeit abgewartet hatte, in der kein Rückruf erfolgte, entschloss Ines sich spontan, in Felix’ Wohnung nachzusehen. Vielleicht war er ja doch da. Als sich auf ihr Klingeln nichts regte, benutzte sie den Schlüssel, um sich gleich nach dem Öffnen der Tür lautstark bemerkbar zu machen.

»Felix, bist du da? Geht es dir gut?«

Ines rief dreimal, aber er antwortete nicht. Zögernden Schrittes betrat sie sein Schlafzimmer – das Bett war unbenutzt – im Wohnzimmer war er nicht, auch nicht in der Küche, weder im Arbeitszimmer noch im Bad. Die Wohnung war leer.

Ines ließ sich ratlos auf einen Stuhl sinken. Also musste er doch die Nacht im sprichwörtlichen Sinne zum Tage gemacht haben, ohne ihr ein Wort zu gönnen. Draußen dämmerte es bereits.

Enttäuscht verließ sie die Wohnung und fand sich eine Minute später vor ihrem großen Spiegel wieder, der ihr überdeutlich die Müdigkeit in den Augen und das verwischte Make-up zeigte. Mit einer resignierten Geste zog sie die Nadeln aus ihrem Haar, wusch sich die Schminke aus dem Gesicht, öffnete den Reißverschluss ihres Kleides und ließ es achtlos auf den Boden gleiten. Dann ging sie ins Schlafzimmer, kroch ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Alles war schiefgelaufen. Ines drehte sich auf die Seite, zog die Beine dicht an den Körper, umschlang sie mit ihren Armen und begann schließlich zu weinen.

Nachdem sie endlich eingeschlafen war, träumte sie wirr und albtraumgleich von Felix, erblickte lodernde Flammen, hinter denen er unerreichbar schien. Sie schrie und versuchte sich bemerkbar zu machen, vergebens, die Feuersbrunst übertönte ihr Rufen. Dann hörte sie ihn lachen, verzweifelt und glücklich zugleich. Er lachte, lachte und lachte, sodass Ines sich die Ohren zuhalten musste, weil sie es nicht ertragen konnte.

Als sie erwachte, setzte sie sich schweißgebadet mit einem Ruck im Bett auf. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Noch ganz unter dem Eindruck des Traumes stehend, schwang sie gerade die Beine aus dem Bett, um ins Bad zu gehen und sich das Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen, als es Sturm läutete.

Ines blieb erschrocken auf der Bettkante sitzen. Felix, schoss es ihr dann durch den Kopf, das konnte nur Felix sein. Endlich! Mit einem Satz sprang sie auf, warf sich eilig eine Strickjacke über, rannte zur Tür und öffnete.

»Felix, Gott sei Dank, ich habe mir schon …« Während die Worte auf ihren Lippen erstarben, blickte sie verwirrt in zwei blaue Augen, die sie aufmerksam musterten. Ines stand einen Moment lang wie angewurzelt auf der Schwelle und zog sich abwehrend die Jacke vor der Brust zusammen.

»Frau Wagner?« Die Stimme ihres Gegenübers klang angenehmer, als sie gedacht hatte. »Hauptkommissarin Seibold.« Die entschlossen wirkende Mittvierzigerin hielt Ines ihren Polizeiausweis unter die Nase. »Darf ich reinkommen?«

»Natürlich.« Verdattert trat Ines einen Schritt zurück und machte eine einladende Handbewegung.

 

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