Leseprobe – Blindes Vertrauen


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Kapitel 1

Hanna Winter stand vor dem Spiegel und betrachtete kritisch ihre schulterlangen kastanienroten Locken, die an diesem Morgen kaum zu bändigen waren.

›Egal, was Michael dazu sagt, ich lasse sie mir wieder ein Stück abschneiden‹, nahm sie sich vor, während sie die Bürste mühsam durch ihre dichten Haare zog.

Die Hauptkommissarin warf einen raschen Blick auf die Badezimmeruhr. So spät schon? Jetzt musste sie sich beeilen!

»Julian, bist du fertig? Wir sind spät dran«, rief sie ihrem Sohn zu, der ihre Frage aus seinem Zimmer kommend, mit einem ungeduldigen Murren beantwortete. In der nächsten Sekunde stand er auch schon bei seiner Mutter im Badezimmer.

»Ich muss mir die Haare noch stylen, so viel Zeit muss sein.« Augenblicklich begann er damit, seinen dunklen, kurzen Schopf mit Haargel zu traktieren, so dass einige Strähnen von seinem Kopf abstanden. Hanna verdrehte die Augen und sah zu ihrem Sohn empor, der die gewünschten Effekte mit geschickten Fingern zustande brachte.

»So, fertig, wir können los, Mama. Aber jetzt sag nicht, du suchst deinen Schlüssel. Dann kommen wir nämlich wirklich zu spät.« Er stemmte die Hände in die Seiten und sah Hanna kopfschüttelnd dabei zu, wie sie mit angespanntem Gesichtsausdruck die Ablage auf dem Garderobenschrank durchwühlte.

»Hier ist er! Mein Gott, so eine Hektik am frühen Morgen. Dann komm jetzt und nimm bitte deine Jacke mit, es soll heute regnen.«

»Ja, Mama«, Julian zog genervt die Augenbrauen in die Höhe. »Aber ich hab dir schon mal gesagt, dass ich alt genug bin, um selber zu entscheiden, ob ich meine Jacke mitnehme oder nicht. Immerhin werde ich bald siebzehn.«

»Entschuldige«, Hanna zog die Wohnungstür hinter sich zu, nachdem Julian sich an ihr vorbeigeschoben hatte, »ich weiß, ich weiß. Aber das steckt immer noch so in mir. Das Muttersein kann ich eben nicht einfach so abstellen.«

Ihr Sohn rang sich ein Lächeln ab. »Schon gut, Mama.«

Eine Viertelstunde später setzte die Hauptkommissarin ihren Sohn vor dem Kölner Gutenberg-Gymnasium ab. Und sie war ziemlich überrascht, als er ihr einen Abschiedskuss auf die Wange drückte, bevor er ausstieg.

»Womit habe ich das plötzlich in aller Öffentlichkeit verdient, mein Sohn?«, fragte sie lachend.

»Das ist jetzt wieder in«, grinste er, während er die Hand noch einmal lässig zum Gruß hob. »Mach es gut, Mamma mia. Bis heute Abend.«

*

Hanna lächelte immer noch, als sie ihren Kleinwagen einige Minuten später vor dem Kölner Polizeipräsidium parkte.

»Was ist los, schöne Kollegin?«, rief ihr ihr Kollege Bernd Keller, der zur gleichen Zeit einige Parkbuchten weiter aus seinem Wagen stieg, über einige Autos hinweg zu. »Du siehst aus, als wäre dir heute früh schon ein Engel erschienen.«

»Nur mein Kind«, Hannas Lächeln vertiefte sich. »Julian hat mir vor all seinen Freunden einen Abschiedskuss gegeben.«

»Wow! Das hört sich ja fast so an, als ob die elende Pubertät bald der Vergangenheit angehört.« Bernd ging auf Hanna zu und zupfte zur Begrüßung lachend an ihrer vorwitzigen Haarsträhne, die sie sich daraufhin mit einer typischen Geste hinter das Ohr strich.

»Genau. Das macht doch irgendwie Hoffnung, findest du nicht?«, Hanna hakte sich freundschaftlich bei Bernd ein und so legten die beiden den Weg zu ihrem gemeinsamen Büro zurück, wobei sie die Kollegen, die ihren Weg kreuzten, gut gelaunt begrüßten.

*

Hanna und Bernd eilte betriebsintern hinter vorgehaltener Hand der Ruf als »Traumpaar« der Mordkommission voraus, weil sie sich von Anfang an sehr gut verstanden hatten und sich in der Arbeit harmonisch ergänzten.

Es hatte allerdings auch eine Zeit gegeben, in der Bernd bis über beide Ohren in Hanna verliebt gewesen war. Das lag jetzt zwei Jahre zurück. Inzwischen hatte er sich zwar wieder gefangen, aber in seinem Herzen belegte Hanna immer noch einen besonderen Platz.

Was Hanna betraf, so hatte sie die Zuwendung ihres Kollegen zwar bemerkt, sie aber lächelnd als vorübergehende Schwärmerei abgetan, nicht ahnend, dass bei Bernd viel mehr Gefühl dahintersteckte, als sie sich vorstellen mochte.

Seit fast einem Jahr gab es darüber hinaus einen neuen Mann in Hannas Leben, den Rechtsanwalt Michael Sander. Die beiden hatten sich bei ihrem gemeinsamen Rückflug aus dem Urlaub von Sardinien nach Köln kennen gelernt, sich im Flughafengebäude aus den Augen verloren und später bei einer Autorenlesung zufällig wiedergetroffen. Zufällig? Wenn sie an die Intensität ihrer Beziehung dachte, war Hanna trotz ihres nüchternen Berufes manchmal dazu geneigt, ihre Begegnung mit Michael als Schicksal anzusehen. Und obwohl Hanna – besonders in Liebesdingen, das hatte sie nicht nur die Erfahrung als allein erziehende Mutter gelehrt – eine vorsichtige Frau war, brachte sie Michael ein solch tiefes Gefühl entgegen, wie sie es selbst nicht mehr für möglich gehalten hätte.

Als Bernd jetzt lachend die Tür zum gemeinsamen Büro öffnete, ihr mit einer gespielten, tiefen Verbeugung den Vortritt ließ, und Hanna gewollt gemessenen Schrittes den Raum betrat, erstarrte sie mitten in der Bewegung, als sie ihren Vorgesetzten, Kriminaldirektor Doktor Wunderlich mit verschlossener Miene hinter ihrem Schreibtisch sitzen sah. Auch Bernd erstarb augenblicklich das Lächeln auf dem Gesicht, während die kalten Augen des Chefs maßregelnd von einem zum anderen blickten.

»Wie schön, dass Sie beide schon da sind«, schnarrte er, »wenn ich mich nicht irre, hat Ihre Dienstzeit bereits vor fünf Minuten begonnen.« Dr. Wunderlich warf einen arroganten Blick auf seine Armbanduhr und Hanna kam sich augenblicklich wie ein gescholtenes Schulmädchen vor.

›Ich kann mir vorstellen, dass seine Verhöre früher gefürchtet waren‹, schoss es ihr durch den Kopf, während ein Schauer der Abwehr ihren Körper durchlief.

»Also Herrschaften, es liegt die Anzeige eines Mannes vor, dessen Frau sich in der Schönheitsklinik Aphrodite einem Lifting unterzogen hat. Die Frau ist heute Nacht nach einem angeblich ganz normalen Eingriff verstorben. Der Ehemann behauptet, dass ein Pfuscher bei seiner Frau am Werk gewesen sei, und dass dies nicht der erste Todesfall in der Klinik sei. Gehen Sie der Sache nach, aber vorsichtig, wenn ich bitten darf. Die Klinik hat bis jetzt einen guten Ruf.«

Hanna zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. Dr. Wunderlich schien sich in dem Bereich auszukennen. Vielleicht war es aber auch wieder einmal so, dass er mit dem Klinikleiter oder einem der verantwortlichen Ärzte im selben Golfclub war. Einen ähnlichen Fall hatte es nämlich schon einmal gegeben.

Dr. Wunderlich tippte auf das Blatt Papier, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag.

»Hier finden Sie alles Wichtige. Ich erwarte Ihren Bericht.«

Mit einigen langen Schritten erreichte der große, hagere Mittfünfziger die Tür, die immer noch einen Spalt breit geöffnet war, stieß sie auf und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

»Oh Mann, was kann der einem die Laune verderben.« Bernd fuhr sich in einer angespannten Geste durch sein bereits schütter werdendes dunkelblondes Haar und ließ sich mit einem resignierten Seufzer auf seinen Stuhl fallen. »Warum ist der Kerl bloß immer so unhöflich? Er hat zu Hause bestimmt einen alten Drachen sitzen, bei dem er kuscht, und hier lässt er dafür den großen Zampano raushängen.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, stimmte Hanna ihrem Kollegen zu. »Ob Wunderlich schon immer so war? Oder gibt es dafür vielleicht einen Grund?«

»Du meinst so eine Art dunkles Geheimnis, oder so was?«, fragte Bernd interessiert.

»Ja, vielleicht noch nicht einmal ein dunkles Geheimnis, vielleicht gibt es auch irgendein Ereignis in seinem Leben, das ihn so verändert hat«, gab Hanna zu bedenken.

»Typisch Frau«, Bernd schüttelte den Kopf. »Ihr sucht doch immer nach einem tieferen Sinn, warum jemand oder etwas so ist. Vielleicht war Wunderlich aber auch schon als Kind so ein Ar…«

»Bernd, jetzt mäßige dich«, fiel Hanna ihm ins Wort. »Jetzt komm, wir fahren in diese Klinik. Das wird dich auf andere Gedanken bringen.«

Ohne es selbst zu bemerken, streifte ihr Blick den stärker gewordenen Bauchansatz ihres Kollegen, der sich über dem Gürtel zu wölben begann. Bernd, dem dies nicht verborgen blieb, streckte sich unwillkürlich und zog den Bauch ein. Hanna lachte.

»Wer weiß, vielleicht wäre das ja auch eine Adresse für dich, mein Guter. Was meinst du? Deine Sünden bei Imbiss-Karl könntest du dann glatt vergessen.«

Bernd, der es gar nicht mochte, wenn Hanna ihn mit seiner Leidenschaft für Curry-Wurst mit Pommes frites konfrontierte, verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

»Du meinst Fettabsaugen, oder so, stimmt’s? Ja, okay, aber nur, wenn du dich dann liften lässt.« Der Hieb führte wie geplant dazu, dass die sechs Jahre ältere Kollegin sich automatisch prüfend mit der Hand ins Gesicht fuhr, die sie, als sie sich ihrer Reaktion bewusst wurde, sofort wieder senkte.

»Ist schon gut … Frieden?« Hannas Stimme klang beschwörend. »Na ja, Herr Kollege, es gibt tatsächlich Frauen, die sich mit siebenunddreißig Jahren schon liften lassen. Aber zu denen gehöre ich bestimmt nicht.« Sie reckte den Hals und hob ihr fein geschnittenes Gesicht zu ihm empor, als ob sie auf eine einlenkende Bemerkung von ihm wartete.

Bernd betrachtete sie einen Moment lang fast zärtlich. Nein, Hanna würde niemals ein Lifting nötig haben, gleichgültig wie alt sie wäre. Ein Skalpell würde unwiederbringlich die Lebendigkeit aus ihrem Gesicht schneiden.

»Frieden«, stimmte Bernd zu und hob in einer unterstreichenden Geste seine Hände. »Kommen Sie, Frau Hauptkommissarin, nachdem wir jetzt genau wissen, was wir nicht wollen, schauen wir uns die Klinik mal an.«

Zwanzig Minuten später durchschritten sie das gläserne Tor des würfelförmigen, weißen Prachtbaus, in der die Aphrodite-Schönheitsklinik untergebracht war. Was die Ausstattung betraf, so war hier nichts dem Zufall überlassen worden. Die Kombination von Glas, Metall und Designer-Möbeln wirkte kühl und edel zugleich.

›Ein Einrichtungshaus der Zukunft‹, schoss es Hanna durch den Kopf. ›Außerdem fühlt man sich allein durch dieses Ambiente augenblicklich unvollkommen.‹ Sie blickte prüfend an ihrer Jeans hinunter, als ob sie plötzlich Flecken auf ihr vermutete.

Bernd lachte angespannt. Er ertappte sich gerade dabei, dass er automatisch den Bauch einzog und darüber hinaus versuchte, seine schwarze Lederjacke so geschickt darüber zu drapieren, dass die Speckrolle verborgen blieb. Als er jedoch spürte, dass auch Hanna sich unwohl fühlte und nervös an sich heruntersah, wurde auch ihm klar, dass die Umgebung genau diese Wirkung erzielen sollte.

»Es ist schon irre, wie die es schaffen, dass man sich hier augenblicklich komplett überholungsbedürftig fühlt, was?«, wandte er sich unsicher lächelnd an seine Kollegin.

»Wie wahr. Das kannst du laut sagen. Es ist ein bisschen so, wie wenn ich in eine Parfümerie gehe und eine komplett gestylte und perfekt aussehende Verkäuferin auf mich zukommt. Dann fühle ich mich auch, egal, ob ich mich bis vor einer Minute noch selbstbewusst und hübsch gefunden habe, augenblicklich hässlich, weil meine Nase bestimmt wieder glänzt, meine Haare plötzlich nicht mehr sitzen und meine Bluse Falten wirft.« Hanna seufzte. »Nur hier ist es noch viel, viel schlimmer.« Sie sah sich um. »Schau doch mal. Die Schwestern sehen alle aus wie aus dem Modejournal geschnitten. Aber dass es eine solch aufreizende Berufskleidung gibt, wusste ich bis jetzt noch gar nicht.«

Die kurzen, in zarten Pastelltönen gehaltenen, figurbetonten Kleider – die Bezeichnung »Kittel« wäre eine sträfliche Übertreibung gewesen – reichten lediglich bis zum halben Oberschenkel und waren darüber hinaus so tief ausgeschnitten, dass man den Brustansatz der ausnahmslos schönen Trägerinnen nicht nur ahnte.

»Kann man wohl sagen.« Bernd war anzusehen, dass er zwischen Augenschmaus und Ablehnung hin- und hergerissen wurde. Hanna feixte.

»Für einen Mann ist das hier bestimmt kaum auszuhalten … all die schönen Frauen …«

»Ja, besonders die da vorn«, Bernd deutete auf ein Grüppchen von Patientinnen, die in Bademänteln und mit verbundenen Gesichtern wie Fremdkörper in dieser Umgebung wirkten.

»Aber die sind es bald wieder. Mein Gott«, Hanna tippte sich an die Stirn, »wir vergessen über alledem tatsächlich, warum wir wirklich hier sind. Komm Kollege, wir schauen mal, dass wir den Chefarzt zu sprechen bekommen.«

Hanna streckte sich und ging entschlossenen Schrittes auf die großzügig in den Raum drapierte, halbrunde, aus mattem Glas bestehende Rezeption zu. Augenblicklich wandten sich ihr zwei unmerklich taxierende Augen zu, die Hanna, perfekt geschminkt, aus einem puppenhaft wirkenden Gesicht entgegenblickten.

»Guten Morgen. Sie hatten einen Termin?«, fragte die Dame hinter der Annahme.

»Nein, eigentlich nicht«, setzte Hanna an, worauf die andere ihr sofort ins Wort fiel.

»Dann tut es mir leid, gnädige Frau, Sie müssen sich natürlich erst um einen Termin bemühen, ehe Sie hier vorsprechen. Wir sind eine Privatklinik und kein öffentliches Krankenhaus.« Die Stimme der Rezeptionskraft klang abweisend arrogant, während sie Hanna nun ganz offen von Kopf bis Fuß musterte. Bernd, der einen Schritt hinter Hanna stehen geblieben war, musste unwillkürlich grinsen.

»Das ist mir alles wohl bekannt«, Hannas Ton hatte an Schärfe gewonnen. »Ich denke aber, dass wir auch ohne einen Termin mit Ihrem Chefarzt sprechen werden.« Hanna zog ihren Polizeiausweis aus der Tasche und legte ihn vor sich auf die Ablage. »Ich bin Hauptkommissarin Winter und das ist mein Kollege, Kommissar Keller«, sie wandte sich Bernd zu, der jetzt neben sie getreten war.

Kein Wimpernschlag verriet das Erstaunen, das die Dame hinter der Rezeption empfand. Lediglich die etwas zögerliche Antwort ließ darauf schließen, dass sich hier etwas abspielte, das dem normalen Klinikalltag entgegenstand.

»Das ist natürlich etwas anderes. Einen Moment bitte, ich werde bei Herrn Professor Weinert nachfragen, ob er Sie jetzt empfangen kann.«

Hoch erhobenen Hauptes drehte sich die Dame um und machte sich mit wiegenden Hüften auf den Weg zu den Räumlichkeiten des Professors, die auf der linken Seite hinter dem Rezeptionsbereich lagen.

Bernd ließ die junge Frau nicht aus den Augen und gestand sich widerwillig ein, dass sie eine Faszination auf ihn ausübte, obwohl ihm alles an ihr künstlich erschien. Hanna, die ihren Kollegen aus den Augenwinkeln beobachtete, musste sich zusammennehmen, um nicht hämisch zu kichern, denn Bernd lieferte gerade das Paradebeispiel männlichen Verhaltens bei der Konfrontation mit einer unbekannten Schönen, die sich ihrer Wirkung sehr wohl bewusst war und ihre Reize gezielt einzusetzen verstand.

Hanna schüttelte unmerklich den Kopf. Aber, rief sie sich gleich wieder zur Ordnung, warum machte sie sich überhaupt Gedanken? Bernd war ein freier Mann. Woher kam dieser Anflug von Eifersucht? Vielleicht war sie an seine Aufmerksamkeit so gewöhnt, dass es ihr schon schwer wurde, sie zu teilen? Wie zur Versöhnung legte sie Bernd die Hand auf den Unterarm, was er lächelnd registrierte.

Die Bürotür des Chefs öffnete sich und gab den Blick auf das Innere des großzügigen, mit edlen Hölzern eingerichteten Raumes frei, in dem ein imposanter Mann hinter einem ebenso imposanten Schreibtisch saß. Verbindlich lächelnd schritt die junge Frau auf Hanna und Bernd zu und machte eine einladende Handbewegung.

»Professor Weinert lässt bitten.«

Hanna und Bernd bedankten sich und machten sich sofort auf den Weg, während der Professor sich bereits erhoben hatte und auf sie zuging.

»Frau Hauptkommissarin«, er ergriff Hannas ausgestreckte Hand und deutete einen formvollendeten Handkuss an, dann begrüßte er Bernd mit einem forschen Händedruck.

»Bitte treten Sie näher.« Er bot ihnen den Platz auf zwei Designerstühlen an, die vor seinem Schreibtisch standen, während er selbst wieder auf seinem Ledersessel Platz nahm.

Hanna betrachtete den Professor jetzt mit einem ähnlichen Gesichtsausdruck, den Bernd bei der jungen Angestellten an den Tag gelegt hatte. Und diesmal war es Bernd, der sich ein Lächeln verkneifen musste. Groß und schlank, das graue, volle Haar modisch geschnitten, durchtrainiert, braun gebrannt, mit markanten Gesichtszügen; der Professor wäre sicher auch als Model für elegante Herrenmode die Idealbesetzung gewesen.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er mit seiner sonoren Stimme, während seine wachen grau-blauen Augen von einem zum anderen wanderten, um am Ende auf Hannas hübschem Gesicht zu verweilen.

»Wir müssen einem Todesfall in Ihrer Klinik nachgehen, Herr Professor Weinert.« Hanna räusperte sich. »Eine Frau Ilse Beckmann ist in dieser Nacht auf ihrer Station verstorben. Ihr Mann hat Anzeige gegen Sie erstattet. Er behauptet ferner, dass dies nicht der einzige Todesfall in der letzten Zeit gewesen ist.«

»Aber das ist doch völlig aus der Luft gegriffen! Unglaublich, welchen Verdächtigungen man durch Leute, die nicht den Schimmer einer Ahnung haben, ausgesetzt ist. Das schreit ja zum Himmel! Ich werde den Mann wegen Verleumdung verklagen!« Der Professor war außer sich und atmete ein paar Mal tief ein und aus, bis er, nun etwas ruhiger geworden, fortfuhr: »Es ist sehr bedauerlich, dass Frau Beckmann gestorben ist, aber auch wir müssen in unserem Metier, wie in allen Kliniken, immer mit Zwischenfällen rechnen. Das ist bei jeder Operation so, und alle Patienten müssen aus dem Grunde auch immer eine Einverständniserklärung vor der Operation unterschreiben. Aber das wissen Sie sicher.«

»Natürlich«, Hanna nickte knapp. »Trotzdem müssen wir der Anzeige nachgehen, das werden Sie sicher verstehen.«

»Gab es irgendwelche besonderen Vorkommnisse während der Operation, irgendetwas Unübliches?«, mischte Bernd sich ein.

»Nein, überhaupt nicht. Es war alles im grünen Bereich«, der Professor schüttelte langsam und nachdenklich den Kopf, so als ließe er die Operation noch einmal vor seinem inneren Auge Revue passieren. »Nein, das Full-Face-Lifting – also die Straffung des gesamten Gesichtes und des Halsbereichs – ist ganz normal und ohne Zwischenfälle verlaufen. Wenn Sie möchten, können Sie gern das OP-Protokoll einsehen.«

»Ja, danke, das werden wir.« Hanna nickte, dann fuhr sie fort: »Der Ehemann der Toten behauptet, dass tödliche Zwischenfälle hier schon des Öfteren passiert sind. Können Sie uns dazu etwas sagen?« Bernds Frage klang sachlich, trotzdem machte der Professor ein beleidigtes Gesicht.

»Herr Kommissar, ich bitte Sie! Soll das etwa heißen, dass hier die Todesfälle an der Tagesordnung sind? Vielleicht nach dem Motto ›lieber tot als schön‹?« Der Chefarzt verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Verzeihen Sie den Ausrutscher, aber die Behauptung ist doch absurd. Stellen Sie sich vor, so eine Behauptung macht die Runde. Dann kann ich meine Klinik schließen.«

»Aber darum geht es doch nicht, Herr Professor«, erklärte Hanna geduldig. »Es geht darum festzustellen, ob an den Vorwürfen etwas dran ist. Sie werden verstehen, dass wir allen Hinweisen nachgehen müssen.« Sie sah ihm fest in die Augen. »Und jetzt würden wir die Tote gern sehen. Oder hast du noch Fragen, Bernd?«, wandte sie sich an ihren Kollegen.

»Nein, im Moment nicht«, er schüttelte den Kopf.

»Ja, dann darf ich Ihnen den Weg zeigen? Wir haben die Tote in einem Kellerraum aufgebahrt.«

Der Weg mit dem Aufzug aus den perfekt eingerichteten Räumlichkeiten hinunter in den Keller erschien sowohl Hanna als auch Bernd im wahrsten Wortsinn wie ein Abstieg. Nichts, aber auch gar nichts erinnerte an die kalte Pracht der oberen Etage.

Ilse Beckmann war in einem schäbigen, kleinen Kellerraum aufgebahrt worden, in dem die in edle Tücher gehüllte Leiche wie ein Fremdkörper wirkte.

Bernd schlug das Seidentuch, das man über sie gebreitet hatte, zur Seite, während Hanna neben ihn getreten war. Das Gesicht der Toten war von Blutergüssen und Schwellungen gezeichnet – ein normales Bild nach einem Lifting, wie der Professor sofort einräumte, als er die kritischen Blicke der beiden Polizeibeamten bemerkte.

»Weiß die Gerichtsmedizin schon Bescheid?«, flüsterte Hanna Bernd zu, der daraufhin einmal kurz nickte. Dann räusperte sie sich und fuhr, an den Professor gewandt, mit normaler Stimme fort:

»Die Nachtschwester hat den Tod der Patientin festgestellt?«

»Ja, ganz richtig, Frau Habermann hat sie gefunden. Als sie um drei Uhr morgens nach ihr sehen wollte, war Frau Beckmann bereits tot.«

»Frau Habermann werden wir natürlich ebenfalls befragen. Ich nehme an, wir können sie nach ihrem Nachtdienst zu Hause erreichen?«

Professor Weinert nickte.

»Ja, ich habe sie, nachdem sie mir von Frau Beckmanns Tod berichtet hatte, sowieso nach Hause geschickt. Ihre Adresse erfahren sie an der Anmeldung.«

»Danke. Ja, dann wird die Leiche gleich in die Gerichtsmedizin transportiert. Ich denke, das war dann erst einmal alles, Herr Professor.« Hanna reichte dem Chefarzt die Hand, auf die er noch einmal einen formvollendeten Handkuss hauchte, während er Bernd mit einem kurzen Kopfnicken verabschiedete.

»Wir melden uns bei Ihnen, Professor Weinert. Guten Tag.«

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