Leseprobe – Phantastisches Gießen


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Noah kann’s bezeugen

Dass Gießen viel älter ist, als gemeinhin angenommen und durch Urkunden belegt wird, beweist eine Flaschenpost, die Noah einem seiner Söhne zu dessen hundertfünfzigsten Geburtstag geschickt hat.
Der konnte sich zwar für die Glückwünsche nicht bedanken, weil sein Vater mit der Arche ›nach unbekannt verzogen war‹, wie es im Amtsdeutsch so schön heißt, dennoch dokumentiert diese Grußbotschaft eindeutig, dass die Stadt eine der ältesten menschlichen Siedlungen ist.
Fatalerweise war auf der Flasche weder ein Absender noch ein Haltbarkeitsdatum angegeben, und so hat einer von Noahs Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Enkeln beim Entrümpeln seines Kellers das kostbare Stück einfach in den Altglas-Container gegeben ‒ zum Braunglas.
Das war auch wieder so eine Achtlosigkeit, denn die Flasche war zwar verstaubt, aber weiß. Und der ›Grüne Punkt‹ hatte dann wieder Probleme mit der richtigen Sortierung.

*

Nachdem Noah, der mittlerweile 600 Jahre alt war, die Arche gebaut hatte, nahm er von allen Tieren ein Pärchen an Bord und ging schließlich mit seiner Frau, den Söhnen und den Schwiegertöchtern als Letzter aufs Schiff. Er schloss die Bullaugen, und dann kam schon die Sintflut. Vierzig Tage und Nächte lang regnete es ununterbrochen.
So entstand das sumpfige Becken der Lahn, in dem einst Gießen entstehen sollte.

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Nachdem es aufgehört hatte zu regnen, wartete Noah weitere vierzig Tage und ließ einen Vogel als Kundschafter aus der Arche flattern. Obwohl er in der Schule in Biologie immer gefehlt hatte, warf er keinen Strauß über Bord, der gar nicht fliegen kann, sondern einen Raben. Der kreiste nur, fand aber kein trockenes Plätzchen zum Rasten und landete wieder auf der Arche. Nach weiteren sieben Tagen schickte Noah eine Taube als Kundschafter aus, und die kehrte abends mit einem abgebrochenen Ölblatt zurück (Anmerkung des Verfassers: Es war das Blatt einer wilden Rapspflanze, aus deren Samen man Öl presste. Da der Archen-Erbauer aber wie erwähnt in Biologie immer gefehlt hatte, wusste er das nicht und hielt es für das Blatt eines Ölbaums).
Noah, der zu diesem Zeitpunkt gerade die Lahn befuhr, ging vor einer Insel vor Anker, die aus dem Wasser ragte, und wagte sich an Land. Da der Boden immer noch nass war und er im feuchten Erdreich stecken blieb, haderte Noah ob des sumpfigen Untergrunds mit dem Herrn.
„Herr, ich bin doch kein Schlammbeiser!“
Der Herr rief ihn zur Ordnung und befahl ihm, all jene Tiere und Spezies auszusetzen, die hier leben und siedeln konnten und wollten. Also verließen die Arche all jene unauffälligen Fische, Frösche, Lurche und Molche, Vögel, Würmer und Vierbeiner, die Noah ohnehin nicht gefielen wie die Moderlieschen, die Schlammspringer, die Sumpfohreule, das Moorhuhn und wie sie alle hießen, je ein Männchen und ein Weibchen.
Auch einer seiner Söhne und dessen Weib gingen von Bord. Noah weinte ihnen keine Träne nach. Beide waren in den letzten Wochen häufig seekrank gewesen, doch anstatt dankbar zu sein, an Bord der Arche weilen zu dürfen, hatten sie seine Steuerkünste bemängelt und ihn vor der gesamten Familie einen lausigen Kapitän genannt.
Seine Autorität wurde zudem dadurch untergraben, dass die beiden ihn ertappt und verpetzt hatten, wie er sich an dem eingelagerten Gemüse für die animalischen Vegetarier gütlich tat und sogar den einen oder anderen für die Raubtiere reservierten Brocken Fleisch abzweigte, um ihn zu braten und zu verspeisen.
Da Noah diesem sumpfigen Fleckchen Land, wo nicht Milch und Honig, sondern nur die trübe Lahn floss, ganz und gar nichts abgewinnen konnte, war er froh, das Paar zurücklassen zu können. Erleichtert bestieg er die Arche und legte grußlos ab.

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Noahs Sohn und seine Gemahlin kümmerten sich nicht um den grantigen Alten, der ihnen noch nicht mal seine neue Adresse hinterließ, sondern begannen sogleich, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren.
Als die Lahn in ihr altes Bett zurückkehrte, stellte Noahs Sohn fest, dass sie nicht auf einer Insel gelandet waren, sondern auf einem Hügel geankert hatten. So nannten sie den Berg zur Erinnerung an das Anlegen der Arche ›Schiff am Berg‹, aus dem dann Jahrtausende später die Abkürzung ›Schiffenberg‹ wurde.
Noahs Sohn und dessen Weib verließen den Berg und wanderten zu Tal ans Ufer des Flusses. Obwohl es dort sumpfig war, klappte das mit der Vermehrung so gut, dass man bald Lahn auf, Lahn ab das fröhliche Geplapper von Schlammbeisern hörte. Auch Noahs Enkel und Urenkel vermehrten sich reichlich und waren überaus fruchtbar ‒ gerade so, wie der Herr es Noah prophezeit hatte.
Auch sonst wandelten sie auf den Spuren ihres Stammvaters, der nach der Sintflut noch dreihundertfünfzig Jahre lebte und das biblische Alter von 950 Jahren erreichte. Noah, der Ackersmann, hatte nach dem Verlassen der Arche als Erstes einen Weinberg angelegt, die Trauben gekeltert und sich einen ordentlichen Rausch angetrunken.
Selbst in dieser Hinsicht ließ sich das Erbe ihres Sippengründers nicht verleugnen. Sie kultivierten die in der Lahnaue heimische Sumpfglockenrebe, deren Früchte sie vergoren. Es war die zweitliebste Beschäftigung nach der Vermehrung, der die Nachfahren von Noah, dessen Sohn und damit die Schlammbeiser nachgingen ‒ sich einen hinter die Binde zu ›giezzen‹. So entstand aus biblischen Ursprüngen heraus der Name ›Giezzen‹ (später ›Gießen‹) und die Bezeichnung ›Schlammbeiser‹ für die ersten Siedlungsbewohner ‒ auch wenn der Ort im Alten Testament ebenso wenig erwähnt wird wie der Schiffenberg.

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Der aber wurde auch besiedelt, und zwar zuerst von einem einzelnen Mann. Die Erzählung von Noahs Sohn über die Sintflut, die er im Familienkreis gerne zum Besten gab, wurde mit jeder feucht-fröhlichen Runde abenteuerlicher, und sie ängstigte einen seiner Enkel, der nicht schwimmen konnte, schließlich derart, dass er eigentlich einen Psychiater gebraucht hätte. Diese Spezies war damals jedoch noch nicht erfunden, und so beschloss der Enkel, eine Hütte auf dem hochwassersicheren Schiffenberg zu errichten und Einsiedler zu werden.
Eines Tages tauchte eine junge Frau vor der Hütte auf, die auf dem Schiffenberg Kräuter gesammelt hatte und nun Schutz vor einem Unwetter suchte. Der Einsiedler bat sie zu sich herein, und sogleich überkam beide übermächtig der in den Genen und Lenden verankerte Befehl des Herrn, sich zu vermehren. Aus dem Einsiedler war ein Zweisiedler geworden, und neun Monate später waren die beiden schon Dreisiedler. So entstand die Siedlung (abgeleitet von mehr als drei Siedlern) auf dem Schiffenberg.
Da die Vermehrung allein auf Dauer nicht tagfüllend war und das ständige Baumfällen mit der Zeit langweilig wurde, suchten sich die Schiffenberger ein Hobby und begannen zu töpfern. Weil sie zur Verzierung für ihre Keramik-Gefäße nichts weiter als ein simples Stück Band zur Verfügung hatten, nannte man sie schon bald ‒ wie später auch die Archäologen ‒ die ›Bandkeramiker‹.

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Irgendwann, auf jeden Fall etliche Jahrhunderte nach Christi Geburt, tauchte ein Mönch an der Lahn auf und bekehrte Noahs Erben zum Christentum. Die Schlammbeiser, die sich vornehmlich mit der Vermehrung und einen hinter die Binde ›zu giezzen‹ beschäftigten, wurden von dem frommen Mann angehalten, nicht nur gelegentlich zwischen vermehren und trinken zu ackern und zu fischen, sondern diese Berufe zur Lebensgrundlage ihres Alltags zu machen ‒ sozusagen zum Broterwerb.
Daraufhin zogen etliche aus, um neue Dörfer zu gründen, Einzelne machten sich auf in die Ferne, um den Beruf des Burgmannen und Ritters zu erlernen, da er beste Zukunftsaussichten versprach, und wieder andere wurden religiöse Eiferer, die wie so viele Konvertiten mit Leib und Seele in ihrem neuen Glauben aufgingen. Sie beschlossen, dem Herrn ein Haus zu bauen und selbst fromme Mönche zu werden. Eingedenk der Überlieferungen ihrer Sippe wegen der Sintflut sollte die Kirche aber nicht in ihrer Siedlung an der Lahn entstehen, sondern auf dem Schiffenberg, dort, wo ihr Urahn mit der Arche vor Anker gegangen und das Haus des Herrn vor Hochwasser sicher war. So entstanden die Basilika und das Kloster auf Gießens Hausberg.
Auch für die übrigen Verwandten, die in ›Giezzen‹ blieben, änderte sich der Alltag. Das alttestamentarische Lotterleben war nunmehr vorbei, dafür wurden die Tage arbeitsreicher. Etliche wurden Bauern, andere Fischer, wieder andere Viehzüchter oder Handwerker, und eine Handvoll wurde Weinbauern. Vermehren taten sie sich weiter, aber mit dem täglichen ›einen hinter die Binde giezzen‹ war es vorbei. Nur noch an hohen christlichen Feiertagen und zu liturgischen Zwecken war der Weingenuss gestattet.
So war es kein Wunder, dass die Weinberge an der Lahn im Laufe der Zeit verfielen, die Gießener zu Biertrinkern wurden und auch das Vermehren mehr und mehr einstellten …

 

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