Leseprobe – Trügerische Hoffnung


Zum Roman

Prolog

Der Nebel war so dicht, dass sie die Hand kaum vor Augen sehen konnte, geschweige denn irgendetwas, das vor ihr lag. Während die Feuchtigkeit sie wie ein nasses Tuch umhüllte, konnte sie spüren, wie die Kleidung an ihrem Körper zu kleben begann und ihr das Wasser aus den Haaren und über das Gesicht lief.

Katrin fror.

Was machte sie hier? Mitten im Winter, an einem so ungemütlichen Tag, der wie dazu geschaffen war, zu Hause mit einer Tasse heißem Kakao und einem Buch vor dem Kamin zu sitzen?

Sie wusste es nicht. Unsicheren Schrittes ging sie weiter. Etwas anderes blieb ihr sowieso nicht übrig, sie musste in Bewegung bleiben, um sich nicht den Tod zu holen. Eine unbestimmte Ahnung, die so stark war, dass sie ihr folgen musste, zog sie immer weiter voran in eine bestimmte Richtung. Vielleicht stand dort ein Haus, in das sie sich flüchten konnte, oder sie fand jemanden, der sich hier auskannte. Jedenfalls war alles besser, als sich weiter so durchschlagen zu müssen.

Während sie spürte, wie ihr das Wasser jetzt auch in die Schuhe lief, nahm sie vor sich tatsächlich etwas wahr. Erst war es nur eine Ahnung. Angestrengt starrte sie durch den Nebel, bis ihre Augen brannten. Dann war sie sich sicher: Dort stand etwas, etwas Rotes, wie sie jetzt durch den Nebelschleier, der sich kurzfristig lichtete, sehen konnte. Die Augen starr auf das Etwas gerichtet, das sie eben noch klarer gesehen hatte, setzte sie einen Fuß vor den anderen, um ihrem Ziel näher zu kommen …

In ihrem Kopf begann es plötzlich zu klingeln. Katrin hielt sich die Ohren zu, doch das Klingeln hörte nicht auf. Sie spürte ihr Herz rasen, warf den Kopf hin und her und … schlug die Augen auf.

Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass sie wieder nur geträumt hatte. Dann drehte sie sich zur Seite und stellte den Wecker aus. Mit einem tiefen Seufzer blieb sie noch einen Moment lang auf dem Rücken liegen und musterte die noch fremde Zimmerdecke. Dann setzte sie sich auf und sah sich um. Ein Gefühl der Wehmut beschlich Katrin. Es würde lange dauern, bis sie sich hier zu Hause fühlte, so war es nach Umzügen immer schon gewesen. Bei nächster Gelegenheit würde sie ein paar schöne Möbelstücke erstehen, die der äußerst spartanisch eingerichteten Dreizimmerwohnung etwas Atmosphäre verliehen. Jetzt aber wartete ihr erster Arbeitstag auf sie.

Wenige Minuten später stand sie in ihrem Badezimmer und musterte sich ernst im Spiegel. Die kurzen mittelblonden Haarsträhnen standen wild vom Kopf ab und die Anspannung des Traumes fand sich noch in ihren Zügen wieder. Seit sie vor zwei Jahren die Vierzig hinter sich gelassen hatte, hielten sich nicht nur solche Eindrücke länger als früher, fand sie. Und dann war da noch der traurige Ausdruck in ihren Augen … Aber das war jetzt nicht wichtig.

Katrin schlüpfte nach dem Duschen in ihre Jeans und ihr Lieblings-Sweatshirt, trank im Stehen einen Kaffee, biss ein paarmal in das trockene Brötchen vom Vortag, warf ihren dunkelblauen Dufflecoat über und machte sich auf den Weg zum Polizeipräsidium. Draußen war es wärmer, als sie vermutet hatte, der Frühling war schon zu ahnen und die Knospen an den Bäumen wurden jeden Tag dicker.

Aber auch das war im Moment nicht wichtig.

 

Kapitel 1

Die Strecke zwischen ihrer Wohnung in der Lessingstraße und dem Polizeipräsidium Düsseldorf legte Katrin mit der Bahn zurück. Wenn es im Sommer schön wäre, könnte sie – viele gute Vorsätze vorausgesetzt – auch laufen. Eine knappe halbe Stunde würde das dauern, die sie dann zwar früher aufstehen musste, aber das würde sich schon finden. So war sie in einer Viertelstunde vor Ort, auch ohne Auto, das sie sich auch nicht anschaffen wollte, da sie privat so gut wie gar nicht mehr fuhr.

Der aus rotem Backstein erbaute Gebäudekomplex aus den 1930ern am Jürgensplatz war riesig und wirkte wie eine Kaserne. Hier hatten in der Nazizeit Verhöre stattgefunden und die Deportation jüdischer Mitbürger war beschlossen und durchgeführt worden. Obwohl das Gebäude inzwischen modernisiert worden war, hing ihm die unrühmliche Vergangenheit noch an, sodass Katrin fröstelte, als sie die Schwelle überschritt.

Das Pförtnerhäuschen in der Eingangshalle relativierte den beklemmenden Eindruck für einen Moment.

»Guten Morgen, ich heiße Katrin Kramer. Herr Kriminaldirektor Dr. Elling erwartet mich.«

»Ah, Sie sind also unsere neue Hauptkommissarin.« Der ältere Pförtner musterte Katrin von Kopf bis Fuß, wobei er die Augen etwas zusammenkniff, um besser sehen zu können. »Zweiter Stock, erste Tür rechts. Viel Glück!«

Katrin runzelte die Stirn. Sollte sie hier tatsächlich Glück nötig haben?

Die Tür zum Büro des Kriminaldirektors stand weit offen.

»Da sind Sie ja, Frau Kramer!« Ein eleganter, schlanker Mann Anfang fünfzig erhob sich rasch von seinem Schreibtischsessel, als sie in der Türöffnung erschien, und kam der neuen Kollegin mit breitem Lächeln und ausgestreckter Hand entgegen. »Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin, dass Sie unser Team verstärken.« Er schüttelte Katrin kräftig die Hand.

»Danke, Herr Dr. Elling, das freut mich.« Katrin sah ihren neuen Chef ernst an. Der Kriminaldirektor schaute abwartend, als ob er mit einer Bemerkung von ihr rechnete, dann fuhr er rasch fort, um die entstandene Pause zu füllen.

»Ja, dann stelle ich Ihnen am besten gleich Ihre Kollegen vor. Kommen Sie bitte.« Er berührte Katrin kurz an der Schulter und wies ihr den Weg aus dem Büro. Es wunderte ihn, dass die neue Hauptkommissarin kein weiteres Wort an ihn richtete, keinen verbindlichen Satz sprach und kein Lächeln über ihre Lippen brachte, doch er schrieb es ihrer Aufregung vor dem ersten Arbeitstag zu.

Katrin hingegen war überhaupt nicht nervös. Für sie erübrigte sich lediglich jedes weitere Wort; das ständige Alleinsein hatte sie inzwischen wortkarg gemacht. Darüber hinaus hasste sie Höflichkeitsfloskeln, da sie der Ansicht war, dass sowieso niemand wirklich ernst meinte, was er da sagte, und es folglich auch lassen konnte.

*

Im Besprechungsraum des Kommissariats waren die Kollegen versammelt, mit denen Katrin in Zukunft vor allem zu tun haben würde: zwei Männer und eine Frau.

Nach einem Nicken in die Runde blieb ihr Blick an der auffallendsten Erscheinung hängen, auf die ihr neuer Chef auch sofort zusteuerte.

»Das, meine liebe Frau Kramer«, er stellte sich neben die junge Frau und sah Katrin lächelnd an, »ist Ihre Kollegin, Kommissarin Laura Janssen, mit der Sie im Team zusammenarbeiten werden. Sie teilen sich ein Büro, das Ihnen Frau Janssen gleich zeigen wird. Und das«, er deutete auf einen sportlichen jungen Mann um die dreißig mit schwarzem Lockenkopf, »ist Luca Goldoni, unser PC-Spezialist.«

Sie reichten sich die Hände.

»Und ich heiße Sören Schneider und bin sozusagen für die Tathintergründe zuständig.« Der große, schlaksig wirkende Kriminalpsychologe, der in Katrins Alter sein mochte, ließ für einen Moment den Blick auf ihrem Gesicht ruhen, nickte dann und reichte ihr ebenfalls zur Begrüßung die Hand: »Wir kennen uns schon, nicht wahr?«, lächelte er. »Sie haben mein Seminar zur Fallanalyse besucht, ich erinnere mich. Willkommen in unserem Team, Frau Kramer.«

Katrin nickte zurück. »Ja genau. Ich fand Ihr Seminar sehr aufschlussreich, Herr Schneider.«

Die Hauptkommissarin drehte sich ein wenig zur Seite und musterte ihre neue Kollegin von Kopf bis Fuß. Ihre Blicke trafen sich und Katrin spürte, dass auch die andere sie beobachtet haben musste.

Total spießig, dachte Laura Janssen.

Fast nuttig, schoss es Katrin Kramer durch den Kopf.

In der Tat war die junge Frau ein Hingucker. Das lange braune Haar fiel in weichen Wellen über ihre Schultern, das stark geschminkte Gesicht wäre ohne den ganzen Aufwand vermutlich schöner gewesen und sicher wäre sie auch gut beraten gewesen, im Büro ein weniger tiefes Dekolleté zu tragen, das einen ausladenden Busen präsentierte. Ihre Taille, der ausgeprägte Po und die langen, schlanken Beine steckten in superengen Jeans und die Füße – Katrin konnte es nicht glauben – in High Heels. Wie sie darin wohl eine Verfolgungsjagd hinlegen wollte?

Umgekehrt sah Laura Janssen eine müde aussehende, unscheinbar wirkende Frau, etwa zehn Jahre älter als sie, die rein gar nichts aus sich zu machen schien, deren Haut augenscheinlich nur Wasser und Seife brauchte, die sich nichts aus Mode machte und deren Schlabberlook bis hin zu den praktischen Turnschuhen die Figur verbarg.

Irgendwie sieht sie verkleidet aus, fand Laura, als sie Katrins feine Gesichtszüge einer unauffälligen Musterung unterzog. Auf jeden Fall aber schien die Frau, so ernst und streng, wie sie in die Runde schaute, von einem Kaliber zu sein, mit dem sie bestimmt aneinandergeraten würde.

Etwas Ähnliches musste Dr. Elling durch den Kopf gehen, der nachdenklich von der einen zur anderen schaute. Aber die Sache war beschlossen; jetzt mussten sich alle zusammenraufen.

Die beiden Frauen reichten sich mit einem Lächeln, dem man die Überwindung ansah, die Hand.

»Nun denn.« Die Hauptkommissarin sah ihre Kollegin herausfordernd an. »Dann auf gute Zusammenarbeit, Frau Janssen.«

»Ist ganz in meinem Sinne, Frau Kramer. Kommen Sie, dann zeige ich Ihnen am besten unser Büro, damit Sie sich einrichten können.«

*

Katrin folgte Laura Janssen über den Flur, wobei sie versuchte, den aufreizenden Gang der Kollegin zu ignorieren, um ihr bereits vorhandenes Vorurteil nicht unnötig weiter zu festigen.

Das Büro trug ganz offensichtlich den Stempel eines sogenannten »Raumoptimierer«, der hier engagiert worden war, um den nüchternen Büroräumen ein persönliches Flair zu geben; in diesem Falle wohl, um die Arbeitsmoral zu beflügeln. Katrin betrat ein Zimmer, das weniger wie ein Arbeitsraum, sondern vielmehr wie ein Wohnzimmer wirkte. Viele Grünpflanzen, Bilder und eine gemütliche Sitzecke mit einer Couch und zwei Sesseln gaben dem Raum so viel Atmosphäre, dass man erst durch die beiden Schreibtische, die geschickt angeordnet rechts und links der Fensterfront standen, daran erinnert wurde, dass es sich um ein Büro handelte.

»Nett haben Sie’s hier, Frau Janssen. Sehen hier eigentlich alle Büros so aus?«

Die Kommissarin nickte. »Alle anderen, bis auf das des Chefs, wie Sie ja schon wissen. Er findet den alten 60er-Jahre-Charme beflügelnder.«

»Aha. Und welches ist mein Arbeitsplatz? Der linke Schreibtisch? Gut. Wie ich sehe, haben Sie mir schon ein paar Akten zurechtgelegt.« Katrin blätterte oberflächlich die zuoberst liegenden Seiten durch. »Ach, das sind alles ungelöste Fälle? So viele haben Sie hier davon? Wer hat denn zum Beispiel diesen Fall bearbeitet?« Sie tippte auf einen Aktendeckel mit der Aufschrift »Brandstiftung mit Todesfolge«.

»Das waren der Kollege Schade, der jetzt in den Ruhestand gegangen ist, und ich.«

Katrin zog die Augenbrauen in die Höhe, dann deutete sie auf eine andere Akte. Laura Janssen beschloss in die Offensive zu gehen.

»Bevor Sie bei jeder Akte einzeln fragen, Frau Kramer: Das sind alles unsere Fälle gewesen, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben.«

»Sie haben also alle diese Fälle gemeinsam bearbeitet und nicht gelöst?« Katrins Blick durchbohrte die junge Kollegin, die versuchte, so unbeteiligt wie möglich zu wirken.

»Genau«, antwortete Laura spitz, »so kann man das natürlich auch sagen. Da müssen wir auch noch mal ran, Frau Kramer. Ungeachtet dessen gibt es natürlich durchaus einige Fälle, die wir gelöst haben.«

»Soso, wenn Sie das sagen.« Katrin lächelte so milde, als hätte sie ein unmündiges Kind vor sich.

Lauras Herz schlug inzwischen vor unterdrückter Wut heftig gegen ihre Rippen. Das konnte ja lustig werden! Arrogante Ziege! Tat so, als ob sie die Weisheit erfunden hätte. Eine Frau Hauptkommissarin Kramer löste wohl jeden Fall!

Das wollen wir doch erst mal sehen, nahm sie sich vor. Sie würde der anderen so was von auf die Finger schauen, die sollte sich noch umgucken!

*

Als Katrin am Ende ihres ersten Arbeitstages nach Hause kam, pochte der Kopfschmerz so sehr hinter ihrer linken Stirn, dass sie kaum noch aus den Augen schauen konnte. Im Badezimmerschrank fand sie ihre Migränetabletten und beeilte sich, eine davon einzunehmen, ehe es zu spät war und der Schmerz sich nicht mehr stoppen ließ.

Sie machte sich einen Tee, ließ sich mit einem Seufzer auf der schlichten grauen Couch nieder und schloss die Augen. Nach einer halben Stunde verebbte der Schmerz nach und nach und die Gedanken begannen wieder zu fließen. Wenn sie richtig darüber nachdachte, fühlte sie sich in ihrer neuen Stelle überhaupt nicht wohl. Am liebsten hätte sie ein Büro ganz für sich allein gehabt, wie in Hamburg. Stattdessen wurde sie hier mit dieser »Perle« in einen Raum gesperrt.

Nun ja, vielleicht ließ sich da später etwas machen. Jetzt musste sie sich erst einmal einarbeiten. Das Schlimme war, dass sie sich weder in ihrer neuen Wohnung noch im Präsidium wohlfühlte.

Hör sofort auf zu jammern, schalt sie sich, als sie spürte, dass das Selbstmitleid sie zu überfluteten drohte und ihr die Tränen kamen. Das ist doch auch kein Wunder. Vor nicht allzu langer Zeit bist du umgezogen, nachdem du zwanzig Jahre lang in Hamburg gelebt hast. Was erwartest du? Du hattest in Eppendorf eine tolle Wohnung, Nachbarn, die auch Freunde waren, wusstest, wo du abends hingehen konntest. Und noch wichtiger: Das alles war dein Zuhause. Und jetzt? Jetzt bist du in Düsseldorf in einem Multikulti-Viertel gelandet, kennst noch niemanden und musst ganz von vorne anfangen. Gib dir Zeit, Katrin Kramer, denn die brauchst du, und das weißt du auch!

 

Zum Roman