Leseprobe – Vertrauter Feind


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Kapitel 1

Hanna Winter versuchte ruhig zu bleiben. In zwei Stunden würde sie alles überstanden haben. Ihre Hände umklammerten die Armlehnen ihres Sitzes, als ihr linker Ellbogen bei einer kleinen, unbedachten Bewegung gegen etwas Weiches stieß.

»Entschuldigen Sie«, Hanna schaute erschrocken zur Seite und zog den Arm zurück, um nicht noch einmal gegen den mächtigen Bauch ihres Nachbarn zu stoßen.

»Ist schon gut. Diese Flugzeugsitze sind einfach viel zu eng.« Der große, dicke Mann, dem der Schweiß bereits in Strömen von der Stirn lief, nickte Hanna freundlich zu.

›Oh je, wie soll ich den Flug nur überstehen, wenn ich noch nicht mal so viel Platz habe, wie eine Ölsardine in der Dose?‹, dachte Hanna verzweifelt, während sie nach Luft schnappte, als eine angenehme, tiefe Stimme hinter ihr sagte:

»Verzeihen Sie, aber ich glaube, das ist mein Platz.« Hanna wandte den Kopf zur Seite und sah, wie ein großer, dunkelhaariger Mann ihrem Sitznachbarn auf die Schulter tippte und ihm seine Bordkarte unter die Nase hielt.

Der dicke Mann versuchte ungeschickt, seine eigene Karte aus der Hosentasche zu nesteln, was ihm jedoch erst gelang, nachdem er sich umständlich erhoben und einen Schritt auf den Gang gemacht hatte.

»Tatsächlich, Sie haben recht«, er schüttelte in jäher Einsicht den Kopf. »Tut mir leid. Da habe ich wohl die sechs mit der neun verwechselt«. Er schickte sich an, seine Sachen aus dem Gepäckfach zu holen.

»Tja, schade, dann wünsche ich Ihnen noch einen guten Flug«, er bedachte seine hübsche Nachbarin mit einem bedauernden Blick, um dann nach seinem neuen Platz Ausschau zu halten.

Hanna atmete unwillkürlich auf, als der Dicke verschwunden war.

»So schlimm?«, fragte ihr neuer Nachbar mit belustigtem Unterton.

»Na ja …«, Hanna hob unentschlossen die Schultern, »wissen Sie, Fliegen ist nicht gerade meine Stärke, und wenn ich mich dann auch noch so eingezwängt fühle …«

»Nein, nein, Sie müssen sich überhaupt nicht entschuldigen. Ich kann das verstehen. Aber heißt das, dass es Ihnen jetzt besser geht?« Der gut aussehende, dunkelhaarige Mann musterte Hanna aufmerksam von der Seite.

»Ja, danke, wie man’s nimmt. Nein«, sie schüttelte lachend den Kopf, als sie in das erstaunte Gesicht neben sich blickte, »oder ja …, es geht mir besser, aber richtig gut wird es mir erst gehen, wenn wir wieder in Köln gelandet sind. Aber das hat natürlich nichts mit Ihnen zu tun.«

Michael Sander nickte. »Sie leiden unter Flugangst, richtig?« Hanna nickte stumm, und ihre Hände umklammerten wieder die Armlehnen, als die Motorengeräusche lauter wurden und die Maschine zur Startposition rollte.

»Fürchten Sie sich nicht, ich bin ja jetzt bei Ihnen«, meinte er grinsend, musste aber im selben Moment erkennen, dass sie ihn in ihrer Anspannung gar nicht hörte.

Michael Sander nutzte die Gunst des Augenblicks um Hanna eingehender zu mustern. Gut sah sie aus und ja, sie war eigentlich genau der Typ Frau, der ihm gefiel.

Hanna strich sich nervös die halblangen, kastanienbraunen Haare hinter die Ohren und wandte sich ihrem Sitznachbarn zu. In ihren grünen Augen stand die Angst, ihre Nasenflügel bebten und ihre vollen Lippen waren jetzt zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Michael Sander registrierte Hannas Anspannung voller Mitgefühl.

»Sagen Sie, wir waren ja beide auf Sardinien, sonst säßen wir nicht zusammen in diesem Flugzeug. Haben Sie dort auch Ferien gemacht?«

»Ja«, Hanna nickte kurz, »ich habe meine Freundin besucht. Sie hat dort ein Haus.«

»Das ist ja interessant. Waren Sie das erste Mal auf der Insel, oder kennen Sie sich dort aus?«

»Ich war schon dreimal auf Sardinien«, antwortete Hanna ein wenig gepresst, während sie auf die Rückenlehne, des vor ihr stehenden Sitzes starrte, um ihm durch ihre Abwendung zu signalisieren, dass sie jetzt am liebsten ihre Ruhe hätte.

»So ein Zufall«, ihr Sitznachbar ließ nicht locker, »ich war auch schon das dritte Mal dort. Im Nordosten, wissen Sie, etwas unterhalb der Costa Smeralda, der Smaragdküste, wo sich die Reichen und Schönen tummeln und die Yachten im Hafen fast so groß sind wie kleine Hotels. Ich habe an einem Tag einen Ausflug dorthin gemacht. Es ist, als ob man eine andere Welt betritt. Waren Sie auch schon einmal da?«

Hanna warf ihm einen ungehaltenen Blick zu. Ob er nicht merkte, dass sie sich jetzt gar nicht unterhalten wollte? Als sie jedoch dem warmen Blick seiner intensiv-blauen Augen begegnete, entspannte sich etwas.

»Ja, ich kenne die Smaragdküste, und sie ist gar nicht mein Fall. Ich fühle mich dort am wohlsten, wo es lebendig und ursprünglich ist. Das Haus meiner Freundin liegt unweit eines kleinen Dorfes über einer traumhaft schönen Bucht. Die Terrasse gibt den Blick auf das in verschiedenen Grün- und Blautönen schimmernde, glasklare Meer frei – man kann dort tatsächlich bis zum Grund schauen – und es gibt eine Treppe, die direkt zum Strand führt«, in Hannas blasse Wangen kehrte die Farbe zurück und sie wandte sich ihm zu.

»Immer wenn ich dort bin, denke ich, dass es auf der ganzen Welt keinen schöneren Platz geben kann und …«, Hanna verstummte jäh, als sie bemerkte, dass ihr Nachbar sie mit einem breiten Lächeln ansah und ihr mit einem Kopfnicken bedeutete, einen Blick aus dem Fenster zu werfen.

»Du liebe Zeit, wir sind ja schon oben! Das habe ich überhaupt nicht bemerkt.«

Michael Sander nickte, und Hanna begriff in diesem Moment, warum er sie in dieses Gespräch verwickelt hatte.

»Oh, ich danke Ihnen«, sagte sie ein wenig verschämt, »über unserer Unterhaltung habe ich glatt meine Angst vergessen.«

»Das war meine Absicht, aber nebenbei bemerkt interessiert es mich wirklich, wo Sie Ihre Ferien auf Sardinien verbracht haben. Ich würde beim nächsten Mal nämlich gern eine andere Ecke der Insel erkunden, und was Sie erzählen, klingt sehr interessant.«

Das Gespräch setzte sich bis zur Landung in Köln unverkrampft fort und nach dem Aussteigen legten Hanna und ihr Begleiter den Weg zum Flughafengebäude gemeinsam zurück. Michael Sander nahm sich vor, Hanna nach der Gepäckausgabe nach ihrer Adresse zu fragen, aber dann verloren sie sich in einem unbedachten Moment aus den Augen. Nachdem er seinen Koffer gefunden hatte, hielt Michael vergeblich nach Hanna Ausschau und bedauerte, dass sie beide es versäumt hatten, sich einander vorzustellen. Hanna, die ihren Sitznachbarn eben noch am Gepäckband hatte stehen sehen, wunderte sich wenig später ebenfalls, dass er plötzlich wie vom Erdboden verschluckt zu sein schien. Sie drehte sich achselzuckend um, und ging zuerst langsamen, dann entschlossenen, schnelleren Schrittes zum Taxistand.

*

Als sie eine halbe Stunde später die Tür ihrer schönen Altbauwohnung im zweiten Stock eines Gründerzeithauses öffnete, freute sie sich wieder, zu Hause zu sein. Der vertraute Geruch der Räume vermittelte ihr ein Geborgenheitsgefühl, und nur die Ruhe, die sie jetzt umfing, kam ihr komisch vor. Julian, ihr 15-jähriger Sohn, der durch seine Musikleidenschaft normalerweise für den Geräuschpegel in der Wohnung sorgte, würde erst am nächsten Tag aus den Ferien, die er mit Freunden in Griechenland verbracht hatte, zurückkehren.

Auf dem Tisch fand Hanna einen bunten Sommerblumenstrauß und einen Zettel, auf dem eine Einladung zum Cappuccino stand. Hanna war gerührt. Rolf Lauer, ihr Nachbar, der damals schon in der Wohnung gegenüber lebte, als sie vor fünf Jahren eingezogen war, war im Laufe der Zeit ihr engster Vertrauter und Freund geworden. Außerdem war er oft genug der Retter in der Not gewesen, wenn die allein erziehende Hanna Überstunden im Kommissariat machen musste, oder Julian einmal nicht zur Schule gehen konnte. Rolf, der als Schriftsteller zu Hause arbeitete, war für Julian eine Art Ersatzvater. Die beiden mochten sich sehr und gerade jetzt, wo Julians Pubertät die Beziehung zwischen Mutter und Sohn auf eine harte Probe stellte, fungierte Rolf bei Streitigkeiten häufig als Vermittler zwischen den beiden.

Hanna, die als Hauptkommissarin oftmals schwierige Mordfälle ganz souverän löste, fühlte sich im Gegensatz dazu manches Mal ziemlich hilflos, wenn es um Auseinandersetzungen mit Julian ging. Als der Junge Rolf vor einigen Jahren einmal gefragt hatte, ob er nicht sein Papa werden wolle, was natürlich hieße, dass er auch seine Mama heiraten müsse, hatte Rolf sanft, doch bestimmt erklärt, dass das nicht ginge.

Dass er homosexuell war, und sie deshalb nur Freunde sein könnten, sagte er ihm damals noch nicht, erzählte Hanna aber abends, worüber er mit Julian gesprochen hatte. Sie beschlossen, dem Jungen den Sachverhalt so bald wie möglich zu erklären, was sie bei der nächsten Gelegenheit auch in die Tat umsetzten. Julian fand das schade, akzeptierte aber schließlich, dass aus seiner Mutter und Rolf kein Paar werden konnte. Seiner guten Beziehung zu Rolf tat das glücklicherweise keinen Abbruch.

Hanna nahm den Beutel mit den mitgebrachten sardischen Spezialitäten, suchte in ihrem Handgepäck nach dem Geschenk, das sie Rolf aus Sardinien mitgebracht hatte, griff nach dem Schlüsselbund, der auf dem Esstisch lag und verließ die Wohnung, um bald darauf bei Rolf zu klingeln.

Die Tür wurde aufgerissen und Hanna fand sich augenblicklich in Rolfs Armen wieder.

»Hallo, meine Schöne, ich freue mich, dass du endlich wieder da bist. Mir ist nämlich die Zeit recht lang geworden ohne dich«, er schob Hanna mit ausgestreckten Armen ein Stück von sich weg, um sie besser betrachten zu können. »Gut siehst du aus, die Sonnenbräune steht dir und der angespannte Zug um deinen Mund ist verschwunden.« Rolfs Blick glitt über Hannas schlanke Figur und verweilte bei ihren Füßen, von denen sie einen inzwischen etwas angehoben hatte und ihn Aufmerksamkeit heischend hin und her bewegte.

»Wow, hast du sie also endlich in Italien gefunden, deine Sandaletten? Na ja, wo sollte man auch sonst schöne Schuhe finden? Deine langen Beine kommen übrigens darin besonders gut zur Geltung. Aber das weißt du ja. Komm rein, ich mache uns einen richtig schönen Cappuccino und dann klönen wir.«

Während Rolf die Kaffeemaschine anstellte, packte Hanna die mitgebrachten Köstlichkeiten aus und stellte sie auf den Tisch: Oliven, Käse, eingelegtes Gemüse, frisches Brot und eine Flasche Wein. Daneben legte sie Rolfs schön verpacktes Geschenk. Rolf hielt vor Überraschung einen Moment inne, als er mit zwei wohl gefüllten Tassen, auf denen sich der Milchschaum türmte, wieder das Wohnzimmer betrat.

»Hm, das hätte ich mir eigentlich denken können, dass du in deinem Beauty-Case lieber italienische Spezialitäten transportierst, als Schminkutensilien. Hab’ ich recht?«. Hanna nickte lächelnd, dann fiel Rolfs Blick auf das Päckchen. »Und was ist das? Nein, meine Liebe, du sollst mir doch nichts mitbringen, nur weil ich ab und zu nach deiner Wohnung geschaut habe. Das mach’ ich doch gern.«

»Ich weiß«, Hanna nahm ihm die Tassen aus der Hand, stellte sie auf dem Tisch ab und schloss Rolf in die Arme. »Das Geschenk ist auch gar nicht für den Wohnungshüter, sondern für meinen besten Freund. Ich habe es gesehen und wusste sofort, dass es dir gehört. Und da habe ich es einfach mitgenommen.« Rolf küsste sie auf beide Wangen und schickte sich an, das Geschenkpapier zu öffnen. Als er wenig später die leichten, schwarzen, aus feinstem Leder gefertigten Halbschuhe in den Händen hielt, war er begeistert. Und sie passten wie angegossen.

An diesem Abend saßen Hanna und Rolf noch lange zusammen. Hanna erzählte von ihrem Urlaub, Rolf berichtete enthusiastisch und in ausholenden Gesten von seiner neuen Romanidee, und dass der Verlag sein OK dazu schon gegeben habe. Jetzt müsse er ›nur‹ noch schreiben. Er lachte vielsagend.

Nachdem Hanna am nächsten Morgen ausgeschlafen hatte, machte sie sich nach einem gemütlichen Frühstück auf den Weg zum Flughafen, um Julian abzuholen. Sie sah ihren Sohn schon, bevor er die Schiebetüre erreicht hatte, die die Wartenden von den Fluggästen trennte. Als er schließlich vor ihr stand und sie ihn ungestüm und voller Freude umarmte, schob er sie mit düsterem Gesicht von sich weg.

»Mama, lass das. Ich bin kein Baby mehr. Hey, Philipp wir telefonieren gleich, okay?«, rief er seinem Freund zu, der ein ebenso sauertöpfisches Gesicht machte, als seine Mutter ihm den Arm um die Schultern legte.

»Jetzt sag doch mal, geht’s dir gut?«, Hanna gab nicht auf und zupfte ihren großen Sohn am Ärmel. Eigentlich sah er blasser aus als vor der Reise, fand sie.

»Hm, war geil, der Urlaub. Wir haben kaum geschlafen, war immer Party.«

»Und wie war’s am Strand? Das Meer soll doch in Griechenland so toll sein, fast wie auf Sardinien.«

»Jooh, war ganz nett«, Julian hüllte sich ab jetzt in Schweigen, setzte im Auto seine Kopfhörer auf und öffnete eine Musik-App auf seinem Smartphone. Hanna konnte die Musik hören, zu deren Takt ihr Sohn sich mit der Hand aufs Knie schlug. Zu Hause angekommen, griff Julian sich einen Apfel aus dem Obstkorb und verschwand wortlos in seinem Zimmer, aus dem bald Rap-Musik drang. Hanna seufzte.

Was war nur aus ihrem Jungen geworden? Was war aus ihnen beiden geworden, der Einheit von Mutter und Sohn, die bis vor kurzer Zeit noch sehr innig gewesen war? Zwanzig war Hanna damals gewesen, als sie ungeplant schwanger geworden war, aber dass sie das Kind bekommen wollte, war ihr von Anfang an klar gewesen. Gegen den Rest der Welt hatte sie für ihr Kind und sich kämpfen müssen, so schien es ihr jedenfalls damals. Jetzt war sie sechsunddreißig und der Ablösungsprozess ihres Sohnes machte ihr mehr zu schaffen, als sie sich eingestehen wollte.

Hannas Hoffnung, mit ihrem Sohn während des von ihr liebevoll zubereiteten Essens ins Gespräch zu kommen, wurde auch enttäuscht, da Julian alles nur schnell in sich hineinstopfte und wieder telefonierend in seinem Zimmer verschwand.

Der nächste Tag brachte das Alltagsleben zurück. Als Hanna das Kommissariat betrat, wartete ihr Kollege, Kommissar Bernd Keller, mit dem sie sich das Büro teilte, schon auf sie. Die beiden verstanden sich gut und ergänzten sich in beruflichen Dingen perfekt.

»Hi, Hanna. Du siehst klasse aus. Der Urlaub hat dir gut getan, das sieht man. Aber jetzt musst du dich schon wieder ins volle Leben stürzen. Na ja, wie man’s nimmt. Ich habe gerade die Meldung bekommen, dass ein Jogger einen Toten im Stadtwald gefunden hat. Und da müssen wir jetzt sofort hin.«

»Hallo Bernd, schön, dich zu sehen. Schade, ich hätte mir gewünscht jetzt erst einmal meinen Schreibtisch sichten zu können und später in der Kantine einen Kaffee mit dir zu trinken«, Hanna seufzte, »also los, dann lass uns fahren.«

Hanna und ihr Kollege fuhren mit dem Dienstwagen zum Stadtwald.

»Und, war’s schön auf Sardinien?«, erkundigte sich Bernd während der Fahrt, »aber das muss ich eigentlich gar nicht fragen, so erholt, wie du aussiehst. Ich wünsche dir, dass das lange anhält, obwohl das bei unserm Job ja so eine Sache ist.«

Hanna nickte. »Ja, es war richtig toll. Ich habe tagelang gar nichts gemacht, außer zu lesen, am Strand zu liegen und zu schwimmen. Abends sind Kathrin und ich dann essen gegangen, ein Traum sage ich dir. Ich habe natürlich wieder ein paar Kilos zugenommen, na ja. Die muss ich jetzt wieder abtrainieren. Wie wär’s, machst du mit?«, Hanna deutete auf den Bauchansatz ihres sechs Jahre jüngeren Kollegen, der seine Leidenschaft für Pommes frites mit Currywurst nicht verleugnen konnte.

»Nee, du weißt doch, dass mir unser Polizeisport schon dreimal reicht. Sport ist Mord. Ha, ha, klasse Spruch für einen Kommissar bei der Mordkommission, was?«

Hanna schüttelte lachend den Kopf. »Du bist unverbesserlich, Bernd. Aber weißt du was? Ich lade dich demnächst mit ein paar netten Leuten zum Essen ein, damit du mal was Vernünftiges zwischen die Zähne bekommst. Ach schau, wir sind, glaube ich, da. Da steht der Wagen von den Kollegen der Spurensicherung.«

Nachdem Hanna das Auto geparkt hatte und sie ausgestiegen waren, mussten sie noch einige hundert Meter einem Fußweg folgen, bis sie die Stelle erreicht hatten, an der die Leiche gefunden worden war. Der Gerichtsmediziner war gerade dabei, den Toten zu untersuchen und die Spurensicherung arbeitete konzentriert daran, Hinweise zur Tat zu sichern. Hanna und ihr Kollege traten zur Leiche, die in einer Mulde versteckt lag. Es war ein Mann, vielleicht Mitte Fünfzig. Trotz der fortschreitenden Verwesung war zu erkennen, dass er ein intelligent geschnittenes Gesicht gehabt haben musste und außer einer Platzwunde am Kopf keine schweren Verletzungen aufwies. Der Mann war gut gekleidet. Papiere hatte er nicht bei sich.

»Doktor, wie lange liegt der Mann hier schon?«, Hanna war einige Schritte zurückgetreten, weil der Leichengeruch ihr Übelkeit bereitete.

»Vier Tage, würde ich sagen«, antwortete der Gerichtsmediziner ungerührt, während er den Toten weiter untersuchte. »Die Platzwunde am Kopf war nicht die Todesursache, auch die Knochenbrüche nicht, die er davongetragen hat. Soviel vorab. Nach der Obduktion kann ich Ihnen mehr sagen, Frau Winter.«

»Glauben Sie, dass der Mann hier ermordet wurde?«, fragte Bernd, der immer noch bei der Leiche stand und sie aufmerksam betrachtete.

»Das kann ich noch nicht sagen. Vielleicht haben die Kollegen von der Spurensicherung einen Hinweis für Sie«, antwortete der Arzt.

»Ja, hier ist etwas,« schaltete sich einer der Angesprochenen ein, »wir haben Reifenspuren entdeckt, von denen wir ein paar Abdrücke machen. Das spricht dafür, dass der Mann mit dem Auto hierher gebracht wurde. Gut, dass es in den letzten Tagen nicht geregnet hat. Die Spuren sind gut erhalten.«

»Aha, vielen Dank«, Hanna lächelte dem Kollegen zu. »Jetzt würde ich gern den Zeugen befragen, der den Toten gefunden hat. Wo ist der denn?«

»Er sitzt da hinten«, antwortete Bernd und wies mit dem Finger auf einen Mann, der vornüber geneigt auf einem großen Stein saß. Ein Hund lag neben ihm.

Hanna und Bernd gingen auf den Mann zu.

»Ich bin Hanna Winter, guten Tag, Hauptkommissarin bei der Mordkommission und das ist mein Kollege Keller. Sie sind Herr …?«

»Wagner, Johannes Wagner«. Der Mann stand auf und reichte Hanna die Hand.

»Herr Wagner, Sie haben den Toten gefunden?«

»Ja, … das heißt nein. Mein Hund Bonnie hat ihn gefunden«, er wies auf den putzigen Mischlingshund neben sich, der aufmerksam jede Bewegung seines Herrchens verfolgte. »Ich bin wie jeden Morgen mit dem Hund durch den Stadtwald gelaufen, als Bonnie sich plötzlich selbstständig gemacht hat und nicht mehr zurückkam. Auf mein Rufen reagierte er nicht, so dass ich ihm schließlich nachgelaufen bin. Ich fand ihn vor einem Laubhaufen, an dem er herumschnüffelte. Und dann sah ich plötzlich eine Hand, die unter dem Laub hervorlugte.« Er griff sich in neuerlichem Schrecken an die linke Brustseite und ließ sich wieder auf den Stein sinken. »Dann habe ich die Polizei gerufen.«

»Danke, Herr Wagner, Sie haben uns sehr geholfen. Mein Kollege und ich werden Sie und Bonnie gleich nach Hause fahren«, sagte Hanna, worauf der Mann dankbar nickte. »Bernd, schau doch mal, ob der Fotograf schon da war und frag die Leute von der SpuSi, ob sie uns noch brauchen, ja?«, bat sie ihren Kollegen, der nach kurzer Zeit wieder zurückkam.

»Alles im grünen Bereich. Wir können fahren. Kommen Sie, Herr Wagner, unser Auto steht da vorne.«

Eine Stunde später waren Hanna und Bernd wieder in ihrem Büro. Die Kommissarin blickte stirnrunzelnd auf den Berg Papier, der sich während ihrer Abwesenheit dort angesammelt hatten und machte sich mit einem Seufzer daran, das Material zu sichten.

»Ich frage die Kollegen mal nach den aktuellen Vermisstenanzeigen. Vielleicht finden wir ja was«, Bernd Keller nickte Hanna zu und verließ das Büro, um einige Zeit später mit einem Blatt und dem Foto des Toten in der Hand zurückzukehren. »Entschuldige, das mit dem Foto hat etwas länger gedauert, aber schau mal Hanna, es gibt drei Vermisste, die in den letzten Tagen gemeldet worden sind. Eine Frau und zwei Männer. Im Zusammenhang mit der dritten Adresse ist bei den Kollegen vom Einbruchsdezernat auch ein Einbruch gemeldet worden. Was meinst du? Hast du noch Lust, weiter in deinen Papieren zu wühlen, oder klappern wir die beiden Adressen ab, bei denen ein Mann vermisst wird?«

»Überredet«, Hanna warf den Zettelstoß, den sie in einer Hand hielt, wieder auf den Schreibtisch, »dann lass uns fahren. Wo ist denn die erste Adresse?«

»In Köln-Kalk. Dort wird ein Mann namens Theo Pech vermisst.«

Sie fuhren von der Innenstadt über die Rheinbrücke zum Stadtteil Kalk. Die Adresse entpuppte sich als düsterer Hochhauskomplex, neben dessen Eingangstüre ein unübersichtliches Klingelverzeichnis angebracht war. Es dauerte einige Zeit, bis Bernd den richtigen Klingelknopf gefunden hatte, aber erst, als er ihn beim dritten Mal mit seinen Daumen betätigte, schnarrte eine unfreundliche Stimme durch den Lautsprecher.

Nachdem Hanna sich vorgestellt hatte, ertönte der Summer und Bernd drückte gegen die Tür, so dass sie aufsprang.

»Welche Etage?«, der Kommissar japste hinter der dritten Treppe nach Luft, während Hanna leichtfüßig weiterlief.

»Ich glaube, die fünfte, wenn ich das am Klingelschild richtig gelesen habe. Komm, Bernd, nimm’s von der sportlichen Seite«, spornte Hanna ihren Kollegen an.

»Aber zurück nehmen wir den Aufzug. Warum sind wir überhaupt gelaufen?«, er blieb schnaufend stehen.

»Weil der Aufzug ganz oben war, wie ich sehen konnte. Bis der unten gewesen wäre, hätte es zu lange gedauert. Komm, es sind doch auch nur noch eineinhalb Etagen.«

»Menschenschinderin!«, keuchte Bernd, »warte, das werde ich dir heimzahlen. Zur Strafe musst du gleich eine Riesenportion Pommes an meiner Lieblingsbude essen.«

Endlich standen sie vor einer schmutzigen Wohnungstür, auf dem ein Zettel mit dem Namen ›Pech‹ klebte. Nachdem sie geklingelt hatten, tat sich eine Weile gar nichts, bis schlurfende Schritte sich der Tür von innen näherten.

»Jaaa?«, die Tür öffnete sich und gab den Blick auf eine ungepflegte Frau mittleren Alters mit einer verknitterten Kittelschürze frei. Bernd stellte sich und Hanna vor und fragte, ob hier ein Mann namens Theo Pech vermisst würde.

»Dat hät sisch erledischt«, sagte die Frau in breitestem Kölsch, »dä Al is widder do. Hät besoffen in irjedeiner Eck geläjen, dä Filou.« Sie trat einen Schritt zur Seite und wies auf einen mit einer Sporthose und einem schmuddeligen Unterhemd bekleideten Mann, der mit einer Flasche Bier in der Hand am Tisch saß.

»Aha, ihr Mann ist also nur betrunken gewesen, hat in einer Ecke gelegen und seinen Rausch ausgeschlafen«, Hanna bemühte sich angesichts der chaotischen Verhältnisse um einen professionellen Tonfall. »Ja, dann hat sich ja alles zum Guten gewendet. Auf Wiedersehen, Frau Pech, und passen Sie gut auf Ihren Mann auf«, Hanna nickte der Frau freundlich zu, dann wandte sie sich mit ihrem Kollegen zum Gehen.

Als sie wieder unten auf der Straße waren, gingen sie ein paar Schritte schweigend nebeneinander her, bevor sie die beklemmende Szene, die sie eben erlebt hatten, abschütteln konnten. Obwohl es zu ihrem Berufsalltag gehörte, fühlten sie sich vom greifbaren Elend anderer immer wieder betroffen.

»So, dann fahren wir jetzt zu der zweiten Adresse,« sagte Hanna aufatmend, als sie wieder im Auto saßen. Bernd, der jetzt am Steuer saß, wendete den Wagen und zeigte auf den Zettel, den er am Armaturenbrett befestigt hatte, auf dem die Adressen der Vermissten standen.

»Professor Leo Sondheim, Lindenalle 3, Marienburg. Damit hätten wir dann das totale Kontrastprogramm«, Hanna lehnte sich zurück, »daran kannst du sehen, dass das Schicksal eben doch keine Ausnahmen macht. Jetzt fahren wir also in den Nobelvorort Marienburg. Ich bin gespannt, was uns dort erwartet.«

 

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