Leseprobe – Missbrauchte Macht


Zum Roman

Prolog

Hauptkommissarin Katrin Kramer ließ das Telefongespräch mit ihrer Kölner Kollegin noch einmal vor ihrem geistigen Auge Revue passieren. Hanna Winter hatte ihr über den Abschluss ihres letzten Falles berichtet und sie hatten beide noch einmal versucht, die Charaktere der Verdächtigen und Verantwortlichen psychologisch zu beleuchten. Denn die dramatische Tat war das Produkt eines furchtbaren Zufalls gewesen, bei der eine Mutter unabsichtlich durch die Hand ihres Sohnes zu Tode gekommen war.

Die beiden Kommissarinnen hatten sich bei einem Seminar zum Thema Fallanalyse kennengelernt, telefonierten seitdem regelmäßig oder trafen sich alle paar Wochen, entweder in Köln oder in Düsseldorf. Natürlich tauschten sie sich auch über ihre jeweiligen Fälle aus, wenn eine von ihnen in ihren Ermittlungen feststeckte und einen kollegialen Blick von außen brauchte. Und natürlich wussten beide, dass sie das eigentlich nicht durften. Sie beruhigten ihr Gewissen damit, dass alles sozusagen »polizeiintern« blieb und nicht in die Öffentlichkeit getragen wurde. Aus den Kolleginnen waren inzwischen Freundinnen geworden, die sich zunehmend vertrauten, auch wenn sie längst noch nicht alles voneinander wussten.

Hanna Winter wäre erstaunt gewesen, wenn sie geahnt hätte, dass Katrin Kramer für sich beschlossen hatte, grundsätzlich keine Freundschaften mehr zu schließen. Aber Hannas offene und fröhliche Art hatte sie einfach überrollt, sodass es in der gefühlten Mauer, die Katrin mühevoll um sich herum errichtet hatte, inzwischen wieder eine geöffnete Tür gab. Und sie spürte, dass es ihr gut tat.

 

Kapitel 1

»Du musst das verstehen, Schätzchen! Eine Trennung bedeutet viel Stress und den kann ich im Moment gar nicht gebrauchen.«

Jonas Lohner sah seine Geliebte Maike Dietrich verständnisheischend an. Das Strahlen verschwand augenblicklich aus ihrem Gesicht, um einer tiefen Enttäuschung Platz zu machen. Er beeilte sich fortzufahren: »Natürlich werden wir zusammen leben! Ich wünsche mir nichts mehr als das, das weißt du.«

»Und was ist mit der tollen Wohnung, die ich für uns gefunden habe? Lange kann ich den Makler nicht mehr hinhalten. In der Lage findet er mit Kusshand sofort andere Interessenten. Denk doch nur an den Ausblick auf den Rhein! Welche Wohnung hat das schon?«

Maike hörte sich selbst reden. Auch wenn sie versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, klang ihre Stimme eine Spur zu schrill. Sie wusste, dass Jonas darauf wie eine Muschel reagierte, die man zwischen Daumen und Zeigefinger leicht zusammendrückte – er machte im wahrsten Sinne des Wortes dicht.

Obwohl sie deswegen nicht mit einem weiteren Kommentar seinerseits rechnete, nahm er nun ihre Hand und schaute ihr zärtlich in die Augen: »Wie wäre es denn, wenn du einfach schon dort einziehst? Dann haben wir bereits ein gemeinsames Zuhause und sobald ich es Maria gesagt habe, ziehe ich zu dir.«

Maike begann augenblicklich zu strahlen. Das war doch eine Aussage. Jonas wusste, dass die Wohnung für sie alleine zu teuer und viel zu groß war. Das würde er ihr nicht lange zumuten, dazu war er zu integer. Sie konnte also damit rechnen, dass die ganze Sache in drei Monaten überstanden war und sie sich endlich gemeinsam einrichten konnten. Maike dachte an den Tag in der letzten Woche zurück, als sie sich die Wohnung am Düsseldorfer Rheinufer zusammen angeschaut hatten. Sie war spontan von den lichtdurchfluteten Räumen mit dem hellen Parkettboden begeistert gewesen. Und Jonas auch, obwohl ihn nach der Besichtigung wieder einer seiner akuten Migräneanfälle ereilt hatte, der ihre Freude augenblicklich schmälerte. Aber das war eben seine Achillesferse. Maike war sich sicher, dass diese Anfälle nachließen, sobald sie zusammen wohnten, weil sie ihm das Leben so angenehm wie möglich machen würde.

Sie sah Jonas verführerisch an, worauf er sie sofort besitzergreifend an sich zog. Er sollte spüren, wie schön es war, wenn sie sich ihm ganz hingab, damit er nie mehr ohne sie sein wollte. Und ganz praktisch gesehen eignete sich die Mittagszeit hervorragend dazu.

Jonas Lohner, der vor einigen Monaten sein halbes Jahrhundert gefeiert hatte, hielt sich mit seiner fünf Jahre jüngeren Assistentin Maike Dietrich im Rahmen einer Tagung in Koblenz auf. Sein Ingenieurbüro in Düsseldorf, das aus ihm selbst, Maike, seiner rechten Hand, und fünf qualifizierten Mitarbeitern bestand, entwickelte Navigationssysteme, deren Praxistauglichkeit so groß war, dass sie begannen, den Markt zu erobern. Die Geschäfte liefen neuerdings sehr gut, sodass Jonas sich mit Expansionsgedanken trug. Auf der Tagung in Koblenz wollte er sein neuestes Modell einem Fachpublikum vorstellen und erhoffte sich eine Reihe von Aufträgen.

Um Maike einen Gefallen zu tun, logierten sie als Ehepaar Lohner in einem der besten Hotels der Stadt. Die gemeinsamen Tage sollte sie vorübergehend dafür entschädigen, dass er sie, wie er sich eingestand, im Alltag oft sträflich vernachlässigte, damit seine Frau nichts merkte.

So verbrachten Maike und er zwar die Arbeitstage miteinander, die gemeinsame Freizeit beschränkte sich zu Maikes Leidwesen allerdings seit geraumer Zeit nur auf die Mittagspause zweimal in der Woche, die sie immer in ihrer Wohnung verbrachten. Dafür versuchte Jonas sie mit kleinen Reisen zu entschädigen, die allerdings ebenfalls immer beruflicher Natur waren, sodass sie einen Großteil der gemeinsamen Zeit dafür opfern mussten. Wie hätte Jonas aber seiner Frau den wiederholten Wunsch erklären sollen, offiziell eine Reise für sich alleine anzutreten, um mit Maike einmal in ungezwungener Atmosphäre und weit weg von zu Hause zusammen zu sein?

Ein einziges Mal war es ihm gelungen, mit ihr nach Italien zu fahren, aber die ständigen Kontrollanrufe seiner Frau hatten den beiden Verliebten die gemeinsame Woche verleidet, umso mehr, als Maike Jonas das schlechte Gewissen regelrecht ansehen konnte.

Als er zu guter Letzt mit ihr zusammen auch noch Mitbringsel für seine Frau einkaufte, begann sie zum ersten Mal daran zu zweifeln, ob es Jonas auch wirklich ernst mit ihr war. Maike hatte dieses unangenehme Gefühl sofort bekämpft und aus ihrer Wahrnehmung verbannt. Nein, Jonas liebte sie und bald würden sie zusammenleben.

Jonas’ Gedanken hingegen gingen ganz andere Wege. Wie lange würde Maike dieses Spiel noch mitspielen? Er gestand sich ein, dass er ungern auf sie verzichten wollte, sowohl als Geliebte als auch als Kollegin. Solange es ihm gelang, ihrer Hoffnung immer wieder Nahrung zu geben, war alles gut. Aber selbst die gutgläubigste Frau, die den Tatsachen nicht ins Auge sehen mochte, würde eines Tages vom Baum der Erkenntnis essen, um sehend zu werden. Die Frage war nur, wann.

Während Maike sich gerade im Bad für ihn zurechtmachte, klingelte Lohners Smartphone. Er überlegte einen Moment, ob er abheben sollte, dann entschied er sich dafür, um spätere Rechtfertigungen zu vermeiden. Es war seine Frau und das Gespräch durfte jetzt nicht zu lange dauern.

»Hallo, mein Schatz«, sagte er gedämpft, aber betont fröhlich. »Ja, hier ist alles in Ordnung. Heute Abend ist das Essen mit den Kollegen, wie du weißt, und morgen Vormittag meine Präsentation. Ich habe ein sehr gutes Gefühl. Such uns doch schon mal ein schönes Hotel für nächstes Wochenende aus. Ich glaube, es gibt etwas zu feiern, wenn ich wieder zurück bin. Und leg schon mal eine Flasche Schampus kalt. Du, sei nicht böse, ich muss schnell noch unter die Dusche. Ja, ich dich auch! Tschüss, meine Süße!«

Hinter der angelehnten Badezimmertür war Maike als unfreiwillige Zeugin des Gespräches blass geworden und begann zu zittern. Alle Lust war verflogen und hatte einer abgrundtiefen Enttäuschung Platz gemacht. Der Gedanke daran, dass Jonas im Bett auf sie wartete und seine Frau gerade »Schatz« und »Süße« genannt hatte, bereitete ihr plötzlich Magenschmerzen.

Maike versuchte ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen und einen klaren Gedanken zu fassen. Jonas durfte auf keinen Fall merken, dass sie sein Telefonat belauscht hatte. Wenn sie ihm jetzt eine Szene machte, war alles aus. Sie musste anders vorgehen. Deshalb würde sie ihn erst einmal in Sicherheit wiegen. Alles andere würde sich finden.

Maike warf einen abschließenden Blick in den Spiegel – ja, sie sah gut aus in den gewagten Dessous, die sie extra für Jonas gekauft hatte. Sie schlüpfte in die hohen Schuhe, tat einen tiefen Atemzug und trat mit einem verführerischen Lächeln aus der Tür.

 

Kapitel 2

Hauptkommissarin Katrin Kramer musterte sich ebenfalls im Spiegel. Konnte sie das ertragen? Unentschlossen drehte sie sich zur Seite, nahm den Handspiegel und betrachtete sich von hinten.

Sie seufzte. Das elegante roséfarbene Etuikleid mit passendem Bolerojäckchen passte immer noch wie angegossen. Katrin drehte sich wieder mit dem Gesicht zum Spiegel um und starrte sich an. Ihre Gedanken flogen zurück. Das Kleid hatte sie sich zu Max’ 40. Geburtstag vor drei Jahren in Hamburg schneidern lassen. Voller Vorfreude war sie gewesen, als sie seine Überraschungsparty organisiert hatte. Wie bewundernd und liebevoll seine Blicke auf ihr geruht hatten, als sie ihm mit zwei gefüllten Champagnerkelchen entgegengekommen war! Wenn ihr damals jemand gesagt hätte, dass ihre heile Welt bald zerbrechen würde, hätte sie ihn ausgelacht.

Und doch war es passiert. Das Kleid war ein Relikt aus glücklichen Zeiten, weil sie beim Kistenpacken vor ihrem Umzug von Hamburg nach Düsseldorf einfach nicht in der Lage gewesen war, es in einen der großen Altkleidersäcke zu stopfen.

Kein anderes Stück aus ihrer Garderobe war übrig geblieben und die einst hübsche, geschmackvoll gekleidete Frau hatte sich durch einen kompletten Stilwechsel absichtlich in ein unscheinbares Wesen verwandelt, das von Männern kaum wahrgenommen wurde. Genau das war Katrins Ziel gewesen. Sie brauchte Ruhe, um seelisch zu gesunden, um die schwere Enttäuschung zu überwinden, und dazu wollte sie so gut wie unsichtbar sein.

Heute allerdings war sie das ganz und gar nicht. Die Farbe des Kleides schmeichelte ihrem Hautton und das kurz geschnittene naturblonde Haar unterstrich ihre aparte Erscheinung. Katrin seufzte noch einmal tief und fügte sich in die Situation. Irgendwo musste sie auch noch Wimperntusche und einen Lippenstift haben. Und die Pumps natürlich, die sie ganz unten in ihrem Schrank versteckt hatte. Nur für heute, sagte sie sich. Das war sie ihren Freunden schuldig.

Achmed und Halise waren immer noch ihr einziger privater Kontakt in Düsseldorf. Die ungewöhnliche Freundschaft war Katrins Leidenschaft für Döner zu verdanken, den sie mindestens einmal pro Woche aß.

Das türkische Paar, das den Imbiss um die Ecke betrieb, hatte sie rasch ins Herz geschlossen, auch weil sie immer alleine zum Essen kam. Achmed, der ganz und gar nicht verstand, warum Katrin keinen Mann hatte, wurde nicht müde, ihr Junggesellen aus seiner großen Familie als passende Partner anzupreisen, was bei den beiden Frauen, die sich trotz all ihrer Verschiedenheit gut verstanden, immer wieder für Erheiterung sorgte. Auf jeden Fall hatte es sich so eingebürgert, dass Katrin, nachdem sie ihre Dönertasche verspeist hatte, auf eine oder zwei Tassen süßen Pfefferminztee blieb und mit dem Paar plauschte, wenn gerade nicht zu viel zu tun war.

Der Kontakt war für beide Seiten eine Bereicherung: Katrin erfuhr sehr viel über das Leben und die Tradition der eingewanderten Türken und erzählte ihrerseits von Abläufen und Gewohnheiten des deutschen Alltags. Ihren Alltag als Hauptkommissarin thematisierte sie jedoch nie. Katrin beließ es dabei, dass sie Beamtin war, was ja auch stimmte. Wo sie allerdings ihren Beruf ausübte, erwähnte sie nicht.

Bald nachdem sie den Imbiss zum ersten Mal betreten hatte, wurde von der bevorstehenden Hochzeit Leylas, der Tochter der beiden Inhaber, gesprochen. Inzwischen wusste Katrin fast alles über das Brauchtum und die umfangreichen Vorbereitungen einer türkischen Hochzeit, neben der sich viele einheimische Hochzeitsfeste eher unaufwendig ausnahmen. Da sowohl die Eltern der Braut als auch die des Bräutigams fast ein Jahr vor dem großen Ereignis bereits involviert waren, hielt die Hochzeit durch die unterschiedlichen Rituale alle Beteiligten in Atem. Im kleinen Kreis fand sowohl bei der Verlobung als auch bei der Hochzeit gar nichts statt. Säle für mindestens 300 Gäste wurden angemietet, unterschiedliche festliche Kleidung gekauft und für üppiges Essen gesorgt. Katrin hatte Halise mehr als einmal von Geldsorgen gezeichnet gesehen, denn es durfte an nichts gespart werden.

Als Katrin sich jetzt alleine auf den Weg zu Leylas Hochzeit machte, fühlte sie sich ungewohnt sichtbar und gleichzeitig einsam. Die Gedanken, die scheinbar im Gewebe des Kleides nisteten, beschworen die Erinnerung an eine heile Welt mit Max herauf, an die sie lange so fest geglaubt hatte. Auch ihre Hochzeit war ein rauschendes Fest gewesen. Max …! Als wäre es gestern gewesen, sah sie ihren Mann vor sich: die markanten Züge mit den ausgeprägten Falten zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln, die kräftige Nase, seine rehbraunen Augen, die von dichten Wimpern umrahmt wurden, und die dunkelbraunen, kräftigen Haare, um die sie ihn immer beneidet hatte.

Ganz in Gedanken versunken wäre sie in ihren ungewohnt hohen Schuhen fast über den Bordstein gestolpert, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig fangen. Katrin rief sich innerlich zur Ordnung, nicht nur wegen ihrer Unachtsamkeit, sondern auch, weil ihre Wangen sich plötzlich feucht anfühlten. Sie blieb stehen, atmete tief durch und straffte die Schultern. Dann kramte sie in ihrer Tasche nach einem Kosmetikspiegel, um nachzuschauen, ob die Wimperntusche verlaufen war.

Alles war in Ordnung. Sie blickte sich forschend an und steckte den Spiegel schnell wieder ein. Ohne Schminke war das Leben bedeutend einfacher, fand sie. Sie musste lächeln. Ein solcher Gedanke wäre ihr früher nie in den Sinn gekommen.

*

Als Katrin den Saal betrat, löste sich Halise nach einem kurzen Moment des Erstaunens aus einer großen Gruppe von Frauen und eilte mit ausgestreckten Armen auf sie zu.

»Kata, wie schön du bist! Achmed dich nicht erkennt, wetten?«

Sie fasste Katrin bei den Händen, machte einen Schritt zurück und musterte sie bewundernd. Dann legte sie ihr den Arm um die Taille, führte sie mitten unter die Frauenschar und eilte mit geröteten Wangen zu ihrem Mann, der wild gestikulierend am Ausgang des Saales stand.

»Ich muss gehen«, rief sie über die Schulter zurück. »Das Brautpaar kommt.«

Als Leyla in ihrem weißen Hochzeitskleid mit ihrem Bräutigam Akif den Raum betrat, wurde es Katrin schwer ums Herz. Mit einer zärtlichen Geste schlug Akif Leylas Schleier zurück und küsste sie auf die Stirn. Diese symbolträchtige Geste bedeutete, dass der Bräutigam die Braut als sein Schicksal annahm und das Paar für immer zusammenblieb. Applaus brandete auf. Das Brautpaar begann zu tanzen und lud anschließend alle anderen dazu ein. Katrin, die versuchte, sich unauffällig aus der Menge der Tanzenden zu entfernen, um sich an einen der Tische zu setzen, hatte damit kein Glück. Und so bewegte sie sich in der Mitte der fröhlich feiernden Menschen, bis gegen Mitternacht die Hochzeitstorte angeschnitten wurde. Aller Kummer war für kurze Zeit von ihr abgefallen und einem vorsichtigen Gefühl der Hoffnung gewichen.

Als sie endlich zu Hause in ihrem Bett lag, konnte sie lange nicht einschlafen, weil sie in Gedanken immer noch tanzte.

*

Am nächsten Morgen war die positive Stimmung dem Gefühl einer Depression gewichen. Katrin fühlte sich plötzlich schwer und unbeweglich.

Vielleicht lag es an den beiden Gläsern Rotwein, die sie am Abend nach dem Heimkommen noch getrunken hatte, vielleicht lag es aber auch an der Realität, die sie inzwischen wieder eingeholt hatte: Sie war allein und hatte immer noch eine Trennung zu verkraften. Die Uhr zeigte bereits halb neun und ließ Katrin keinen Raum für weitere Grübeleien. Sie würde zu spät ins Präsidium kommen! Eilig lief sie ins Bad, duschte und sprang anschließend in Windeseile in ihre Alltagskleidung – Jeans, Sweatshirt und Sportschuhe. Nachdem sie der ersten Straßenbahn nur noch hinterherschauen konnte, kam sie eine Viertelstunde später als verabredet im Büro an, wo ihre junge Kollegin Laura Janssen bereits ungeduldig auf sie wartete.

»Da sind Sie ja endlich, Frau Kramer«, sagte diese anstelle einer Begrüßung. »Das kann man tatsächlich als Premiere bezeichnen, dass Sie sich verspäten, so überpünktlich, wie Sie sonst sind! Na ja, aber nichts für ungut. Scheint ja nett gewesen zu sein auf der Hochzeit.« Laura grinste.

Katrin, die immer noch nach Luft schnappte, weil sie das letzte Stück gerannt war, konnte nur nicken.

»Dann hat es sich doch wenigstens gelohnt. Bei Gelegenheit können Sie mir ja ein bisschen davon erzählen. Aber jetzt müssen wir sofort wieder los. In einem Büro in der Kasernenstraße gibt es einen Toten. Kommen Sie, Frau Kramer, ich erkläre Ihnen alles Weitere auf dem Weg.«

Laura tauschte ihre High Heels, die sie normalerweise bevorzugte, gegen flache Ballerinas zum Autofahren ein. Auf dem Weg zum Auto informierte sie Katrin über die aktuellen Fakten.

Der Tote hieß Jonas Lohner und war der Chef des gleichnamigen Unternehmens. Eine seiner Angestellten hatte ihn morgens tot im Büro vorgefunden und sofort die Polizei informiert.

In dem roten Backsteingebäude der 1930er-Jahre waren mehrere Büros unterschiedlicher Fachrichtungen auf insgesamt fünf Etagen untergebracht. Das Büro Lohner befand sich im dritten Stock. Als die Kommissarinnen die Räumlichkeiten betraten, verstummte augenblicklich das aufgeregte Stimmengewirr, das durch die angelehnte Tür nach außen gedrungen war.

»Guten Tag.« Katrin räusperte sich und zog ihren Polizeiausweis hervor. »Ich bin Hauptkommissarin Kramer und das ist meine Kollegin, Kommissarin Janssen. Dr. Kaiser, der Pathologe, sowie die Spurensicherung werden auch gleich zur Stelle sein. Wo bitte befindet sich der Tote?«

Eine blonde Frau, der die Tränen über das unnatürlich blasse Gesicht rannen, erhob sich und trat zu ihnen.

»Ich heiße Maike Dietrich, guten Tag.« Sie machte eine Pause und Katrin, die einen Moment lang befürchtete, dass die andere in sich zusammensinken würde, streckte unwillkürlich ihren Arm zur Unterstützung aus, den Maike Dietrich jedoch ignorierte.

»Hier entlang, bitte.« Sie drehte sich langsam um und ging, bei jedem Schritt um ihr Gleichgewicht bemüht, den Flur entlang, bis sie vor der zweiten von insgesamt drei Türen stehen blieb.

»Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich nicht mitkomme? Das würde ich nicht noch einmal aushalten.« Ihre Stimme schwankte, sie tat einen tiefen Atemzug und setzte hinzu: »Ich habe ihn heute Morgen gefunden.«

»Danke, Frau Dietrich«, sagte Laura freundlich. »Können Sie uns vielleicht gleich noch ein paar Fragen beantworten? Oder möchten Sie lieber heute Nachmittag zu uns ins Präsidium kommen, wenn es Ihnen etwas besser geht?«

»Das wäre mir lieber.« Sie nickte unter Tränen, drehte sich um und machte sich wieder auf den Weg in den Hauptraum, wo die Kollegen auf sie warteten.

Der Tote lag mit dem Oberkörper auf dem seitlich zur Fensterfront stehenden Schreibtisch, als ob er vor Erschöpfung dort eingeschlafen wäre. Das bleiche Gesicht war der Tür zugewandt und vom Todeskampf gezeichnet. Er musste Qualen ausgestanden haben. Während die beiden Kommissarinnen nähertraten, um die Leiche zu betrachten, vernahmen sie die vertraut hektische Stimme des Rechtsmediziners Dr. Kaiser, der im nächsten Moment auch schon ins Zimmer stürmte.

»Ah, hier ist er also, unser Toter. Schauen Sie nicht so betreten drein, meine Damen, Sie kennen das doch. Oder liegt das etwa an mir?« Er lachte über seinen Scherz, während die beiden Frauen die Mundwinkel zu einem gequälten Lächeln verzogen.

»Na, dann wollen wir mal sehen.« Dr. Kaiser kniete sich vor den Toten und betrachtete eindringlich dessen Gesicht. »Ziemlich gelb, finden Sie nicht auch? Das deutet auf Leberversagen hin.« Er richtete sich auf und inspizierte den Körper. »Verletzungen hat er, soweit ich sehen kann, keine. Ich tippe auf innere Blutungen, aber Genaues kann ich natürlich erst sagen, wenn er bei mir auf dem Tisch liegt.« Der Pathologe wandte sich an Katrin und Laura. »Ich freue mich morgen auf Damenbesuch.« Er zwinkerte ihnen zu. »Dann erzähle ich Ihnen mehr.«

»Dann kann die Leiche jetzt abtransportiert werden?«, erkundigte sich Laura, worauf Dr. Kaiser zustimmend nickte. »Gut, dann veranlasse ich das sofort.«

»Bis morgen, meine Damen. Und wenn Sie möchten, trinken wir bei mir eine Tasse Kaffee zusammen.«

»Der hat Nerven«, schnaubte Laura halb belustigt, halb ernst. »Wahrscheinlich kann er in der Pathologie sogar essen. Puh, wenn ich allein an den Geruch denke, der dort in der Luft liegt, wird mir schon schlecht.«

»Ach, bei unserem letzten Fall hat das überhaupt nicht so gewirkt, wenn ich mich richtig erinnere, Frau Janssen.«

Laura grinste. »Da musste ich Ihnen auch noch was vormachen, Frau Kramer.«

Katrin lächelte. Die Unstimmigkeiten, die am Anfang ihrer Zusammenarbeit zwischen ihnen geherrscht hatten, gehörten noch nicht lange der Vergangenheit an. Nach außen hin wirkten beide Frauen sehr gegensätzlich: Laura, Anfang dreißig, der sprichwörtliche »Feger« des Kommissariats, war groß, hübsch, immer stark geschminkt, wohlproportioniert und dabei schlank, mit langer, brauner Mähne und langen Beinen, die durch ihre geliebten High Heels noch länger wirkten. Katrin, mittelgroß und zehn Jahre älter, verbarg ihre gute Figur unter ihrem selbst gewählten Schlabberlook und trug in der Regel Sportschuhe. Ihre langen, naturblonden Haare waren der Schere zum Opfer gefallen und sie schminkte ihr feines Gesicht absichtlich nicht. So unterschiedlich die beiden Frauen auch äußerlich wirkten, innerlich verband sie jedoch Klugheit, Einfühlungsvermögen, Kombinationsgabe, Herz und die Fähigkeit zu genießen, auch wenn Letzteres bei Katrin, ihrer aktuellen Lebenssituation entsprechend, im Moment mehr oder weniger brachlag.

Jetzt standen sie nebeneinander und betrachteten den Toten eingehend. Welches Schicksal hatte ihn ereilt? Der große, sportlich wirkende Mann Anfang fünfzig war vermutlich nicht freiwillig aus dem Leben geschieden. Katrin seufzte. Sie würden in sein Leben eintauchen und die Hintergründe seines Ablebens wie Puzzleteile zusammensetzen, um den Fall zu lösen. Das war ihr Job.

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